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02.10.04 / Der Reformeifer frißt seine Kinder

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. Oktober 2004


Gedanken zur Zeit:
Der Reformeifer frißt seine Kinder
von Gottfried Loeck

In einer von Bertold Brechts Keuner-Geschichten ist von einem kleinen Mädchen die Rede, das ein Huhn malt, welches gerade über einen Hof fliegt. Auf die Frage, warum sie bei dem Huhn drei statt zwei Beine eingezeichnet habe, erläutert das Mädchen: "Da Hühner nicht fliegen können, darum brauchte ich ein drittes Bein zum Abstoßen". An diese Geschichte des Herrn Keuner wird man unwillkürlich erinnert, wenn Lehrer heute über Schulerfahrungen aus dem Schulalltag berichten. Natürlich sind die Erfahrungen in den verschiedenen Schultypen und -standorten unterschiedlich. Eigen ist aber allen lange sozialdemokratisch regierten Bundesländern, daß aus den hochfliegenden, ideologisch verbrämten Reformplänen etwas geworden zu sein scheint, was längst nicht nur eines dritten, sondern gleich mehrerer Beine bedarf, um das klägliche Versagen sogenannter "deutscher Schulbildung" vergessen zu machen. Die Schule dient selbst Amateuren als Experimentierfeld und liebgewonnene Spielwiese.

Vor Jahren glaube man zum Beispiel, durch ein Tutorensystem den Retter aus der Not gefunden zu haben. Als unmittelbarer Ansprechpartner von etwa 15 Schülern sollte er den altvertrauten, aber bei der Verkursung der gymnasialen Oberstufe abgeschafften Klassenlehrer ersetzen. Er soll in den flukturierenden Schülergruppen eine Art Hilfsfunktion übernehmen, wenn der Schüler bei der Punktejagd bis zum Abitur nicht mehr durchblickt, welche der angebotenen Pflicht- oder Wahlfächer er noch braucht, welche Kombination erlaubt, welche nicht anerkannt wird. Auch wenn der Schüler wissen will, welches Puzzlespiel an Kursen für ein ganz spezielles Studium oder einen bestimmten Beruf sinnvoll ist, wird der Beratungslehrer "aktiviert". Auch wenn das Abschlußzeugnis eines Gymnasiums noch die allgemeine Hochschulreife bescheinigt, beginnt schon im ersten Oberstufenjahr die Spezialisierung zum eng bemessenen Spezialisten.

Damit kürt sich der Tutor als Amateurausgabe eines Berufberaters. Vom Beratungslehrer wird gleichzeitig verlangt, daß er bei Lernschwierigkeiten hilft, weil Schulpsychologen, Therapeuten überlastet sind. Schwierige Fälle hatte es auch zu unseren Zeiten gegeben, als zirka vier Prozent eines Jahrgangs die allgemeine Hochschulreife erwarben, daß aber die Zahl trotz des allgegenwärtigen Reformeifers sprunghaft hochgeschnellt ist, bekennt kein Kultusministerium. Frißt die Oberstufenreform ihre Kinder? Je größer und differenzierter eine Schulfabrik wird, um so schwieriger wird die Orientierung in ihr. Je komplizierter das Schulsystem, um so mehr Berater mit ermäßigtem Unterrichtsstundendeputat braucht man, die dadurch an den anderen schulischen "Frontabschnitten" fehlen. Tutoren sollen als pädagogisch und psychologisch geschulte Brandmeister einspringen, in einem Gelände, in dem es fast ständig an mehreren Stellen gleichzeitig brennt.

Lehrer und Schüler klagen nicht selten über den Verlust menschlicher Wärme, Erziehungsimpulsen an der Schule. Gleichzeitig läßt man es zu, die Erziehungsaufgabe auszugliedern und den verantwortungslosen Medien zu übertragen. Es scheint, als sei die Neurotisierung der heutigen Schule als Spielball der Besserwisser noch längst nicht ausgereizt. Statt die Ursachen für Pisa wie geistige Überforderung, Leistungs- und Lernunwilligkeit, geringe Belastbarkeit trotz geringerer Ansprüche bei Lehrern und Schülern radikal zu beseitigen, "doktert" man an Nebensächlichkeiten herum. Mit hohen Abiturientenzahlen glaubt man das Erfolgsrezept gefunden zu haben. Masse statt Klasse. Die Schule "spielt" Universität und die Universität notgedrungen Schule.

Bei vielen Studiengängen in den Naturwissenschaften müssen vor dem eigentlichen Studienbeginn heute Überprüfungen des Schulwissens stattfinden, die oft erschreckende Ergebnisse bringen. Ein geschöntes Zeugnis bietet keine Gewähr für ein erfolgreiches Studium. Während sich der beliebte Biologielehrer ein Semester über sein Lieblingsthema "Die Onomasiologie und die Semasiologie der Preiselbeere" ausläßt, macht der Germanistikprofessor seine Studenten erstmalig mit Dichtern wie Eichendorff, Schiller, Uhland und Hauptmann bekannt. Wenn als "Deutschkurs" Theaterspielen angeboten wird, bei dem der größte Teil der Schüler ein Jahr lang Kostüme näht oder Kulissen bemalt, ist das Ergebnis hinsichtlich Wissensvermittlung im Hinblick auf Grammatik, Spracherziehung, Literatur eindeutig. Schon das Verlangen von Handwerk und Öffentlichem Dienst nach mehr Allgemeinbildung stößt in nicht wenigen Kultusministerien auf blankes Entsetzen. Weil ihnen schon der Sammelbegriff Allgemeinbildung suspekt ist, spricht man von tiefer Wertkrise im nationalen Bildungsgefüge.

Die Konsequenz aus dem wenig erfolgversprechenden Gewürge müßte eine Reform der ungezählten Irrtümer, wie Ganzwortmethode, Mengenlehre und Rechtschreibreform werden: Rückkehr zu überschaubaren Schulen, zum vertrauten Klassenlehrer, Pflichtkurse in Deutsch, Mathematik, Biologie, Englisch, Französisch und Geschichte, bessere Lehrerauswahl ... Glücklich ist das Schulsystem zu nennen, das weitgehend ohne Tutoren auskommt. Der Versuch, die uns vertraute gymnasiale Oberstufe wieder einzuführen, hat kaum eine Chance. Er könnte ja Schule machen, statt weniger Abiturienten mehr Qualität zu "produzieren".


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