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09.10.04 / Erinnerungen an einen Wechsel / Erinnerungen an einen Wechsel von Deutschland nach Deutschland

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Oktober 2004


Die Reise im Wunderbus oder Das blaue Licht von Aral
Erinnerungen an einen Wechsel von Deutschland nach Deutschland
von Ulrich Schacht

Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, klingt von heute her gesehen noch phantastischer, als sie zum Zeitpunkt, da sie geschah, tatsächlich war.

Von heute her ist die Voraussetzung dieser Geschichte, die Teilung Deutschlands, ein historisches Faktum; damals, als die Geschichte Gegenwart war, bestimmte die Teilung der Nation nicht nur die Gegenwart ihrer Menschen, auch die Perspektive aller Lebenden wie auf lange Sicht noch zu Gebärenden sollte ihr unterworfen bleiben, und die Politik jener Zeit, ob in Ost oder West, propagierte ununterbrochen Formeln und Phrasen, warum der Zustand, den jeder vernunft- und moralbegabte Mensch als unerträglich empfinden mußte, angeblich tieferen Sinn hätte. Daß die Vertreter der SED-Diktatur in dieser Geschichtsrichtung ihr Heil suchten, versteht sich von selbst; daß der Zeitgeist West-Deutschlands, zu finden zuletzt in allen Parteien, Medien, kulturellen wie kirchlichen Institutionen des Halblandes, hier ebenfalls zunehmend affirmativ reagierte, war schlicht Verfassungs-, Geist- und Nächstenverrat.

Die Geschichte selbst hat 1989 beide Lügen- und Selbstbetrugsmuster in einer Radikalität falsifiziert, die ganze Politikergenerationen zu demütigen Abschiedsritualen hätten bewegen müssen. Daß dies nicht geschah, ist Teil der gesellschaftlichen Krise, in der wir heute leben. Diese Krise ist nicht Thema dieses Aufsatzes; sie ist aber der politische Zorn desjenigen, der sich am 17. November 1976 im Zentrum der Geschichte befand, die hier erzählt werden soll. Dieser Zorn hat ihn inzwischen über die Grenzen des Landes getrieben, dessen Staat, den Staat des Grundgesetzes, er damals wie ein politisches Paradies erreichte.

Wenn ich mich an den 17. November 1976 zu erinnern versuche, dann glaube ich, daß es nicht geregnet oder geschneit hat an diesem Tag; ich weiß aber auch nicht, ob die Sonne schien. So unsicher ich über die Wetterlage dieses Tages bin, so sicher bin ich mir über die Gefühlslage jener 24 Stunden, in denen Schlaf zu finden nicht möglich war, von Minuten vollkommener Erschöpfung, in denen die Augenlider abstürzten, einmal abgesehen. Doch der Tag war so explosiv, daß seine dauernden Explosionen keinen wirklichen Schlaf zuließen: Denn es war nichts anderes als der Tag der Freiheit! Oder, um eine andere, komparative Metapher für jene Stunde zu gebrauchen: der Tag meiner zweiten Geburt und aller derjenigen, die ihn mit mir erlebten. Nüchterner gesprochen: An jenem Tag griff auch für uns ein seit 1963 existierender Mechanismus zwischen der zweiten deutschen Diktatur und der zweiten deutschen Republik, in dessen Folge aus politischen Gefangenen des SED-Staats - knapp 34.000 waren es am Schluß, fast vier Milliarden DM kassierten die Menschenverkäufer dafür - freie Bürger des Staates des Grundgesetzes wurden. Die einen zahlten, die anderen ließen ziehen. "Freikauf" hieß das inoffizielle Stichwort, und in der politischen Doppelbewegung, die es beschrieb und die zu dem Zeitpunkt, als sie mich betraf, schon ein gesamtdeutsches offenes Geheimnis war, mischten sich brutaler Zynismus und prinzipielle Menschenfreundlichkeit zu einer ebenso gespenstischen wie wundersamen Handlungsgestalt, die heute ins Reich der Legenden zurücksinkt. Ihr wahrer Kern kennt zwar noch Zeugen; doch die Kernwahrheit bezeugt nur noch Vergangenes.

Als sich am 17. November 1976 - ich glaube, es war am frühen Nachmittag - jene Zellentür des Karl-Marx-Städter MfS-Gefängnisses öffnete, hinter der ich seit knapp drei Wochen auf genau diesen Moment gewartet hatte, schrumpften in Sekundenschnelle Jahre. Es waren die Jahre meiner Haft, die am 29. März 1973 im Untersuchungsgefängnis des MfS in Schwerin begonnen und sich seit Anfang 1974 in der Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden hingezogen hatten, laut Gerichtsurteil jedoch noch bis März 1980 hätten dauern sollen.

Der Grund: "staatsfeindliche Hetze" und "Hetze gegen das sozialistische Ausland" gemäß § 106 und 108 des StGB der DDR. Laut jenem Urteil hatte ich mit Hilfe von Gedichten, Geschichten, Briefen und Gesprächen "schwere Verbrechen gegen die Deutsche Demokratische Republik" begangen. Dafür hatte ein Staatsanwalt namens Löwenstein sieben Jahre Freiheitsentzug und fünf Jahre Aberkennung der staatsbürgerlichen Rechte beantragt und ein Oberrichter Passon, in Tatgemeinschaft mit zwei Schöffen namens Gebhardt und Hübner, hatte das Terrorurteil so willig bestätigt wie ein Senat des Obersten Gerichts der DDR schließlich die Berufung dagegen verwarf.

Das Urteil war zwar brutal; aber es war auch eine Auszeichnung: Es anerkannte meine radikale Gegnerschaft, und insofern traf es kein Opfer, sondern tatsächlich einen geschworenen Feind des Systems. Sein Versuch, meinen geistigen Widerstand gegen seinen Ungeist zu brechen, überraschte mich deshalb nicht, ich hatte ihn erwartet. Nun mußte überlebt werden, schlau und fortgesetzt widerständig zugleich. In dieser Logik bewegte ich mich durch meine Gefängnisjahre. Sie stärkte mich, wenn ich schwach zu werden drohte, weil die Last zu groß zu werden schien. Doch die Last wurde nie wirklich unerträglich, weil das Bewußtsein, im Recht zu sein, nicht erreichbar war, durch welche repressive Maßnahme auch immer; hinzu kam ein anderes Pfund, das dem

System und seinen willigen Vollstreckern jeglichen Boden entzog, und mit dem ich deshalb seelisch wuchern konnte: mein Wissen um die Bemühungen von Menschen im Westen, mich freizukaufen in den besseren deutschen Staat. Da ich zum Zeitpunkt meiner Verhaftung ein junger Mann der evangelischen Kirche war, wußte ich vom Involviertsein meiner Kirche in diesen Prozeß im allgemeinen wie in meinem eigenen Fall. In den Besuchsstunden meiner Mutter erreichten mich die verschlüsselten Botschaften über entsprechende Aktivitäten, über Hindernisse, Komplikationen und schließlich absehbare Fristen. All das eingebettet in Grüße vom damaligen mecklenburgischen Landesbischof Heinrich Rathke und der Information, daß die Wismarer Pastoren Hans-Joachim Hunke und Anna Muche Sonntag für Sonntag öffentlich Fürbitte für mich leisteten. Das alles machte aus der Gefängniszeit gewiß keine Badekur; es sorgte aber dafür, daß die Seele resistent blieb gegen die faktische Folter der Situation, gegen die scheinbare Perspektivlosigkeit der bleiern verrinnenden Zeit, gegen die Tag- und Nachtträume von schönerer Welt, wo auch immer.

All das war nun, da mein Name aufgerufen wurde und ich die Zelle verließ, überstanden - wie nach einem langen Marsch durch wüstes Gelände, ohne Möglichkeit, in Oasen zu rasten, allenfalls Fata Morganen davon hatten den Horizont erfüllt. Doch jetzt geschah das Unglaubliche: Wir, meine Zellengenossen und ich, schritten unaufhaltsam - über Eisenstiegen, durch die dämmrigen Labyrinthe einer "fortschrittlichen" Gefängnisfestung - auf den "Wunderbus" aus der "rückschrittlichen" Welt zu, von dem wir alle gehört, den aber noch keiner wirklich gesehen hatte: Ein nervenzerreißendes Märchen, eine unglaubliche Sage, ein innig geglaubter Mythos. Daß alle diese Berichtsformen menschlicher Rede in pure, greifbare Realität übergingen, daß das Ziel der Hoffnung nicht nur wahr, sondern auch wirklich zu werden begann, hatten wir spätestens am Vortag begriffen, als wir erstmals seit langem wieder Zivilkleidung anziehen durften, die eigene, die wir Jahre zuvor, am Tag der Verhaftung, hatten ablegen müssen. Die Uhr, die nun wieder am linken Handgelenk saß und tickte, bedeutete die Rückkehr in die Zeit; aber der Blick in den Spiegel zeigte unser Gesicht als ein in der Zeit verlorengegangenes: so bleich, so fremd, so grotesk im Verhältnis zum erinnerten vor dem Verschwinden im ummauerten Nichts. Auch hatte man uns noch einmal untersucht, kollektiv und mit freiem Oberkörper betraten wir das Zimmer eines Arztes, der unter seinem weißen Kittel Uniform trug und uns mit breitem Grinsen fragte, ob wir uns gesund genug fühlten, demnächst eine längere Reise zu machen. Selbst halbtot wäre keiner auf die Idee gekommen, seinen Platz im erwarteten "Wunderbus" frei zu lassen, und natürlich lachten wir alle dröhnend, nachdem der MfS-Arzt seinen Standard-Zynismus abgelassen hatte.

Zwei Tage zuvor hatten wir die Gerichtsentscheidung zur Kenntnis bekommen, der zufolge unsere vorzeitige Haftentlassung erfolgte. Es gefiel mir, daß die Entscheidung derselbe Richter treffen mußte, der mich zu einer viel längeren Strafe verurteilt hatte, noch mehr gefiel mir seine Begründung, die darauf hinauslief, daß die Haft ihr Ziel, mich im Sinne des Systems zu ändern, erreicht hätte. Das hatte sie mitnichten, und sie hatten es immer wieder einmal "schriftlich" bekommen von mir. Nun mußten sie mich gehen lassen, einen Menschen, von dem sie wußten, daß er im Westen weitermachen würde gegen ihr Weitermachen in Sachen Unmenschlichkeit. Was dieser Mensch zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht wußte, war die Tatsache, daß dieser deutsche Westen, der ihm gerade unmittelbar bevorstand, dabei war, den Kampf, auf den er regelrecht brannte, zunehmend mit halber Seele und gespaltener Zunge zu betreiben. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Und dann passierte ich, im Halbdämmer eines letzten Labyrinth-Winkels, den letzten Mann des Systems, der mich ein letztes Mal im Kommandoton nach Namen, Geburtsdatum und Häftlingsnummer fragte. Als ich geantwortet hatte, mit "Ulrich Schacht, 9. 3. 51, 074045", durfte ich endlich ins Licht treten, in den Innenhof des Gefängnisses, und stand, leicht erschrocken, fast unmittelbar vor der geöffneten Tür eines großen schönen Westbusses, Typ Magirus-Deutz, in dem schon andere ehemalige Gefangene saßen. Ich nahm Platz, neben mir ein Kommilitone aus meiner Rostocker Universitätszeit; wir hatten uns Jahre nicht gesehen, aber ausgerechnet hier, im Karl-Marx-Städter Gefängnis, waren wir uns wiederbegegnet. Und nun fuhren wir zusammen in den Westen, in die Freiheit.

Schließlich war die Transportzahl von 38 Personen erfüllt, und dann kam er - der Sagenhafte, der wandelnde Mythos, die personifizierte Hoffnung aller politischen Gefangenen der DDR: Dr. h. c. Wolfgang Vogel. Der Mann des Feindes, auf den man setzte, manche vertrauten ihm sogar. An seiner Seite ein anderer Rechtsanwalt, er stellte sich mit "Jürgen Stange, West-Berlin" vor. Der Mann des Westens, einer von mehreren, die mit dem delikaten Geschäft des innerdeutschen Menschenhandels beauftragt waren, das bei aller politischen Unappetitlichkeit für die betroffenen Opfer nichts als reines Glück war. Vogel verkündete zunächst einmal auffällig aufgeräumt, daß wir ab jetzt durchaus laut sagen könnten, was wir dächten, wir seien nämlich schon hier in diesem Bus freie Menschen. Vielleicht hat er es tatsächlich ernst gemeint; aber es klang alles ein wenig nach Operette und dann nur noch nach schlechtem Krimi, als er uns klar zu machen versuchte, daß wir natürlich auch im Westen frei reden könnten über all unsere Erlebnisse, die Zeitungen lauerten schon darauf. Er wisse aber, daß es danach für weitere Transporte - und jeder von uns hätte gewiß Kameraden, die darauf warteten, ebenfalls in diesen Bus einsteigen zu dürfen - Schwierigkeiten erwüchsen, ob man das wirklich wolle? Doch das war noch nicht die Pointe; die Pointe ging so: "Sie können das eine Erpressung nennen, und vielleicht ist es ja auch eine. Aber denken Sie darüber nach!"

Der West-Berliner Anwalt sagte zwar auch noch etwas, ich habe es vergessen. Dann verließen beide den Bus, gingen über den Gefängnishof zu einem schweren Mercedes-Benz, goldmetallic lackiert wie ein Zuhälterschlitten aus St. Pauli, und lächelten uns noch einmal aufmunternd zu. Vogel hob dabei, bevor er sich ans Steuer setzte, theatralisch beide Hände über seinen Kopf und preßte sie an den Gelenken so zusammen, als seien sie mit Handschellen gefesselt. Ein Gag. Wir lachten. Selbst dann noch, als zwei auffällig schweigsame Gestalten in den Bus huschten. Ein Mann und eine Frau, die vorn in der Nähe des Fahrers Platz nahmen. Der ließ den Motor an, und wie von Geisterhand öffnete sich plötzlich das mächtige eiserne Tor und wir begannen endgültig, die innere Gefängniswelt der DDR zu verlassen, mit dem Ziel, noch heute auch ihre große Gefängnismauer zu überwinden.

Bald waren wir auf der Autobahn Richtung Wartha-Herleshausen. Jena, Weimar, Erfurt blieben hinter uns, Eisenach kam in Sicht, die Wartburg, das mächtige Kreuz auf dem Turm: In meiner Erinnerung glänzte es weithin sichtbar über das Land. Während der Fahrt bemerkten wir Zivilfahrzeuge, Ladas, Moskwitschs und Wartburgs, die uns unauffällig eskortierten. Oh ja, wir waren kostbare Fracht, die bis zur Übergabe gesichert werden mußte.

Je näher wir der Grenze kamen, um so weniger DDR-Fahrzeuge befuhren die Autobahn; allein Westwagen schossen durch die beginnende Dämmerung. Es war schon fast dunkel und irgendwo im 1.000-Meter-Streifen vor der mörderisch ausstaffierten Demarkationslinie, als unser Bus plötzlich hielt, um das schweigsame Paar in die Finsternis zu entlassen. Später stellte sich heraus, daß es sich um MfS-Ärzte gehandelt hatte, für eventuelle Notfälle.

Kaum hatte sich die vordere Bustür wieder geschlossen, wurde der Fahrer plötzlich mobil. In hessischem Dialekt kündigte er Musik an, im selben Atemzug schob er krachend eine Kassette in den Recorder, und mit dem wieder anfahrenden Bus ertönte zu unser aller Überraschung und Begeisterung zugleich der markerschütternde Schrei der Vicki Leandros: "Theo, wir fahr'n nach Lodz!". Eine groteske Silvesterstimmung erfaßte uns, während draußen die letzten Meter DDR an uns vorbeirauschten, am Ende verbissene Posten-Gesichter hier und lachende dort: Amerikaner, Bundesgrenzschutz. Als der Bus die magische Linie überrollte, brach Riesenlärm in den Sitzen los, wir klatschten in die Hände, schrien oder stammelten sinnlose Freudensätze, keiner, dem nicht das Wasser aus den Augen lief, und dazwischen brüllte der hessische Fahrer übers Bordmikrophon: "Ja, so wird's gemacht, ohne Paß und nur mit guter Laune!" Daß er kurz zuvor mit einem seiner Finger einen kleinen Hebel bedient hatte, der aus den bis eben noch sichtbaren DDR-Nummernschildern an dem Bus nun westdeutsche machte, erzählte er uns später.

Jetzt rollten wir erst einmal immer weiter westwärts, bis ein blauer Lichtschein auf uns zukam, der sich alsbald als das blaue Licht einer Aral-Tankstelle entpuppte. Bis heute lösen Tankstellen dieser Kette diese Erinnerung in mir aus. Sie ist verbunden mit dem Gefühl, wie in einer Science-Fiction durch einen Zeittunnel gerast und in einer anderen Wirklichkeit wieder ans Licht gekommen zu sein. Was dann kam, ist eine andere Geschichte.

Botschaften, die durch Mauern dringen: Das Wissen um Unterstützung aus dem Westen - unser Bild zeigt eine Demonstration in Bonn im Sommer 1975, als der Autor dieses Beitrags noch mehr als ein Jahr Haft vor sich hatte - gab den politischen Häftlingen in den DDR-Gefängnissen Kraft. Foto: Ullstein


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