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09.10.04 / Die masurische Diät

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Oktober 2004


Die masurische Diät
von Heinz Kurt Kays

Dem Grundsatz, wonach Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhalten, wurde überall in Ostpreußen weidlich gehuldigt, speziell aber im Masurischen. Mit nur drei Mahlzeiten am Tag - so war die weit verbreitete Ansicht - könne der Mensch schwerlich auskommen. Deshalb gab es vielerorts zusätzlich das "Zweitfrühstück", wohl auch "Kleinmittag" geheißen und ebenso ein deftiges "Ves-perchen". Wer damit nicht genug hatte, genehmigte sich vor dem Schlafengehen noch einen sogenannten "Gute-Nacht-Bissen".

Woran das lag? Zuvörderst wohl daran, daß ein Gutteil der Bevölkerung jener Landstriche tagaus, tagein emsig tätig war auf Feld und Acker, auf Weide und Wiese, in Wald und Forst. Und eine solche Arbeit bedeutete immerfort körperliche Anstrengung, was eine reichliche wie kräftigende Kost durchaus notwendig machte. So gab es in den Bauerndörfern und Landstädten von Neidenburg bis Tilsit, von Heilsberg bis nach Lötzen gehaltvolle Mahlzeiten zuhauf und in stets ausreichender Menge.

Eine weitere Ursache für derart gesegneten Appetit muß hier ebenso Erwähnung finden. Es gab in diesem Lande kaum eine Familie, deren Wurzeln nicht mindestens einen Strang bis zu den alten Prussen herabreichten. Und denen sagt man allgemein nach, sie seien bereits in grauer Vorzeit den "Freuden der Tafel" keineswegs abgeneigt gewesen. Das zeigt sich etwa daran, daß sie gleich mehreren Gottheiten Verehrung zollten, die für verschiedene Aspekte der Ernährung zuständig waren.

Erwähnt werden sollen davon lediglich Gurko und Pillwytis. Ersterer stand insbesondere beim Stamm der Samen in hohem Ansehen, welcher vor der Ritterzeit im westlichen Masuren siedelte. Dieser Gurko bewohnte für heilig gehaltene Eichenhaine und galt als Gott des Essens und Trinkens. Man opferte ihm Fische und die ersten Früchte des Jahres. Dafür schenkte er seinen Gläubigen einen immerfort gesegneten Appetit. Und wenn sie davon etwas umfangreicher geworden waren, konnten sie sich besagtem Pillwytis zuwenden, der von den Prußen als Gottheit des Bauches angesehen wurde.

Einer, der die beiden hier genannten Voraussetzungen für eine ungehemmte Eßlust erfüllte, war der rührige Stellmachermeister Bruno Grigat aus Weidicken, einem Marktflecken unweit der Grenze zum Polnischen. Daß er ein solches Handwerk ausübte, zeigt unschwer, in welcher Zeit er lebte und arbeitete. Das Auto war zwar bereits erfunden, in Masuren aber kannte man es fast nur vom Hörensagen. Dazumal fuhr man durchweg noch mit zwei PS. Was heißen soll, man spannte sein Pferdchen vor, wenn man Mist aufs Feld karren oder Kartoffeln vom Acker holen wollte. Und man tat dies auch, wenn es galt, Frau und Kinderchen am Sonntag zu Besuch bei den lieben Verwandten zu kutschieren.

Bei derart vielfältigen Gelegenheiten kam natürlich öfter ein Rad zu Bruch, mußte die Deichsel eines Leiterwagens ersetzt werden oder es war sogar die Neuanschaffung eines Gefährts nicht länger zu umgehen. Für all dies war in Weidicken einzig der Stellmacher Grigat zuständig und darum waren seine Auftragsbücher immer gut gefüllt - um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen. In seiner Werkstatt arbeiteten zumeist so drei oder vier Gesellen und der eine oder andere Lehrling. Kein Wunder, daß Meister Bruno und sein Ehegespons Elsbeth, eine geborene Karrasch, sich bald einer gewissen Wohlhabenheit erfreuen konnten.

Natürlich hatte dies zur Folge, daß sich das Pärchen kaum etwas versagen mußte, was appetitstillend und wohlschmeckend war. Beide nahmen so an Umfang wie Gewicht zu, was ihnen aber jedermann gönnte. Denn ebenso wie Meister Bruno hatte seine Frau infolge stetig wachsender Kinderschar genug zu tun, um Haus und Hof zu beschicken. Doch war die gemeinsame Eßlust wohl auch angeboren und auf die erwähnten prussischen Wurzeln zurückzuführen. Das zeigte sich bereits unmittelbar nach der Hochzeit, als Elsbeth noch nicht vom Storch besucht worden war, der übrigens auf dem Dach des Stellmacher-Hauses nistete. Denn da ereignete sich folgende kleine Episode.

Die Hausfrau hatte beim Nachbarn Koschorrek, welcher eine Bäckerei betrieb, für den Sonntagnachmittagskaffee eine Buttercremetorte bestellt. Am Sonnabend schickte sie ihren Bruno los, um das leckere Backwerk abzuholen. Die Torte war richtig fertig und sah zum Anbeißen aus. Die freundliche Bäckersfrau nun wollte von ihrem Kunden wissen, ob sie den Kuchen gleich portionieren solle und fragte: "Darf ich in acht Stücke schneiden oder vielleicht doch lieber in zwölf?" Der Stellmacher überlegte kurz und erwiderte dann: "In acht, bitteschön. Denn zwölf Stück Torte möchten wir nich' schaffen, meine Frau und ich."

Lediglich ein paar Monate später hatte Freund Adebar seine Pflicht erfüllt und bei Stellmachers einen strammen Lorbaß abgeliefert. Deshalb war die frischgebackene Mutter für ein paar Tage nicht in der Lage, am Küchenherd zu stehen und das Mittagsbrot für den stolzgeschwellten Vater zuzubereiten. Und so mußte Meister Grigat eine zeitlang in den Dorfkrug von Weidik-ken pilgern, allwo er seinen wie immer recht beträchtlichen Hunger stillen konnte.

Und so saß er an einem der blankgescheuerten Tische in der Gaststube, Messer und Gabel erwartungsvoll in den Händen. Alsbald kam die Bedienungsmarjell und stellte eine Platte ab, auf der drei knusprig gebratene, jeweils nahezu tellergroße Karbonanden prangten. Das beobachtete ein etwas mickrig wirkendes Herrchen, wobei es sich um den Handlungsreisenden Arthur Kensy handelte, welcher so alle zwei Wochen die Geschäfte des Dorfes heimzusuchen pflegte. Der wandte sich an Bruno Grigat und sprach: "Meisterchen, das wollt ihr doch nich' allein essen?" Der biedere Handwerker schüttelte den Kopf: "Aber woher denn? Ich krieg' noch Kartoffeln und Gemüse!"

Kein Wunder, daß der Stellmacher Grigat bei solcher Lebensweise immer rundlicher wurde. Das hatte auch seine Schwiegermutter gemerkt, die verwitwete Amalie Karrasch. Sie war wieder einmal zu Besuch bei ihrer Tochter und den mittlerweile drei Enkelkindern. Man saß gemütlich beim Abendbrot, welches aus den vom Hausherrn besonders geschätzten Kartoffelflinsen bestand. Vielleicht ein Dutzend von diesem schmackhaften Backwerk hatte er bereits verputzt. Jetzt betastete er seinen Bauch, fand anscheinend noch eine unausgefüllte Stelle und meinte: "So zwei, drei Stück werden noch reingehen ..."

Die Witwe Karrasch blickte mißbilligend zu ihrem Schwiegersohn herüber: "Nei, nei", ließ sie sich vernehmen und schüttelte den Kopf so heftig, daß ihr grauer Dutt nur so schlackerte, "wie kannst du nur so viel in dich hineinstopfen? Bist schließlich schon dick genug, oder?" Bruno Grigat langte sich seelenruhig einen der besonders kroß geratenen Flinsen und biß hinein: "Es geht alles, werteste Frau Schwiegermama", sagte er mit vollem Mund, "es geht alles. Man muß nur ein bißchen Willenskraft haben."

Der alte Prußengott Gurko, eingangs bereits vorgestellt, war nicht nur fürs Essen zuständig, sondern ebenso für das Trinken. Und auch auf diesem Gebiet zählte der Stellmacher aus dem masurischen Marktflecken Weidicken zu seinen Verehrern. Das galt - selbstredend - nur für "geistige Getränke", wie sich Bäckermeister Koschorrek auszudrücken beliebte. Und über seinen Nachbarn Grigat urteilte er in diesem Zusammenhang einmal so: "Angenommen, und ich wär' eine Flasche Meschkinnes, dann möchte' ich nich' gern allein sein mit ihm."

Doch wie auch immer, als Alkoholiker konnte niemand den braven Stellmacher abstempeln. Freilich, ein Tulpchen Bier und das eine oder andere Schnäpschen gönnte er sich schon nach Feierabend. Und einen guten Tropfen Rum verschmähte er zu keiner Zeit, im Winter in Form von Grog, ansonsten einfach pur. Einmal wurde er gefragt: "Warum machst du immer die Augen zu, Bruno Grigat, wenn du ein Gläschen Rum trinkst?" Die Antwort lautete so: "Nu, wenn ich seh' so ein volles Glas, läuft mir immer das Wasser im Mund zusammen. Und ich trink' den Rum doch am liebsten unverdünnt."

Die Zeit nun, sie tat, was sie immer tut, sie verging - auch wenn das im tiefsten Masuren langsamer geschah als anderswo. Doch selbst im beschaulichen Weidicken folgte Jahr auf Jahr und ein jedes ließ bei Meister Grigat ein paar Kilochen zurück. Und als er die Zwei-Zentner-Grenze überschritten hatte, war ihm das deutlich anzusehen. Er nahm es freilich erst zur Kenntnis, als man ihm dies in aller Deutlichkeit unter die Nase rieb, was eines schönen Tages im Dorfkrug in Weidicken geschah.

Dortselbst saß dem Herrn Stellmachermeister der Flickschneider August Brozka gegenüber, der über eine himmellange und zaundürre Gestalt verfügte. Bruno Grigat beäugte ihn aufmerksam, prostete ihm dann freundlich zu und erklärte schließlich: "Du siehst aus, August Broszka, als wär' bei uns eine Hungersnot ausgebrochen!" Der Schneider nahm einen Schluck aus seinem Bierglas und erwiderte in aller Gemütsruhe: "Und du, Bruno Grigat, siehst aus, als wärst du schuld daran!"

Am nächsten Tag stieg der Stellmacher beim Nachbarn Koschorrek auf die eigentlich für Mehlsäcke bestimmte Dezimalwaage und seine ebenfalls rundlich gewordene Ehefrau tat es ihm gleich. Das Ergebnis war bei beiden so, daß sie ernsthaft über "Abspecken" zu reden begannen. Bestärkt wurden sie in dieser Absicht vom jungen Ortsarzt Moraske, welcher eben erst die Praxis seines Vaters übernommen hatte. Der alte Medizinalrat hatte sich einige Jahrzehnte um die Gesundheit der Bewohner von Weidicken gekümmert.

Sein Sohn, frisch von der Universität weg, hatte naturgemäß eine Menge neumodischer Ideen im Kopf. Dazu gehörte auch der Begriff der "Diät", der seinerzeit in Masuren noch unbekannt war. Und eine solche riet er dem Ehepaar Grigat an. "Also", zählte der Herr Doktor auf, "morgens eine Tasse Kaffee ohne Milch und Zucker. Dazu eine Scheibe Schwarzbrot mit Magerquark. Zum Mittagessen paar Pellkartoffeln mit Salat und Gemüse. Und abends Haferflocken in Wasser gekocht. Vielleicht noch einen kleinen Apfel."

Elsbeth und Bruno Grigat hatten dieser Unterweisung aufmerksam gelauscht. Ab und an war es sogar zu einem zustimmenden Kopfnicken gekommen. Schließlich wollte sich Doktor Moraske verabschieden und schritt zur Tür. Da meldeten sich die Stellmacher-Leute zu Wort: "Wann", so fragten sie wie aus einem Munde, "wann bitte sehr, sollen wir machen diese Diät? Vor oder nach den Mahlzeiten?"

So war es damals: Harte körperliche Arbeit verlangte auch nach kräftiger Kost. Foto: Archiv


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