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Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Oktober 2004
Die MS "Delphin Renaissance" hat Visby und Stockholm hinter sich gelassen und
nimmt Kurs auf Estland. Eine steife Brise ist aufgekommen. Hoch schlagen die
Wogen gegen den Bug des Schiffes. Schaumige Gischt spritzt den Passagieren an
der Reling ins Gesicht. Einige ältere Mitreisende, die ihre Jugend im ehemaligen
Reval verbracht haben, fiebern dem Landgang entgegen: "Ich bin gespannt, ob ich
meine alte Heimat wieder erkennen werde", sagt die weißhaarige Dame aus Berlin.
Die "Nachwende-Esten" stehen im Ruf, außerordentlich selbstbewußt zu sein. Die
wirtschaftlichen Fortschritte des kleinen Landes sind rasant. Einer aus der
Reisegruppe erzählt einen Witz, der hier im Baltikum grassiert: "Als nach dem
Fall des Eisernen Vorhanges die Marx- und Lenin-Büsten entfernt wurden,
bewerkstelligten dies die dynamischen Esten mit einem finnischen
Hochleistungskran, die gemütlichen Litauer mit Hämmerchen und Meißeln. Die
Letten hingegen bildeten erst einmal eine Kommission ..."
Die Paßkontrolle in Tallinn verläuft, wie erwartet, schnell und unbürokratisch.
Eine junge modebewußte Stadtführerin namens Ülle trippelt behende auf
Bleistiftabsätzen über das holperige Pflaster und leitet ihre Gruppe in
perfektem Deutsch durch die bewegte Geschichte Estlands, die sich, wie sie
betont, stets durch ein hohes Maß an Autonomie ausgezeichnet hätte. Und das
selbst während der Sowjetherrschaft. Nach ihrer Meinung ist Estland auch das
einzige Land unter den zehn neuen Mitgliedern, das sich für die Mitgliedschaft
in der Europäischen Union qualifiziert. Die 1,6 Millionen Esten haben nicht nur
das jüngste, sondern auch das modernste Parlament der Welt. "Wir sind das erste
papierlose Parlament der Welt", verkündet Ülle stolz. "Bei uns läuft alles
elektronisch. High-Tech ist die Zukunft Estlands." Das historische Tallinn ist
vorbildlich restauriert. Trutzige Befestigungsmauern umgeben die Oberstadt. Auf
dem Domberg innerhalb der Festung liegt der imposante Dom aus dem 17.
Jahrhundert, das älteste Gotteshaus Tallinns. An die Hanse, die mächtige
mittelalterliche Wirtschaftsvereinigung im Ostseeraum, erinnert eine Reihe
einzigartiger Gildehäuser. Geschäftstüchtige junge Leute posieren in Wams und
Mieder vor ihren hölzernen Karren mit der Aufschrift "Die Olde Hanse" und
verkaufen allerlei Leckereien unter anderem gebrannte Mandeln an die Fremden.
Nostalgie ist "in". Ein estnischer Student, der in Heidelberg Medizin studiert
hat, holt die deutschen Touristen wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück:
"Hier im Zentrum ist alles wunderbar", sagt er. "Aber in den Randgebieten sieht
alles noch gar nicht rosig aus. Es ist noch viel zu tun."
Szenenwechsel. Bei schönstem Wetter legt das Schiff im Hafen von St. Petersburg
an. Schon früh am Morgen strahlt die Sonne von einem völlig wolkenlosen Himmel
auf eine der schönsten Städte der Welt herab. Am Pier erwartet ein
Geigen/Trompeten-Duo die Passagiere mit der deutschen Nationalhymne. Etwas
weiter führt ein bärtiger Mann einen riesigen tapsigen Bären an einer Leine
herum. Nach einer Fotopause geht es per Bus mitten in das pralle Leben
Petersburgs hinein. Auf Geheiß Peters des Großen im frühen 18. Jahrhundert von
den berühmtesten Barock-baumeistern jener Zeit als einzigartiges Kunstwerk
modelliert, verzaubert die Stadt am Delta der Newa auch heute noch jeden
Besucher. Genauso wie einst Alexander Puschkin, Fjodor Dostojewski und Leo
Tolstoi, die einen großen Teil ihres Lebens in den Mauern dieser von Flüssen und
Kanälen durchzogenen Wasserstadt verbrachten und Petersburg als die
"abstrakteste" aller Städte empfanden. Es ist vermessen, die unzähligen
Sehenswürdigkeiten vor Ort in zwei Tagen "schaffen" zu wollen. Die übliche
Rundfahrt führt über die Ostspitze der Basilius-Insel zum Smolny Kloster und
später zum Panzerkreuzer "Aurora". Vor diesem 1900 gebauten Schiff, das zwei
Revolutionen überdauert hat, klicken die Kameras. In der mächtigen
Isaak-Kathedrale treten sich die Touristen aus aller Herren Ländern auf die
Füße. Babylonisches Stimmengewirr liegt in der Luft. Der Newskij Prospekt, die
fünf Kilometer lange und 35 Meter breite Prachtstraße - im Volksmund "Newskij"
genannt - lädt mit schicken Läden und Boutiquen, Cafés und Restaurants zum
Bummeln ein. Die "neue Generation", junge, westlich gestylte Russen, geben hier
den Ton an. Hin und wieder gleitet eine lang gestreckte Limousine mit dunkel
getönten Scheiben den Boulevard hinunter. Nichts scheint auf den ersten Blick
von der alten grauen Sowjet-union übrig geblieben zu sein. Ein Schlenker in eine
der verschwiegenen Nebenstraßen enthüllt ein anderes Bild. Hier sitzen alte,
ärmlich gekleidete Frauen auf einer Bank und lächeln mit zahnlosen Mündern in
die Kamera. Dann halten sie die Hände auf und bitten um eine Spende.
Und weiter geht die Tour durch die ehemaligen Stadtpaläste lange versunkener
Fürstengeschlechter zur atemberaubenden Ermitage mit ihren zwei Millionen
Kunstgegenständen und schließlich zum Peterhof, dessen vergoldete Kuppeln schon
aus der Ferne grüßen. Den absoluten Höhepunkt bildet der Besuch des berühmten
Bernsteinzimmers im Katharinenpalast. "Im Krieg ging dieses Kleinod - übrigens
ein Geschenk Preußens an Zar Peter den Großen - verloren. Es wurde jüngst mit
deutscher Hilfe originalgetreu neu geschaffen", erklärt der russische
Reiseleiter.
Als die "Delphin Renaissance" einige Stunden später St. Petersburg verläßt und
an den armseligen Wellblechsiedlungen im Weichbild der Stadt vorbei gleitet,
wenden sich einige Passagiere erschrocken ab: "Im Angesicht dieses Elends hat
man ja fast ein schlechtes Gewissen, zum heutigen Galadinner Hummer und
Langusten zu verspeisen", resümiert eine resolute Wienerin.
"Willkommen in Lettland", verkündet eine bunte Tafel am Pier von Riga.
Nebelschwaden liegen über der Düna (lettisch Daugava). Die Skyline, dominiert
vom spitzen Turm der Jakobikirche, dem barocken Aufbau von St. Petri und der
wuchtigen Konstruktion des Domes, scheint über dem Fluß zu schweben. Im
Vordergrund das Rigaer Schloß mit seinem ockerfarbenen Eckturm. Hier residiert
Vaira Vike Freierberga, Lettlands beliebte Staatspräsidentin. Ein Rundgang mit
Studentin Santa ist ein Vergnügen der besonderen Art. Sie hat jenen feinen,
hintergründigen Humor, der den Letten eigen ist. Während der Sowjetzeit, die
ihren blutigen Höhepunkt im Februar 1991 erreichte, hielten die Letten sich mit
Galgenhumor und Anspielungen bei Laune. Die Hängebrücke über die Düna - ein
grandioses Beispiel echten Weltniveaus im Sozialismus - taufte der Volksmund
spontan "Balalaika von Voss". Namensgeber war der seinerzeitige Erste Sekretär
der kommunistischen Partei Lettlands von Moskaus Gnaden.
Doch das sind tempi passati. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im
August 1991 blickt Lettland nach vorn. Es geht langsam, aber stetig aufwärts,
und Riga ist auf dem besten Wege, wieder die ungekrönte Königin des Baltikums zu
werden. Die Stadt brummt. Wo gestern noch ein graues unscheinbares Gebäude
stand, strahlt heute ein in leuchtenden Farben gestrichenes Kleinod. Jenen, die
das alte Viertel durchqueren und über den Stadtgraben in die Neustadt
überwechseln, öffnet sich ein Jugendstilmuseum. In der Alberta iela hat sich der
Architekt Michael Eisenstein mit seinen prachtvoll überladenen, an allegorischen
Figuren reichen Häusern ein Denkmal gesetzt. Gleich nebenan in der Elizabetes
iela finden sich schöne Beispiele für die Verschmelzung von Jugendstil mit
typischen Elementen des Neoklassizismus.
Ein Abstecher nach Jurmela an der "lettischen Riviera" schließt sich an. Entlang
des 450 Kilometer langen Ostseestrands reihen sich prachtvolle Villen aus den
20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die meisten sind inzwischen mustergültig
restauriert. Die häßlichen Plattenbauten, Relikte des real existierenden
Sozialismus, sind dem Verfall anheim gegeben und werden sicherlich bald
abgerissen.
Das litauische Jugendorchester begrüßt die Gäste im Hafen mit einer
schmetternden Fanfare. Klaipeda, das ehemalige Memel, ist wahrhaft keine
Augenweide unter den baltischen Städten. Außer dem hübschen Theaterplatz mit dem
in Bronze gegoßenen "Ännchen von Tharau" hoch über dem Brunnen gibt es hier
nicht allzu viel zu bewundern. Rund um den Platz gruppieren sich zahllose Stände
mit Bern-steinschmuck. Für zehn Euro ist schon eine hübsche Halskette oder ein
apartes Armband zu haben.
Doch Vorsicht ist geboten. Viele Stücke haben mit dem "Gold der Ostsee"
lediglich die Farbe gemeinsam. Sie sind schlicht aus Plastik.
Zu einem Erlebnis gerät die Fahrt zur Kurischen Nehrung. Die 98 Kilometer lange
Sandbank trennt das Kurische Haff von der Ostsee. 1992 wurde die gewaltige
Dünenkette zum Naturschutzgebiet erklärt. Hier befinden sich die höchsten Dünen
Europas. Weite einsame Buchten, weitläufige Strände, Kiefern- und Birkenwälder
locken Erholungssuchende aus allen Teilen des Landes und immer mehr Touristen
aus dem Westen an. Nida, das frühere Nidden - ein Badeort wie aus dem Bilderbuch
- ist so etwas wie ein Wallfahrtsort für Liebhaber der Werke Thomas Manns. Das
behagliche Holzhaus, in dem der Dichter 1930 die Sommerferien mit seiner ganzen
Familie verbrachte, heißt heute "Thomas-Mann-Museum". Hier finden regelmäßig
hochkarätige kulturelle Veranstaltungen statt.
Der nächste Hafen auf der Route ist Gdynia in Polen. Dieser Name, den Älteren
noch als Gotenhafen bekannt - weckt traurige Erinnerungen an eine der größten
Schiffskatastrophen des letzten Jahrhunderts. Hier sank kurz vor Kriegsende das
KdF-Schiff "Wilhelm Gustloff" nach dem Beschuß durch sowjetische Torpedos und
riß Tausende von Menschen in den Tod. "Doch der Hafen steht auch für einen
Neubeginn", sagt Ilona, die sympathische Frau aus Zoppot. "Denn 1989 brach unter
dem Druck der Gewerkschaft ,Solidarität' das kommunistische Regime zusammen und
ebnete den Weg in Polens politische Souveränität." Der wichtigste Hafen des
Landes gibt optisch nicht viel her. Plattenbauten und graue Mietshäuser säumen
die Straßen. Ein Lichtblick ist das Seebad Zoppot mit seinen silbernen
Sandstränden und der nostalgischen Bäderarchitektur. Eine Schönheit wie aus
einem Guß aber ist Danzig. Auf dem Langen Markt reiht sich wie auf einer
Perlenkette ein prachtvolles Gebäude mit kunstvoll geschnitzten Türen und
filigranen steinernen Figuren an den Giebeln an das nächste. Treffpunkt der
Danziger ist der elegante Neptunbrunnen. "Würden Sie glauben, daß diese Stadt
1945 zu über 90 Prozent dem Erdboden gleich war", fragt der freundliche alte
Mann in fast perfektem Deutsch. "Alles hier wurde von unseren Leuten Stein für
Stein mühsam wieder aufgebaut. Heute darf man es ja sagen: Die Russen haben noch
nach Ende der Kriegshandlungen hier erheblichen Schaden angerichtet." Auch das
hölzerne Krantor, das Wahrzeichen der Stadt Danzig, erstrahlt schon seit langem
in altem Glanz, nachdem es völlig abgebrannt war.
Westlich von Danzig erstreckt sich die malerische, sanfthügelige
Moränenlandschaft der Kaschubischen Schweiz. Tiefe Wälder und von üppigem Grün
gesäumte Seen prägen den Landschaftscharakter. Seinen Namen verdankt das Gebiet
dem westslawischen Stamm der Kaschuben, die hier seit dem 13. Jahrhundert leben.
Vor der barocken Kirche des 1380 gegründeten Kartäuserklosters begrüßt ein
fröhliches Ehepaar die Touristen aus Deutschland: "Weltberühmt geworden sind die
Kaschuben durch Ihren Schriftsteller Günter Grass in seinem Roman ,Die
Blechtrommel'. Und auch Werner Bergengrün, der im Baltikum aufwuchs, hat ein
wunderschönes Gedicht über uns geschrieben, in welchem er sich wünscht, das
Christkind wäre hier bei uns zur Welt gekommen. Oh, Kindchen, wirst Du im
Kaschubenland geboren ..." Hieraus entsteht ein launiger deutsch-polnischer
Dialog, der viel zu früh von der Reiseleitung, die die Rückkehr zum Schiff
anmahnt, das gegen Abend seinen Anker in Richtung Kopenhagen lichtet,
unterbrochen wird. n
Auskunft, Prospekte und Buchung bei: Delphin Seereisen GmbH, Neusalzer Straße
22e, 63069 Offenbach am Main, Telefon (069) 98 40 38 11, Fax 98 40 38 40,
www.delphin-kreuzfahrt.de .
Nostalgie ist "in": Geschäftstüchtige junge Leute posieren in der historischen
Altstadt von Tallinn in Wams und Mieder vor ihren hölzernen Karren und verkaufen
allerlei Leckereien wie gebrannte Mandeln.
"Abstrakte" Wasserstadt: St. Petersburg hat neben dem Peterhof viele weitere
prunkvolle Bauwerke aufzuweisen. Aber auch das Alltagsleben der Gegenwart
fasziniert mit seinen Kontrasten. Fotos (2): Buhr |