Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Oktober 2004
Welcher Strauß ist der schönste von allen, der erste Primelstrauß im Frühling,
der Feldblumenstrauß von der Juniwiese, wenn schon das erste Sensendengeln übers
Feld klingt, oder der bunte, bunte Herbststrauß?
Da stehn sie oben auf dem alten Sekretär, die beiden Sträuße aus dem
Bauerngarten, die mir neulich ins Haus flogen; der stille, goldene Schein der
kleinen Kerze davor glänzt auf dem goldenen Rahmen des Bildes darüber, glänzt
auf den Vasen und läßt das zierliche Gefieder der Goldruten vor der dunklen
Tapete wie kleine Goldrispen schimmern. Eine fliederfarbne Federaster, ein
gelber Goldball drehen sich dem Licht zu, der Seidenglanz der roten
Malvenblüten, das lichte Karmoisinrot der Godetien blickt aus Grün und Gold, und
über allem jubiliert das Orangegelb der Ringelblumen.
Auf der anderen Seite steht die bunte steirische Vase mit den Astern. Wie die
Sonnenblumen nach dem Licht scheinen sie alle ihre zarten Gesichter nach dem
Kerzenschein zu wenden: dunkellila, bläulich, strahlend rosa, rötlich überhaucht und schneeweiß blicken sie in das Licht, trinken es, bis jedes
der zarten Blättchen golddurchschimmert aus dem grünen Kelch taucht. Eine ist
ungefüllt und ihre goldene Blütenscheibe mit dem hellroten Strahlenkranz wendet
sich mir zu wie eine liebliche Stumme, deren Holdseligkeit die Botschaft des
Trostes, der Freude, der unvergänglichen Schönheit im Vergänglichen predigt, mit
ihrer lautlosen Eindringlichkeit das Lärmen der Großstadt übertönend, das
Brausen des Marktes, der drüben am anderen Flußufer tobt und flutet, im grauen
Menschenstrom, gepeitscht von dem Wind trostloser Notwendigkeit.
Sie alle, die dort so rastlos hin und her gehen, wollen etwas kaufen für
Papierscheine in den unruhigen Händen. Sie alle haben im ängstlich hämmernden
Herzen, im blutlosen Kopf irgendwo das Gefühl, daß es nicht richtig, nein, daß
es ganz und gar unrichtig ist, immer an diese phantastischen Zahlen zu denken.
Und sie lechzen tief in ihren ängstlichen Seelen nach etwas, was nicht wie Kohl
und Kartoffeln und Talg nur grade da ist, den Hunger des Magens zu stillen. Und
wer es irgend ermöglichen kann, geht hin und kauft ein paar Blumen.
Das freundliche, alte Fräulein mit dem stillen Gesicht, das der betäubende Duft
und feuchte Dunst des kleinen Blumenladens gebleicht hat, und die wohl im Innern
schon lange mit sich einig war, daß "in solchen Zeiten" nie jemand ihre Ware
brauchen würde, wickelt wie immer Rosen und Nelken in Seidenpapier, und kniffelt
und steckt die weißen Krepphüllen um die blühenden Myrthen-töpfchen der
Einsegnungskinder wie jedes Jahr. Und die Blumenfrauen auf dem Markt mit den
Eimern voll Phlox und Astern und gelbroten Monbretien bündeln schon ihre
Sträuße, wenn die niedlichen kleinen Ladenmädchen mit den schicken Frisuren und
bunten Streifenröckchen mittags aus den Warenhäusern wirbeln. Wie das
schnattert, kichert, hin und her läuft, sucht und verwirft, bis jede einen
Strauß erstanden hat und ihn prüfend und glücklich besieht beim Forttragen. Über
die altklugen, stubenfarbenen Gesichter geht der Widerschein der Kinderfreude,
das Lächeln der Seele, das wie ein Licht über die irdische Form gleitet, die
sich ewig sehnt, von diesem Schein durchstrahlt zu werden, viel mehr als diese
arme Form selbst es weiß, als die Allzuklugen es sehen wollen. Freude, Buntheit,
Lebenskraft, bewegende Gefühle - alles, alles, was weit fort ist vom Alltag und
seinen Nöten, das ersehnt diese gefangene Gegenwartsseele.
Mit demselben Lächeln sah ich neulich Hunderte von Gesichtern in das grelle
Bogenlampenlicht des Zirkuszelts starren nach den blitzenden Metallringen, in
denen lautlos sich die blonden Zwillingsschwestern in den hellen Seidentrikots
drehten, schön und kraftvoll, die mit der Gewandtheit ihrer geübten Körper in
den sich immer schneller drehenden Ringen im Gleichgewicht blieben. In den
tausend glänzenden Augen, die ihnen folgten, stand Bewunderung, Freude,
Ent-zücken - und ein ganz klein bißchen von jener beklemmenden Angst, jener
gespannten Schicksalsfurcht vor dem Ersehnt-Vollkommenen, die uns eingeboren ist
und die sich dann in Klatschen und Gelächter auflöst wie bei Kindern. Und wie
Kindergesichter wurden plötzlich alle diese Gesichter, die so grell beleuchtet
waren, daß sie fast aussahen wie die der weißgepuderten Spaßmacher, als die
Kugelspieler, als der dumme August kam, als die Parade der buntgezäumten
Schecken durch die Manege trabte. Es war hübsch, das alles zu sehen, den Dunst
von Sand und Pferd zu riechen, die uralten Späße zu hören, aber das Hübscheste
war's doch, wie von all diesen Gesichtern der Alltag abfiel wie grauer Staub,
wie sie auf einmal, diese von Not und Haß zerfleischten Menschen, einig waren in
einem frohen Beifallslachen.
Nicht bloß das Lachen eint, es ist auch ganz gut, mal zusammen traurig zu sein.
Nicht ein bißchen über das Übliche, so betrüblich es auch ist, wenn Frau Schulze
und Frau Neumann Frau Müllern erzählen, daß der Witwe Lehmann gestern Nacht
sämtliche Hühner gestohlen sind (in dieser Zeit!) - oder, daß Herr Lehmann
senior sich mit den neuesten Tips geirrt hat - nein, dies kleine Menschengemiefe
weckt bloß die Liliputanergefühle eines blassen Mitleids und einer dünnen
Schadenfreude.
Ich meine das, was größere Zeiten und Menschen das Tragische nannten. Und ich
denke an das junge, frische, wohlgenährte Schieberehepaar, das vor mir saß und
zum ersten Mal den "Kaufmann von Venedig" hörte (von Scha-kes-pe-are). Wie sie
von Akt zu Akt lebhafter wurden, sich an den Händen hielten, über Portias
Klugheit lachten, sich über Shylock entsetzten, und wie die kleine Frau ihre
Schokolade hinwarf und doch bitterlich weinte, als Jessica ihm fortlief, und
zitterte, als der Betrogene schnaubend dastand, und wieder weinte, diesmal vor
Glück, weil Portia es ihm so gut gab. O kleine, runde, rosige Frau, wie schön
wurde dein Gesicht, als du dich da mit funkelnden Augen und gesträubten Locken
umsahst, mit einem Blick, der geradewegs bis in den Himmel ging, in dem er
sitzt, den wir William Shakespeare nennen!
Ja, und dann gestern im Kino! Nein, gewiß, es läßt sich viel gegen Kino sagen,
ich weiß es. Und als ich hinging zu "Marie Antoinette", da war ich wieder ganz
mit mir einig, daß gewaltsam ums Leben Gekommene mindestens 200 Jahre lang unter
einem "Schutzgesetz gegen Bedichten und Verfilmen" stehen sollten. Aber als ich
die atemlose Spannung um mich sah, die Ergriffenheit, die Rührung vor der Gewalt
eines Geschicks, dessen schaurige Größe durch alle Filmmache schimmert wie
Titanenglieder durch ein Menschenkleid, als ich in den kurzen Pausen in all
diesen Gesichtern etwas von dem sah, was über den Gesichtern fern in Attika in
den Theatern lag, wenn unten die Eumeniden sangen - da dachte ich: er soll doch
gelobt sein, der historische Film. Was wäre ihnen Hekuba, wenn sie nie von ihr
hören würden? Was wäre der Ausgleich für Hekubas Jammer, wenn nicht immer wieder
ein Auge drüber weinen würde? Und wie könnten wir armen Ameisen unsern Alltag
ertragen und seine Not, wenn wir nicht von Zeit zu Zeit hören würden, daß
Menschen mit noch viel mehr Glück als wir es je zu träumen wagten, so außer
allem Menschenmaß leiden mußten wie eben Hekuba?
Nein, sage mir keiner etwas gegen den Film, der das alles so erzählt, wie es die
meisten heut am besten verstehen. Und sage mir keiner etwas gegen den Zirkus. Es
ist schön, zu lachen und zu weinen über das Außerordentliche. Aber am schönsten
ist es doch, auf einen Blumenstrauß zu sehen. Und ich denke beinah - aber das
liegt an meinem Alter - ein Herbstblumenstrauß ist der schönste.
Entnommen aus "Spaziergänge einer Ostpreußin", Ostpreußische Zeitung, 1923.
Agnes Miegel: Die Dichterin an ihrem Schreibtisch, auf dem ein frischer
Blumenstrauß nicht fehlen durfte. Foto: Archiv |