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23.10.04 / Der kurdische Knoten / Das Kurdenproblem wird in der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei ausgeblendet

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. Oktober 2004


Der kurdische Knoten
Das Kurdenproblem wird in der Diskussion um einen EU-Beitritt der Türkei ausgeblendet
von Richard G. Kerschhofer

Gegen eine EU-Aufnahme der Türkei werden finanzielle, demographische, geographische und religiöse Argumente vorgebracht. Die Kurdenfrage hingegen wird weitestgehend ausgeblendet - oder unter "Menschenrechte" subsummiert. Gewiß, für Internationalisten sind Minderheiten ohnehin eine "Bereicherung", und bürgerliche Kreise lassen sich gerne mit dem Schlagwort "kommunistische Terrororganisation PKK" hinters Licht führen. Doch so simpel ist die Sache nicht: Es besteht ein echter Nationalitätenkonflikt, der sich nicht einmal wie sonst üblich als Religionskonflikt umdeuten läßt, denn die Kurden sind zum allergrößten Teil genauso Sunniten wie die Türken.

Es gibt heute 20 bis 30 Millionen Kurden, davon mehr als die Hälfte in der Türkei, über fünf Millionen im Iran, vier Millionen im Irak, bis zu einer Million in Syrien sowie mehr als eine Million in der Diaspora (Westeuropa, Ex-Sowjetunion, Naher Osten). Die enorme Schwankungsbreite resultiert nicht nur aus mangelhaften Volkszählungen. Sie reflektiert auch gezielte Fälschung: Vor allem die Türkei trachtet, die Zahlen nach unten zu frisieren. Und viele Kurden spielten bisher aus Angst vor Verfolgung mit - sie wagen es nicht, sich zu deklarieren.

Haben nun die Türken ein Kurdenproblem? Nein - es haben die Kurden ein Türkenproblem. Dar-über hinaus haben sie aber noch ein Araber- und ein Perserproblem! Die Türken hingegen haben ein Problem des Selbstverständnisses: Sie wollen nicht wahrhaben, daß die Kurden keine "Bergtürken" sind.

Bekommt Europa durch die Türkei ein Kurdenproblem? Ebenfalls nein - denn das Problem ist längst da, wie sich an Gewalttätigkeiten unter "türkischen" Gastarbeitern zeigt! Es sind Konflikte zwischen "echten" Türken und "türkischen" Kurden. Das Konfliktpotential ist aber viel größer. Es wird vorerst nicht virulent, weil es sich für viele Betriebe scheinbar zufällig so ergibt, daß ihre "Türken" entweder nur echte Türken oder nur Kurden sind. Und in der Freizeit herrscht ohnedies "reinliche Scheidung". Für Europa würde sich durch verstärkte türkische und kurdische Einwanderung aber nicht bloß das interne Risiko erhöhen: Denn das angestammte kurdische Siedlungsgebiet reicht weit über die Türkei hinaus!

Wer sind die Kurden? Kurdisch ist eine indogermanische Sprache, die so wie das verwandte Persische zahlreiche arabische Lehnwörter aufgenommen hat. Die Vorfahren der Kurden waren wie andere Arier (dies ist der indo-iranische Zweig der indogermanischen Sprachfamilie; die mißbräuchliche Verwendung des Bergriffes "Arier" in der nationalsozialistischen Rassenlehre ist unwissenschaftlich; Anm. d. Red.) im zweiten Jahrtausend v. Chr. in den vorderasiatischen Raum eingewandert. Da sich das heutige Kurdengebiet annähernd mit dem Kernland der antiken Meder deckt, können sich die Kurden mit gewisser Berechtigung als deren Nachfahren sehen. Doch das ist ein intellektuelles Konstrukt - wie etwa auch die Berufung der Rumänen auf die alten Daker. Von einer Kontinuität des Volksbewußtseins wie bei Griechen oder Armeniern kann keine Rede sein.

Seit das Mederreich um 550 v. Chr. im Perserreich aufging, gab es keinen "medischen" oder "kurdischen" Staat mehr. Die Bezeichnung "Kurden" taucht erstmals in arabischen Quellen auf. Sultan Saladin ("Salah-el-Din") war zwar Kurde, aber sein Reich war kein kurdisches, sondern eher ein "großsyrisches". Die Kurden selbst standen unter wechselnder Fremdherrschaft, wobei die fremden Herren - Araber, Türken, Perser - meist nur nominell die Oberhohheit hatten, denn in unwegsamen Gebirgsgegenden liegt die wahre Macht immer bei lokalen Stammes- und Gaufürsten. Siehe Afghanistan.

Ein kurdisches Volksbewußtsein über bloße Sippen- und Stammesloyalität hinaus entwickelte sich erst durch die Unterdrückungs-, Assimilierungs- und Ausrottungsaktionen der Türkei und des Irak. Und wie immer in solchen Fällen war dies eine Einladung an Dritte: Die Sowjetunion hoffte, durch Unterstützung der "türkischen" Kurden, den Nato-Eckpfeiler Türkei zu destabilisieren. Deshalb die Gründung der PKK, deren Kader zwar kommunistisch indoktriniert sind, die aber wie jede Befreiungsbewegung nur Zulauf hat, weil primär die Unterdrückung da ist. Auch an den beiden Kurdenparteien im Irak, der KDP des Barzani-Klans und der PUK des Talabani-Klans, bestätigen sich sowohl die alten Stammesrivalitäten wie auch die wechselnde Einflußnahme von Sowjets und Amerikanern.

Die Abwanderung von Kurden aus Türkisch-Kurdistan ist auf die Vernichtung Tausender kurdischer Siedlungen durch die türkische Armee, auf die Flutung von Gebieten durch Errichtung von Staudämmen an Euphrat und Tigris sowie vor allem auf "gewöhnliche" Landflucht zurückzuführen. Allein in Istanbul leben zwei Millionen Kurden unter erhöhtem Assimilierungsdruck. Die "Entkurdisierung" zeigt sich aber besonders an den Eliten: Die einfachen Leute in den Dörfern bleiben vom Aufstieg ausgeschlossen, weil sie nicht Türkisch können. Gebildete Kurden wiederum können heute kaum noch Kurdisch. Die mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnete frühere kurdische Abgeordnete Leyla Zana etwa bekannte, daß sie Kurdisch erst im Gefängnis erlernt habe!

In Irakisch-Kurdistan ist die "Arabisierung" durch den Sturz Saddam Husseins beendet. Die Kurden haben dort heute eine Selbstverwaltung, die sich von Selbständigkeit nur noch formal unterscheidet. Einerseits ist damit in den Kurdengebieten für Ruhe und Ordnung gesorgt. Andererseits droht die Türkei, einen Kurdenstaat im Irak - den Kern eines dank Erdöl durchaus lebensfähigen vereinigten Kurdistan - militärisch auszulöschen. Ein Dilemma für die USA - und für erweiterungshungrige "Europäer".

Irgendwo zwischen den Völkern: Im Nordirak wie in der Türkei gelten die Kurden als ungeliebter Ballast. Foto: pa


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