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30.10.04 / Nasser Asphalt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 30. Oktober 2004


Nasser Asphalt
von Klaus Weidich

Die Erzählenden hatten glühende Gesichter bekommen, und das "Weißt du noch ...?" schwebte ebenso flink und unbeschwert unter der Zimmerdecke wie spitze Vogelschwingen in blauer Himmelshöhe. "Darf ich dir ein Gläschen Wein einschenken?" fragte der Hausherr mit vielversprechendem Blick, "du wirst sehen, es ist ein besonders guter Tropfen." Doch der Gast hob in bedauernder Abwehr die Hand. "Du weißt, ich muß noch fahren." Der Hausherr jedoch ließ dieses nicht gelten. "Aber ich bitte dich, ein kleines Gläschen zum Schmecken."

Der Wein war wirklich gut, und die vier Menschen tranken ihn mit sichtlichem Behagen. Beim Versuch, die Gläser zum zweiten Mal vollzuschenken, entzog der Gast jedoch sein Glas. "Nun ist wirklich genug, Herbert, ich brauche den Führerschein in meinem Beruf. Ohne ihn bin ich völlig aufgeschmissen." Da aber richtete auch die Hausfrau ein Wort an den Gast. "... und wenn du wirklich noch etwas trinkst, Bert-hold, was soll's, unsere Tochter Beate kommt bald zurück. Sie wird euch dann nach Hause fahren. Der Wagen kann doch bis morgen hier stehen bleiben." Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung, und gleich darauf füllten sich wieder dunkelrot die Gläser.

Als nach Stunden auch das dritte Glas geleert war, schreckte das schrille Läuten des Telefons die Erzählenden auf. Die Tochter des Hauses war am Ende der Leitung. "Was, du kommst heute nicht nach Hause?" hörten die Lauschenden den Hausherrn sprechen, "am Auto ist etwas ...? - Na gut, Kind, dann bringe den Wagen gleich morgen in die Werkstatt, und laß uns wissen, was es gegeben hat!"

Nach dem Auflegen des Hörers herrschte für einen kurzen Augenblick peinliche Stille. "Hmmh, hmmh!" machte der Hausherr, "so etwas Dummes aber auch, gerade heute ..." Doch der Gast winkte beschwichtigend ab: "Ach, das ist doch kein Weltuntergang." Bittend wandte er sich dann an die Hausfrau. "Wenn du mir eine starke Tasse Kaffee aufbrühst, Gerda, dann wird es schon gehen. Ich fahre ja sowieso vorsichtig." - "Du willst wirklich ...?" Der Gefragte nickte.

Draußen hatte Nieselregen eingesetzt, dazu fuhr der Nachtwind wie aufmunternd über schläfrige Baumkronen hinweg. "Fahrt vorsichtig!" riefen die Gastgeber dem Auto nach. Augenblicke später zogen die Schlußleuchten auf dem nassen Asphalt schon ihre rötliche Spur.

Im Auto herrschte angespannte Stille, denn zwei Augenpaare starrten aufmerksam in das Dunkel der Nacht hinaus. Nur einmal sagte die Frau: "Fährst du wirklich nicht zu schnell, Berthold?" Statt einer Antwort schüttelte der Gefragte den Kopf. Wiederum herrschte Schweigen in dem Wagen. Meter für Meter gruben sich Lichtkegel in die Dunkelheit.

Urplötzlich aber war die Straße übersät von Glasscherben. Dann kam auch schon dieser entsetzte Schrei der Frau. "Halte an, Berthold, dort liegt etwas am Straßenrand!" Vorsichtig öffnete sie die Tür. "Dort liegt ein Fahrrad am Straßenrand", sagte sie mit gepreßter Stimme, "und etwas weiter liegt auch ein Mann - er scheint noch sehr jung zu sein."

Der Mann im Wagen ließ seine Hände jedoch nicht einen Augenblick vom Steuer. "Mach' die Tür zu!" herrschte er die Frau an. "Um Gottes willen, was hast du vor, Berthold?" Der Mann gab keine Antwort, schaltete dafür umso zügiger die Gänge hoch. Erneut wich das Dunkel der Nacht vor dem grellen, weißen Licht ...

Endlich fing der Mann an zu sprechen. "Du und ich, Margot, wir sind keine Ärzte, wir können sowieso nicht großartig helfen. - Und du weißt, Margot, ich habe getrunken. Aber an der nächsten Telefonzelle rufen wir Hilfe herbei."

Sie verloren wirklich nicht viel Zeit bis zum nächsten Fernsprecher. Schon von weitem sah man ihn leuchtend Gelb an einer Straßen-ecke stehen. Nur das kleine weiße Schild mit der Aufschrift: Außer Betrieb, das bemerkten die beiden Leute erst beim Aussteigen. Nun spiegelte sich selbst auf den sonst so beherrschten Gesichtszügen des Mannes Ratlosigkeit. Er startete den Wagen und steuerte gedankenverloren wieder in die Nacht hinein. Das gespenstische Schattenspiel von mattem Dunkel und spiegelndem Grell hielt die zwei Augenpaare aufs Neue gefangen.

Die Frau kämpfte mit den Tränen. "Es war ein blaues Fahrrad", sagte sie fast tonlos, "solch eins wie unser Michael es fährt. - Und so jung war er scheinbar auch, der Verletzte."

"Was grübelst du für unsinnige Dinge?" fuhr der Mann sie an, "du weißt doch genau, Michael habe ich für diese Woche Hausarrest gegeben - eine Fünf in Mathe und eine Fünf in Physik setzt wirklich allem die Krone auf. Er wird beleidigt auf uns warten."

Für eine Weile schien sich die Frau zu beruhigen, fragte dann aber sogleich: "Können wir den Unfall nicht von Zuhause aus melden?" - "Bist du verrückt?" rief der Mann, "die Polizei kann ohne große Mühe den Anruf zurückverfolgen und uns dann unliebsame Fragen stellen." Endlich erreichten sie ihr Zuhause. Überstürzt eilte die Frau aus dem Wagen, fand auch sogleich den richtigen Schlüssel, und als sich das Garagentor langsam hob und das helle Licht der Scheinwerfer vom Garageninneren Besitz ergriffen hatte, kam ein Schrei aus der Kehle der Frau, der kaum noch menschlich klang. "Berthold, Michaels Fahrrad steht nicht hier ...!" Sie wartete die Antwort und Reaktion ihres Mannes nicht ab, stürzte in das Haus und ergriff den Telefonhörer.

Der Mann war ihr gefolgt und lauschte nun mit bangem Herzen den Worten seiner Frau, die mit fast heiserer Stimme in das Telefon fragte: "... und ein Unfallbericht über meinen Sohn Michael liegt bei Ihnen nicht vor? - Ja, ja, Sie haben richtig verstanden, Michael Berger, geboren am 17. März 1987 ..."

Für eine Weile schwieg nun die Frau, lauschte nur noch der Stimme im Fernsprecher, schien fast in den Hörer hineinkriechen zu wollen. Danach fragte sie erneut. Sprach wieder mit dieser vor Aufregung fast heiseren Stimme: "Was sagten Sie, Herr Wachtmeister? - Da kommt soeben ein Funkspruch herein, ein Streifenwagen meldet es, und von unserem Sohn Michael ist auch die Rede. - Um Gottes willen ...!"

Das Gesicht der Frau war leichenblaß geworden, sie sprach auch nur noch flüsternd. "Nein, nein, Herr Wachtmeister, mir fehlt nichts - aber sagen Sie doch, was ist mit unserem Michael?" Wieder lauschte die Frau in atemloser Anspannung, wiederholte mit heiserer Stimme die Worte: "... und ich soll mir keine Sorgen machen, Herr Wachtmeister, unser Michael hat dem Streifenwagen bloß einen Unfall gemeldet, der auf der Kreisstraße passiert ist und bei dem es einen verletzten Fahrradfahrer gab - und unser Michael kommt gleich nach Hause? - Danke, Herr Wachtmeister, vielen herzlichen Dank ...!"

Margot Berger legte den Hörer zurück auf die Gabel und schaute zu ihrem Mann hinüber. Auch der saß wie totenbleich auf seinem Platz. Ganz klein und still saß er da. Der Zusammenschluß seiner Hände - war der nur unbewußt geschehen? - Oder war es eine stille Danksagung an einen gnädigen Richter ...?

Unterwegs: Lange Strecken mit dem Fahrrad sind nicht immer ungefährlich. Foto: Archiv


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