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30.10.04 / Nicht einmal einen Tropfen / oder Wenn man abstinent leben muß

© Preußische Allgemeine Zeitung / 30. Oktober 2004


Nicht einmal einen Tropfen
oder Wenn man abstinent leben muß
von Esther Knorr-Anders

Es kann passieren, daß man für längere Zeit keinen Tropfen Alkohol trinken darf. Sei es, daß eine Schlankheitskur durchzuführen ist, sei es, weil ein verordnetes Medikament auf den Genuß des winzigsten Schluckes Rebensaft heimtückisch reagiert. "Sechs Wochen Abstinenz", hatte es geheißen. "Kleinigkeit", stimmte ich zu - und dachte keinen Augenblick an mein mitmenschliches Umfeld. Diese Unterlassung stellte sich als Fehlerquelle heraus. Nie hätte ich meine Freunde, nahe Bekannte für derart alkoholdurchteufelt gehalten. Sie erwiesen sich als zähe Verführer, ausdauernde Verlocker. Sie brachten es fertig, daß ich mich meinerseits zu guter Letzt als Beelzebub fühlte, der anderen die Lebensfreude vergällte.

Doch zunächst kaufte ich guten Mutes Fruchtsäfte. Es galt, eine größere Bestellung aufzugeben. Die Verkäuferin kennt mich als Bezieherin guter Tropfen. Sie ließ den Filzstift fallen. "Sind Sie krank?" Die Frage hätte mich stutzig machen sollen. Aber noch konnte ich wirklich nicht ahnen, daß sie buchstäblich zur Tagesmelodie der spirituosenlosen Zeit werden würde. Daher entgegnete ich unbefangen: "Krank? Nein. Ich darf nur ein paar Wochen nichts Alkoholisches trinken." Sie rollte bedächtig den Kopf. "Ist es die Leber? Alle meine Kunden, die plötzlich Säfte bestellen, haben es an der Leber. Es kann ja was Harmloses sein." Mir brach der Schweiß aus. Ich beruhigte mich erst, als ich im Keller vor den angelieferten Traubensäften und "stillen Wassern" stand. Eine Menge Gesundheit lagerte im Regal. Ich überlegte, ob diese Fülle etwa krank machen könne.

Bereits die ersten beiden Wochen bescherten zahlreiche Erlebnisse. An der Bushaltestelle traf ich die Neumanns. Herrn Neumanns Blick umflorte sich. "Ich habe gehört, Sie dürfen weder Wein noch Sekt trinken. Heißt das, nie mehr?" Die Gattin fiel ihm ins Wort. "Unsinn, es ist nur vorübergehend. Das stimmt doch?" Ich bestätigte es. Den Ehemann überflutete Mitgefühl. Was ich denn aushilfsweise genießen würde, wollte er wissen. "Traubensaft, mit Sprudel gemixt. Schmeckt wie Sekt", antwortete ich. Gequält blick-te er dem herannahenden Bus entgegen ...

Wenige Tage später spazierte ich über den Wochenmarkt. Zwischen den Ständen herrschte Gedränge. Als Hannes mich entdeckte, stürzte er auf mich zu. "Ewig lange hab' ich dich nicht gesehen. Was hältst du von einem Frühschoppen im Ratskeller?" Davon hielt ich viel, sofern mein Schoppen schlichtes Mineralwasser sein durfte. Er wollte es nicht glauben, auch dann noch nicht, als ich den Piccolo zur Seite stellte und nach der Wasserflasche griff. Hannes drückte meine Hand. "Nur einen Begrüßungsschluck. Mach mir die Freude." Ich füllte das Sektglas mit Wasser. Es perlte. "Die vollkommene Illusion", erklärte ich. Er wurde ernst. "Was ist? Hast du's mit der Leber?" Ich haspelte meinen Spruch herunter: daß es sich um ein Medikament zur Nachbehandlung einer Infektion handele, das Alkohol verböte. "Laut Beipackzettel, strikt!"

Er starrte mich an. "Hältst du dich etwa an Beipackzettel?" Lebhaft führte er aus, daß es nur eine Möglichkeit gebe, den Zetteln beizukommen: Man dürfe sie gar nicht lesen. Nur so bliebe man Herr seiner Handlungsfreiheit. Andernfalls würde man zum Hypochonder. "Du bist auf dem besten Weg dazu. Lehnst einem alten Freund einen Schluck Sekt ab. Den hätten Galle und Leber überhaupt nicht bemerkt."

Die Abstinenz beim Frühschoppen war mir zweifellos verübelt worden. Bei einer Geburtstagsfeier aber wurde sie nahezu unter "gesellschaftsschädliche Neigungen" rubriziert. Schon beim Eintritt ging es wieder um den "einen Schluck". Zum Auftakt wurden "Kurze" gereicht. Ich winkte ab. Paßte beim Wein, beim Sekt, bei der Bowle. Zunächst regte es die Festteilnehmer zu allerlei Witzeleien an. Langsam schlich sich Befremden ein. Im Verlaufe des Abends glaubte ich, wachsende Distanz wahrzunehmen.

Eigentlich konnte das nicht verwundern, denn allmählich war ich die einzige Nüchterne im Kreise selig Angesäuselter. Wahrscheinlich wirkte ich auf die lauthals sich zuprostende Jubelgesellschaft stock-steif, grämlich, freudlos. Ihre Wirkung auf mich war naturgemäß anderer Art. Ich hatte die Wahl, sie einem Kindergarten-Jahrgang zuzurechnen oder sie für Mitglieder eines Zirkustrupps zu halten. Letzteres lag näher.

Plötzlich stand Irenes Mann vor mir. Er versuchte, zwei Kelche gerade zu halten. "Wir haben noch nicht miteinander angestoßen. Es ist schließlich mein Geburtstag." Gewiß war es Zufall, daß in diesem Augenblick alle herüberschauten. Es mochte auch Zufall sein, daß Stille eintrat. Die Situation erfüllte mich mit Groll, der sich zum Zorn steigerte, als Irene rief: "Stoß mit Peter auf sein Wohl an. Das eine Glas schadet dir bestimmt nicht." Ich empfand die Aufforderung als Nötigung - und folglich unterlief mir ein Fehler: "Ich will nicht." Peter setzte die Kelche ab. "Ja dann ...", stotterte er.

Ringsum sah ich bestürzte, teils empörte Gesichter. ,Nicht wollen' war entschieden ärger als ,nicht dürfen'. Kein Gran Mitgefühl stand der Nichttrinkerin zu, die sich mutwillig aus der Fröhlichkeitsrunde ausgeschlossen hatte.

Die dritte und vierte Woche veränderte meine Toleranz-Spannweite. Was allerorten geschah, hatte sich in gleicher Weise auch früher abgespielt. Jetzt jedoch erweckte es Widerwillen. Die auf Parkbänken lungernden Penner suckelten wie eh und je den Rotsponfusel aus der Flasche. Nun gut, um deren Eingeweide brauchte sich kein Mensch mehr Sorgen zu machen. Drei fidele Damen in der S-Bahn verbreiteten Alkoholduft. Ich wechselte den Platz. Vor den Bier- und Weinständen in der Fußgängerzone herrschte am hellen Vormittag reger Betrieb. Eine beachtliche Mehrheit der Bevölkerung ließ sich also systematisch - fraglos freiwillig - zum jederzeitigen Konsum "geistiger Getränke" verführen. Wenn mir jetzt jemand die Hand auf die Schulter legte und mich zu "einem Schluck" einlüde, würde ich ihn umbringen, schlankweg, resümierte ich.

Hannes legte mir die Hand auf die Schulter. Zwischen Daumen und Zeigefinger klemmte eine Rostwurst. Er strahlte. "Ist das Medikament zu Ende? Können wir?" - "Nein", fauchte ich. Er trottete in die nächste Bierlaube.

Am Schluß der fünften Woche rief Irene an. Peter sei befördert worden. Ob ich nicht an einem kleinen Umtrunk teilnehmen wolle? "Falls du kannst?" Ich machte es ihr leicht. "Wir holen den Trunk nach, sobald ich wieder in Ordnung bin." Beinahe hörbar fiel ihr ein Stein vom Herzen. Sie erwähnte den mißlichen Vorfall in der Geburtstagsnacht. Noch heute tue es ihr leid. Aber sie müsse mir sagen, daß ich "grundsätzlich provozierend" gewirkt hätte. "Du hast uns beobachtet. Du sahst aus, als hieltest du uns für Verrückte. Jeder mußte denken, du verachtest die ganze lustige Runde." Das saß. Ich preßte heraus, daß sie und ihre Freunde sich irrten. "Natürlich ist es ein Irrtum", gestand sie mir zu. "Doch sympathischer bist du, wenn du mittrinkst."

Sekundenlang schwiegen wir. "Wann ist es vorbei mit den Tabletten?" fragte sie. "In einer Woche." Bevor wir auflegten, sagte sie: "Ruf mich dann gleich an. Vergiß es nicht."

Die sechste Woche bot Gelegenheit, über das Gespräch nachzudenken. Hatte Irene etwa recht? Steckte ein lustbarkeitsabholder, womöglich gar menschenverachtender Wesenszug in mir, der ohne den Freundlichstimmer Alkohol deutlich zutage trat? Es dünkte mich platter Unfug. Zugegeben, ich hatte in Hörweite der Penner "Saufbolde" gezischt und den Hannes samt Rotwurst umbringen wollen. Ich beschloß, den einzigen Menschen zu befragen, der mich lange genug kannte, um ausgewogen antworten zu können.

Mit der Frage wartete ich bis zum siebenten Tag der sechsten Woche. Die letzte Tablette war längst verdaut. Der Abend fiel ein. Eine Flasche Frankenwein stand zum Genuß bereit. Pures Gold schimmerte in den Gläsern. Sachlich betrachtet hatte die Flüssigkeit die Farbe des sattsam genossenen Apfelsafts. Doch der Geruch, der Geschmack! Endlich stellte ich die Frage: "Bin ich dir und der Umwelt auf den Wecker gefallen?" Er rückte die Brille zurecht, die Augen blitzten. "Wie man es nimmt", lautete die Antwort. Er verglich mich mit Bernhard Shaws Heilsarmee-Majorin Barbara, mit penetranten Gesundheitsaposteln, eifernden Sektierern. Oft hatte ich ihn mit der Biographie eines Dichters oder Denkers überrascht, der bei fortwährendem Alkoholflirt an Leib und Nerven erkrankte.

Ich hatte seinen bekömmlichen Abendschoppen mit Blicken bedacht, als stände ein Faß auf dem Zinnuntersatz. Jeder Schluck sei von mir registriert worden. Dabei hatte sich ihm der beklemmende Gedanke aufgedrängt, daß ich die Tropfen durch die Speiseröhre gleiten, im Magen landen und in der Leber verschwinden sehen könne.

Die Greuelaufzählung war beendet. Gemeinsam tranken wir auf das Wohl aller wahrhaft Toleranten. Und ich begehrte gar nicht zu wissen, ob es sie wirklich gibt. Unter den Zechern war mir in den sechs Wochen jedenfalls keiner begegnet.


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