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13.11.04 / Schwenkitten '45 / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / 13. November 2004


Schwenkitten '45
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Ostpreußen 1945 - Der Nobelpreisträger berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten '45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostpreußen im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Alexander Solschenizyn, im Zweiten Weltkrieg Kommandeur einer Schallmeßbatterie, macht die Tapferkeit der Soldaten, die Unfähigkeit der Politchargen und die Not der Zivilbevölkerung zu seinem Thema. Schicksalhafte Ereignisse für Solschenizyn: Noch in Ostpreußen, kurz nach den geschilderten Ereignissen, wurde er verhaftet und in die stalinistische Welt des Massenterrors, in den "Archipel GULag", deportiert. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literaturnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Ab dieser Folge druckt die Preußische Allgemeine Zeitung Solschenizyns neueste, bei Langen-Müller erschienene Veröffentlichung auszugsweise ab.

In der Nacht vom 25. zum 26. Januar erhielt die Geschützbrigade vom Stab der Artillerieeinheit die Meldung, daß unser vorgeschobenes Panzerkorps die Ostsee erreicht hat! Das bedeutet: Ostpreußen ist von Deutschland abgeschnitten!

Abgeschnitten einstweilen nur durch diesen langen, schmalen Keil, hinter dem die Schleppe von Truppen aller Waffengattungen herziehen wird. Aber - die Zeiten, in denen wir zurückwichen, sind vorbei. Ostpreußen ist abgeschnitten. Eingekesselt!

Das, Genossen Politarbeiter, würdet ihr gerne als endgültigen Sieg auffassen. Das muß sich in den Frontzeitungen spiegeln. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis Berlin. Wenn man uns auch nicht dorthin schickt.

Seit fünf Tagen sind wir auf dem Vormarsch durch das brennende Ostpreußen. Und es gab nicht wenig Anlaß zum Feiern. Vor elf Tagen brachen wir vom erweiterten Brückenkopf am Narew auf. Fünf Tage ging es durch Polen, noch unter hartnäckigen Kämpfen. Doch jenseits der ostpreußischen Grenze war es, als sei ein Wundervorhang aufgegangen: Deutsche Einheiten fielen auseinander. Vor uns öffnete sich ein unversehrtes, reiches Land, das uns geradezu in die Hand schwamm. Steinerne Häuser mit hohen, steilen Dächern, Schlaf in weichen Betten, manchmal sogar mit Daunendecken; in den Kellern ungeahnte Köstlichkeiten, Eingemachtes; außerdem unentgeltliche Trinkgelage für den, der findet.

Und wir marschierten durch Ostpreußen in halb rauschhafter Euphorie, büßten die Exaktheit von Bewegungen und Gedanken ein. Nun ja, nach so vielen Jahren der Opfer und Entbehrungen darf man wohl etwas locker lassen. Das Gefühl, Belohnung verdient zu haben, hatte alle ergriffen, bis in die allerhöchsten Offiziersränge, und erst recht die einfachen Soldaten. Sie fanden, was sie suchten, und tranken.

Und tranken noch mehr aus Anlaß der Einkesselung Ostpreußens.

Und am Morgen des 26. Januar waren sieben Brigadefahrer durch Methylalkohol an Krämpfen gestorben, Schlepper- und Lkw-Fahrer, auch ein paar Leute von der Geschützbedienung. Bei anderen hatte es die Augen erwischt.

So begann jener Tag in der Brigade. Die Erblindeten brachte man ins Lazarett. Und Toplew mit dem knabenhaft rundlichen Gesicht, der gerade vom Oberleutnant zum Hauptmann befördert worden war, klopfte an die Tür des Zimmers, in dem Major Bojew schlief, der Kommandeur der 2. Abteilung, um das Geschehene zu melden.

Bojew schlief stets fest, war aber sofort hellwach. Er verfügte hier über ein so wundervolles Bett mit so üppiger Daunendecke, daß er beschlossen hatte, sich auszuziehen. Jetzt stand er in Wollsocken auf dem Teppich und zog die Feldbluse an. Sie war mit Orden übersät: zwei "Rotbanner", "Alexander Newskij", "Vaterländischer Krieg", zwei "Roter Stern". (Zum Teil hatte er die Orden in den Kämpfen gegen Japan 1938 und im Finnischen Winterkrieg erworben, und er hatte auch noch einen dritten Roten Stern, den letzten, der war aber, als er verwundet wurde, verloren gegangen, oder er war ihm gestohlen worden.) So hing ihm die ganze Brust voller Orden, er trug sie alle, hatte sie nicht durch eine Ordensspange ersetzt: eine angenehme Last - einzige Freude des Soldaten.

Toplew, der erst vor einem Monat zum Stabschef der Abteilung ernannt worden war, grüßte vorschriftsmäßig und meldete. Sein Gesichtchen war besorgt, die Stimme kindlich warm. Von ihrer 2. Abteilung waren auch zwei Leute an dem Gift gestorben: Podkljutschnikow und Lepetuschin.

Major Bojew war mittelgroß, hatte einen länglichen Kopf, doch durch den akkurat kurzen Haarschnitt wirkte das Gesicht wie ein in die Länge gezogenes Viereck mit Winkeln am Scheitel und am Kiefer. Die Brauen waren ungleichmäßig und die Nase ein ganz klein wenig zu einer tiefen Wangenfalte gewendet, als sei er in ständiger Anspannung.

Mit dieser Anspannung hörte er die Meldung an und sagte nach einer Weile bitter: "O-och, so was Dummes!"

Bei all den Beschüssen, all den Bombardierungen sind sie unversehrt geblieben, bei so vielen Übergängen, an so vielen Brückenköpfen - um sich in Deutschland am Spiritus zu verschlucken.

Und wo soll man sie beerdigen? Sie haben sich selbst den Ort ausgesucht.

Als sie Allenstein passierte, war die Brigade in Gefechtsstellung gegangen; es war zwar nicht vorgesehen, zu schießen, einfach der Ordnung halber. "Nicht auf dem deutschen Friedhof. Wir werden sie bei der Feuerstellung begraben."

Lepetuschin, das war so einer: redselig, diensteifrig, sanftmütig. Und Podkljutschnikow? Groß, gebeugt. Ein ernster Mushik. Aber hatte sich dennoch verlocken lassen.

Die Erde war hart gefroren und steinig, man konnte nicht tief graben.

Die Särge zimmerte rasch und geschickt unser aus Mari gebürtiger Tischler Sortow aus hiesigen, aufbereiteten Brettern.

Fahne aufstellen? Niemand hatte jemals unsere Fahnen gesehen, außer bei Paraden, wenn die Brigade eine Auszeichnung erhielt. Für gewöhnlich bewahrte man sie irgendwo in der Intendantur auf, in der dritten Staffel, um sie nicht zu gefährden.

Podkijutschnikow hatte zur 5. Batterie gehört, Lepetuschin zur 6. Die Ansprache hielt Gubajdulin, der Partorg. Er war Gegenstand des Gespötts für die ganze Abteilung. Heute war er schon seit dem Morgen betrunken und lallte seine ewigen Phrasen von dem heiligen Vaterland und der Höhle des Untiers, in die wir jetzt eindringen, um Rache zu nehmen.

Der Führer des Geschützzuges der 6. Batterie, der noch sehr junge, aber kräftige Leutnant Oleg Gussew, sah peinlich berührt und angewidert zu. Ist Gubajdulin Partorg geworden, weil politische Ränge so leicht zu durchlaufen waren? Oder dank des übermäßigen Wohlwollens des Brigadekommissars? Vor aller Augen war er im Laufe von eineinhalb Jahren vom Unteroffizier zum Oberleutnant befördert worden. Und jetzt belehrt er alle Welt.

Oleg Gusscew war 18 Jahre alt und seit einem Jahr Leutnant an der Front, der jüngste Offizier in der Brigade. Er hatte so sehr an die Front gedrängt, daß sein Vater, der General, dem noch nicht Volljährigen zur Teilnahme an den Schnellkursen für Offiziersanwärter verhalf.

Jedem nach seinem Geschick. Neben Gussew stand Wanja Ostanin, ein kluger Kopf, er könnte einen Beschuß genauso gut befehligen wie ein Offizier. Doch in den Stalingrader Tagen 1942 wurde aus der Militärschule, in der er sich befand, jeder dritte Kursant an die Front geschickt. Die Kaderabteilung hatte Ostanin ausgesucht, weil seine Personalakte einen "Kratzer" aufwies: "Zugehörigkeit zur Familie eines unbelehrbaren Einzelbauern". Jetzt trug dieser 22jährige - eigentlich Offizier - die Schulterstücke eines Oberfeldwebels.

Der Partorg hatte geendet. Gussew zog es zu den Särgen zwei Schritt vor. Es sollte so nicht enden, so nicht, ach! Aber eine Rede gelang ihm nicht. Mit zugeschnürter Kehle brachte er nur heraus "Weshalb denn so, Brüder, weshalb?"

Die Särge wurden geschlossen. Zugenagelt. An Stricken hinuntergelassen. Mit fremder Erde zugeschüttet.

Gussew mußte an die Bombardierung durch Junkersmaschinen bei Retschiza denken: Da war niemand verwundet worden und kaum etwas beschädigt, nur in den Verpflegungswagen war ein Splitter gedrungen und hatte eine Dreiliterflasche Wodka auslaufen lassen. Wie das die Jungs schmerzte! Kaum weniger als eine Verwundung. Die sowjetischen Soldaten wurden mit Alkohol nicht verwöhnt ...

In die Grabhügel wurden Pfosten eingerammt, vorerst ungestrichen.

Und wer wird sich um die Gräber kümmern? In Polen gab es deutsche Kriegsgräber aus dem Jahr 1915. Ischtschukow, der Nachrichtenchef, hat die Kreuze am Narew ausgraben lassen und zerstört. Rache ... Und niemand sagte einen Ton. Denn bei ihnen stand Larin, der Mann vom Smersch.

Gussew ging an dem bedrückten Soldatenhäufchen vorbei und hörte, wie einer aus seinem Zug von der dritten Geschützbedienung, zu der Lepetuschin gehört hatte, der kleine, lebhafte Jursch, kläglich sagte: "Aber wie soll das denn gehen - sich beim Spiritus zurückhalten, Leute?"

Wie man sich zurückhalten soll? Darin liegt eben die Qual - man denkt, es wird schon nichts passieren. Es war, als habe ein grauer Flügel die Gesichter gestreift. Alle waren bedrückt. Der Geschützführer Nikolajew, auch einer aus Mari, blickte äußerst mißbilligend mit zusammengekniffenen Augen. Er rührte Wodka überhaupt nicht an.

Und das Leben läuft weiter, fordert. Hauptmann Toplew ging in den Brigadestab, um zu erfahren, wie die Todesnachricht abgefaßt werden sollte.

Der magere, hochaufgeschossene Stabschef Oberstleutnant Weressowoj antwortete im Gehen: "Hat der Kommissar schon festgelegt: ‚Starb für die Verteidigung des Vaterlandes den Tod der Tapferen.'" Selbst zerbrach er sich den Kopf, wen er jetzt an das Lenkrad der Wagen setzen sollte, wenn wir aufbrechen.

Der überwältigend rasche Durchbruch unserer Panzer zur Ostsee veränderte das ganze Bild unserer ostpreußischen Operation. Und die Schwere Artillerieabteilung brauchte nirgendwohin zu eilen, wurde heute oder morgen von niemandem benötigt.

Der Brigadekommandeur hinkte seit einiger Zeit. Er hatte einen Abszeß am Knie, und der Brigadearzt hatte ihm geraten, die Sache nicht zu verschleppen, sondern heute ins Lazarett zu gehen und sich operieren zu lassen. Daher war der Brigadekommandeur abgefahren und hatte seinen Stabschef Weressowoj statt seiner zurückgelassen.

Von nirgendwoher Beschuß, auch nicht aus der Luft. Weder bei uns noch bei den Deutschen. Es war, als sei der Krieg zu Ende.

Der Tag war nicht kalt, dicht bewölkt, trübe. Einstweilen wurden die Abteilungen aus ihren festgelegten Feuerstellungen abkommandiert und alle drei beim Brigadestab zusammengezogen.

Leise schlich die Dämmerung herauf. Beim Vordringen in Europa rechneten wir immer noch mit Mos-kauer Zeit. Es wurde daher gegen neun Uhr hell und dunkelte gegen sechs Uhr.

Da kam plötzlich aus dem Stab der Artillerieeinheit der chiffrierte Funkbefehl, alle drei Abteilungen nach Norden in Bewegung zu setzen, nach Liebstadt, und bei Eintreffen entsprechend Feuerstellung sieben bis acht Kilometer östlich zu beziehen. Mit Hauptrichtungswinkel 1.500. Fortsetzung folgt

 

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten '45", Langen Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19.90 Euro

Alexander Solschenizyn: Der 1918 geborene russische Schriftsteller gilt als einer der glaubwürdigsten und unermüdlichsten Kritiker der Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Sowjetreich. Foto: Archiv


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