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20.11.04 / Ist Kant am Badestrand denkbar? / In Rauschen fanden ein Kolloquium und eine Abendveranstaltung zur Philosophie des Ostpreußen statt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


Ist Kant am Badestrand denkbar?
In Rauschen fanden ein Kolloquium und eine Abendveranstaltung zur Philosophie des Ostpreußen statt

Das vielfältige Programm der Samländischen Kulturwoche fand die Zustimmung der russischen Verhandlungspartner, als der damalige Kreisvertreter von Fischhausen, Louis-Ferdinand Schwarz, im August 2003 in Rauschen Vorgespräche mit dem Bürgermeister Walerij Leonidowitsch Alexew und dessen Mitarbeitern führte. Nur der Programmpunkt "Kant" rief Skepsis hervor. Im sommerlichen Rauschen, im Bereich von Badestrand, Bars und Bernsteinständen einen Kant-Abend und ein Kolloquium durchführen zu wollen - das sei elitär, das garantiere nicht das erforderliche Niveau, auch wenn es ein Beitrag zum Kantjahr 2004 sein sollte.

Das ganztägige Kolloquium mit Professor Dr. Iwan Koptzew und Dr. Bärbel Beutner als Moderatorin war eigentlich als Austausch zwischen deutschen und russischen Jugendlichen über deutsch-russische Geschichte geplant. Die Jugendlichen blieben leider aus; sie genossen die Ferien. Aber ein Kreis von über 20 Interessierten der verschiedensten Altersgruppen fand sich ein, darunter eine Dame aus Frankreich, eine Ostpreußin aus Portugal und ein Englisch sprechender Doktor der Ökonomie aus Moskau.

Schon die Vorstellungsrunde stellte Weichen für den Tag. Immer wieder wurde die emotionale Bindung an Ostpreußen angesprochen, durch Herkunft oder die noch in Ostpreußen verbrachte Kindheit. Entsprechend deutlich äußerten alle das Interesse an der heutigen Situation der Region. Eine Dame bringt jedes Jahr Hilfsgüter nach Rossitten ("Ein Sommer ohne Rossitten ist für mich kein Sommer"), eine Dame aus Tilsit konnte berichten, daß in ihrem Elternhaus heute ein Kinderheim ist, und eine russische Teilnehmerin teilte mit, daß sie, Jahrgang 1958, bei ihrer Übersiedlung ins mittlere Ostpreußen 1982 nicht gewußt habe, daß dieses Land einmal deutsch gewesen sei. Heute arbeitet sie als Fremdenführerin und sei "fasziniert von der Geschichte dieses Landes".

Kant durchbrach als erster das Schweigen über die Geschichte. Das Referat von Prof. Dr. Iwan Koptzew gestaltete sich zu einem Vortrag über die Kant-Forschung, in dem deutlich wurde, daß dem großen Philosophen nicht nur die Rettung des Domes zu verdanken ist, sondern auch die intensive Annäherung von Russen und Deutschen und die geistig-kulturelle Entwick-

lung der heutigen Oblast. Auch zur "Zeit der Sperrzone" konnte die sowjetisch-marxistische Ideologie Kant nicht leugnen, so Koptzew. 1981 fand ein interessanter Kongreß aus Anlaß des 200jährigen Erscheinens der "Kritik der reinen Vernunft" statt, bei der Prof. Dr. Gerhard Funcke, der Vorsitzende der deutschen Kant-Gesellschaft, Ehrengast war. 1988 gab es die erste Kant-Lesung aus Anlaß des 200. Jahrestags des Erscheinens der "Kritik der praktischen Vernunft". Die Kant-Tagungen, die die russische Kant-Gesellschaft meist in Rauschen durchführt, werden immer internationaler. Die siebte Kant-Tagung im September 1995 war dem 200. Geburtstag der Schrift "Zum ewigen Frieden" gewidmet.

Ein Höhepunkt war natürlich die Jubiläumsfeier der Albertina 1994, an der 94 Wissenschaftler aus der Bundesrepublik Deutschland teilnahmen. Perestroika hatte dieses "Fest der Wissenschaft", so Koptzew, möglich gemacht. Zum Kant-Jahr 2004 nahmen an der neunten Internationalen Kant-Tagung Philosophen aus der Bundesrepublik, den USA, Großbritannien, der Schweiz, Polen und Finnland teil. Die Königsberger Universität ist zum internationalen Zentrum der Kant-Forschung geworden.

Weitere enge Kontakte zu anderen Universitäten gehen von dem Lehrstuhl für Germanistik aus, so zu Essen-Duisburg und Kiel. 200 Studenten und zahlreiche Lektoren aus Königsberg waren bereits Gäste der beiden Universitäten. Die ostpreußische Literatur findet bei der russischen Germanistik großes Interesse. Es gibt mehrere Diplomarbeiten über Agnes Miegel, und die Erforschung der ostpreußischen Erinnerungsliteratur ist in Planung.

In einem kurzen Streifzug durch die deutsch-russische Geschichte hob Koptzew die Brückenfunktion Ostpreußens und Königsbergs hervor. Nach den Kriegen des 20. Jahrhunderts schien eine Versöhnung nicht mehr möglich, und doch habe die Zeit die Wunden geheilt, und heute sei eine neue Kulturlandschaft am Pregel entstanden.

Der ganze Nachmittag war mit intensivem Gedankenaustausch ausgefüllt, der zwei Schwerpunkte enthielt: Kant und die sozialpolitische Situation seiner Heimat heute. Für die Schwierigkeit der Kantischen Sprache, die sich auch bei der Übersetzung auftut, fand Koptzew eine interessante Erklärung: das mehrfache Subjekt. Kant trete in seinen Texten als empirisches Subjekt auf, das als Werkzeug des Beweises seiner (Kants) Thesen dient, zugleich als Verfasser seines Textes, der den Leser über den Gang seiner Erörterungen orientiert, und als transzendentales Subjekt, das das Allgemeine vertritt. Man müsse alle diese Subjekte berücksichtigen, wenn man Kant liest.

Aus der lebhaften Diskussion über das Gebiet heute ergaben sich mehrere Kernaussagen. Während die ältere Generation konservativer, also der kommunistischen Vergangenheit eher verbunden ist, haben Jüngere ein anderes Geschichtsverständnis und wollen wissen, was hier früher war. Es gibt bereits Diplomarbeiten zum Thema: Wie hießen die Orte in Ostpreußen früher? Die politische Lage des Gebiets ist geprägt von der Abtrennung von Rußland und von der Umzäunung durch EU-Staaten. Eine partielle Integration in die EU, also das Gebiet als Teil Rußlands in die EU zu integrieren, wurde angedacht, aber

Moskau sei dagegen. Der Schmuggel als einziger Verdienst der Arbeitslosen, Korruption, Kriminalität und immer kompliziertere Gesetze beeinträchtigen diese Entwicklung.

Daß es dem damaligen Kreisvertreter Louis-Ferdinand Schwarz gelungen war, den Vorsitzenden der russischen Kantgesellschaft, Prof. Dr. Leonard Kallinikow, für eine Abendveranstaltung zu gewinnen, war schon etwas Großartiges, der Kant-Abend selbst dann ein intellektuelles Erlebnis. Vor unerwartet vielen Zuhörern sprach Kallinikow über "Kant und das 21. Jahrhundert". Da sein Kollege Prof. Koptzew ins Deutsche übersetzte, konnten die Zuhörer aufgrund des "verlangsamten Tempos" gut folgen.

Diese horchten schon auf, als der Referent den russischen Dichter Dostojewskij mit Kant in Verbindung brachte. Dostojewskij habe in seinem Roman "Die Brüder Karamasow" die Antinomien Kants zu lösen versucht. (Eine Antinomie ist beispielsweise, daß sich der Mensch zugleich als Naturwesen und damit abhängig von Naturgesetzen und als intelligibles, geistiges Wesen in Freiheit erfährt.) Wer mit den Ideen Kants nicht vertraut ist, könne nicht in das Wesen von Dostojewskij eindringen.

"Ich möchte unsere Unterhaltung mit einer solchen Idee Kants anfangen", sagte Kallinikow, nachdem er betont hatte, daß die Menschheit ein so konsequentes philosophisches System wie das Kants bis dahin nicht kannte und bis heute nicht kennt. In der "Kritik der reinen Vernunft" und in seiner Anthropologie spricht Kant davon, daß der Mensch in seinem Wesen ein Homo philosophicus sei. Er ist nach Kant das einzige Wesen, das in der intelligiblen Welt und nicht allein in der phänomenalen Welt, der Welt der Erscheinungen, lebt. Indem der Mensch die phänomenale Welt mit Hilfe seines Verstandes - nicht nur mit seinen Sinnesorganen - erschließt, bildet er sie, wird er, so die kühne Schlußfolgerung des Referenten, zum Schöpfer seiner Welt, zum Gestalter, ja zu seinem Gott.

In der Auslegung der Kantischen Erkenntnistheorie tat Kallinikow einen wahrhaft atemberaubenden Schritt. Die Fähigkeit des Menschen, die Dinge wohl mit den Sinnesorganen wahrzunehmen, aber mit den a priori gegebenen Verstandeskategorien Raum und Zeit zu erkennen, führt nach Kant dazu, daß der Mensch das "Ding an sich", also das reine Objekt, nicht erkennen kann. Kallinikow erläuterte, daß Kant die Welt in zwei Teile einteile, in die phänomenale Welt (die Erscheinungen) und die nominale Welt (das Ding an sich). Damit habe Kant das Atom und das Elektron erdacht. "Mit unseren Sinnen und Gefühlen können wir Elektronen nicht wahrnehmen, aber wir leben in einer Welt, in der der Mensch ohne Elektronen nicht auskommen kann. Schritt für Schritt entfernen wir uns weiter von der empirischen (sinnlich wahrnehmbaren) Welt und gewinnen immer mehr von der nominalen Welt."

Die Globalisierungsprozesse zeigen, so der Referent, daß unsere Welt immer mehr eine nominale Welt werde, in der der Mensch, um zu überleben, seine nominalen Anlagen immer mehr einsetzen muß. Damit schließt sich der Kreis, indem der Mensch immer stärker zum Homo philosophicus werden muß. Ein Staat, der nicht philosophisch geprägt sei, gefährde seine Existenz.

Auch für das heutige Rußland sieht Kallinikow die Rettung in der Philosophie Kants, nicht in der Religion. Die Lehren der Kirchen und des Evangeliums enthalten seiner Darstellung nach Denkfehler, so beispielsweise bei der Forderung der Nächstenliebe, die individuelle (und damit auch böse) Eigenschaften einschließe; Kant habe diese Widersprüche aufgezeigt und den Kategorischen Imperativ dagegen gesetzt.

Die Aussagen über die Religion führten in der Aussprache zu dem Hinweis, daß hier die russisch-orthodoxe Kirche hinterfragt werde, während die reformatorisch-lutherische Entwicklung ja gerade die kritische Hinterfragung und die Freiheit des Christenmenschen hervorhebe. Auch kommunistisches Gedankengut wurde hinter den Äußerungen Kallinikows zur Religion vermutet.

Dagegen betonte Kallinikow die positive Bedeutung der Religion zur Stärkung der Sittlichkeit beim einfachen Volk, wenn er auch auf Dauer der kantischen Philosophie die größeren Chancen einräumte, da hier ein in sich logisches System vorliege.

Den Kommunismus aber erklärte er zum radikalen Anti-Kantianismus. Nach Kant ist der Mensch ein Zweck an sich selbst; der Staat ist nur ein Mittel für seine Existenz. Der Kommunismus aber setze die kommunistische Gesellschaft als Zweck und mache den einzelnen Menschen zum Mittel, der sein Interesse auf ein utopisches Ziel richten soll. Der Marxismus, so meinte Kallinikow, sei heute keine ernst zu nehmende Philosophie mehr.

Der Abend zeigte eine Aktualität Kants, wie sie selten mit einer solchen Schlüssigkeit geboten wird. Die Philosophie Kants gibt dem modernen Menschen die Möglichkeit, aufgrund der Definition als Verstandes- und Vernunftwesen zu einer Einheit zu gelangen, die die Grundlage zu globaler Vernetzung und damit zu Freundschaft und Frieden ist. B. B.

 

Teilnehmer am Kant-Kolloquium: Personen der unterschiedlichsten Altersgruppen führte das Interesse an dem Philosophen zusammen. Foto: Beutner


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