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20.11.04 / Voreilige Panik an der Wolga / Russische Bevölkerung wurde lange über Störfall im Atomkraftwerk Balakowo im unklaren gelassen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 20. November 2004


Voreilige Panik an der Wolga
Russische Bevölkerung wurde lange über Störfall im Atomkraftwerk Balakowo im unklaren gelassen

In der Nacht vom 3. auf den 4. November ereignete sich im Atomkraftwerk Balakowo an der Wolga, etwa 800 Kilometer südöstlich von Moskau, um 3.40 Uhr (1.40 Uhr MEZ) ein Störfall. Eine Turbine im zweiten Reaktorblock hatte sich nach dem Austritt von Wasser automatisch abgeschaltet. Laut Angaben der russischen Atombehörde handelte es sich dabei um nicht-radioaktives Wasser, das lediglich zur Versorgung eines Dampfgenerators diente. Der Störfall habe im Inneren des Reaktors stattgefunden, es sei daher weder Wasser noch Dampf ausgetreten, hieß es offiziell.

Augenzeugen berichteten jedoch von einer weißen Wolke, die sich über den Reaktoren gebildet haben soll. Die Kunde von einem Unfall im Atomkraftwerk breitete sich wie ein Lauffeuer aus, die Menschen in Balakowo, im 200 Kilometer entfernten Saratow sowie in der gesamten Region gerieten in Panik. Zu deutlich waren ihnen noch die Erinnerungen an Tschernobyl, daran, wie die Bevölkerung damals belogen wurde, an mißgebildete Kinder und Tiere sowie Krebserkrankungen.

Die Balakowsker Umweltschützerin Anna Winogradowa erzählte Redakteuren der Tageszeitung Kommersant: "Die ganze Stadt stand Kopf. Vorgesetzte erzählten ihren Mitarbeitern von dem Unfall, die sofort ihre Verwandten anriefen. Alle Telefonleitungen waren besetzt. Die Leute rieten sich gegenseitig, Wasser zu trinken und Jod einzunehmen und auf keinen Fall Wasser aus der Leitung zu trinken."

Laut mehreren Zeitungsberichten sollen auf einer Internetseite unabhängiger Journalisten Informationen veröffentlicht worden sein über vier Tote und 18 Verletzte, die Verbrennungen unterschiedlichen Grades erlitten haben sollen. Allerdings scheint diese Internetseite "http//:aesbalakovo.narod.ru" überhaupt nicht zu existieren, oder sie wurde inzwischen entfernt.

Durch solche Nachrichten wurden die panischen Reaktionen noch verstärkt. In einigen Kindergärten sollen die Erzieher den Kindern vorsorglich Jod-Kalium-Tabletten eingeflößt haben, die Apotheken waren schon am Abend des 4. November durch Hamsterkäufe um ihre Vorräte an Jod und jodhaltigen Präparaten gebracht worden. Wo es ging, bevorrateten sich die Menschen mit Jod und Alkohol, sie versuchten, aus vermeintlich schon verseuchten Gebieten herauszukommen. In der Folge mußten viele Firmen geschlossen bleiben, weil sie ihre Mitarbeiter, die versuchten, ihre Familien in Sicherheit zu bringen, nicht aufhalten konnten. In vielen Dörfern weigerten sich die Bauern, ihr Vieh auf die Weide zu treiben.

Was verwundert, ist, daß die Verantwortlichen offensichtlich aus Tschernobyl wenig gelernt haben. Von offizieller Seite hielt es niemand für nötig, die Bevölkerung darüber aufzuklären, was in der Nacht vom 3. auf den 4. November im Atomkraftwerk Balakowo tatsächlich passiert war. Erst am Abend des 4. November trat der Chef des örtlichen Katastrophenschutzes vor die Kameras eines Regionalsenders und forderte die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Eine Erklärung zu den Ereignissen gab er nicht ab.

Erst am 5. November gaben die Behörden eine offizielle Erläuterung zu dem Störfall. Nach dieser Version war ein Leck in der Leitung eines Dampfgenerators im zweiten Reaktorblock für die automatische Abschaltung durch das Sicherheitssystem verantwortlich. In diesem Reaktorbereich befänden sich keine radioaktiven Zonen, so daß es sich um absolut sauberes Wasser gehandelt habe. Die Atomkraftwerkbetreiber sprächen daher auch nicht von einem Unfall, sondern von einer "außerplanmäßigen Situation", bei der zu keiner Zeit Radioaktivität ausgetreten sei. Hinter der Panikmache übers Internet vermuteten die Behörden Kräfte, die möglicherweise politische Ziele verfolgten. In der Region gibt es neben Greenpeace auch andere Umweltschutzorganisationen, die vor den Gefahren russischer Atomkraftwerke warnen.

Ein Mitarbeiter des Pressedienstes des AKW reagierte auf die Panik der Menschen mit Journalisten-Schelte. Seiner Meinung nach hätten sie die Menschen beruhigen müssen, anstatt sie mit Berichten über technische Details zu beunruhigen.

Am 9. November ging der inzwischen reparierte Reaktor wieder ans Netz. Das Atomkraftwerk in Balakowo gehört zur dritten Generation mit dreifachem Sicherheitssystem. Seine Reaktoren sind mit hermetischen Hüllen ausgestattet, die das Austreten von Radioaktivität verhindern sollen. Das System gilt in Rußland als sicher. Dennoch schenkten die in Panik geratenen Menschen ihren Behörden keinen Glauben.

Anstatt sich für einen besseren Katastrophenschutz mit Sicherheitsübungen und Aufklärung der Bevölkerung einzusetzen, forderte Sergej Kirijenko, bevollmächtigter Präsident der Wolgaregion, die Bestrafung der Panikverursacher wegen der "Verbreitung unwahrer Mitteilungen über Terrorakte". Die künstliche Panik habe eine Bedrohung für die Gesundheit der Bevölkerung dargestellt. Da viele vorsorglich Jod in zu hohen Dosen eingenommen hatten, mußten etwa zehn Menschen in Krankenhäusern behandelt werden.

Die einzige Zeitung, die ausführlich über den Störfall in Balakowo berichtete, war die Wirtschaftszeitung Kommersant. Die übrigen Medien brachten, wenn überhaupt, lediglich Kurzmeldungen. Ein Beweis dafür, daß die Verantwortlichen in Rußland es immer noch vorziehen, Katastrophen unter den Teppich zu kehren, statt sich offensiv damit auseinanderzusetzen. MRK


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