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27.11.04 / Frage des Gewissens

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. November 2004


Frage des Gewissens
von Klaus Weidich

Geboren bin ich in einem jener Kriegswinter weit im Osten unseres Landes, und die ersten vagen Ansätze von Erinnern sind eine klagende Rastlosigkeit, die mich plötzlich umgab. Hier und da auch das schrille Wiehern über-beanspruchter Pferde. Dazu viele fremde Menschen und allerlei Kreatur, welche mit großen und ratlosen Augen plötzlich das Umfeld ausfüllten. Jedoch drang dieses alles ohne schmerzende Schärfe und erkennbare Grausamkeit an die kindliche Wahrnehmung. Schließlich klafft eine besänftigende Lücke in den Erinnerungen, die sich erst wieder verdichten, als Mutter das Feuer in dem kleinen Öfchen nicht zum Brennen bekam. Noch heute spüre ich den beißenden Geruch in meiner Nase.

Und dann endlich nach vielen Tagen sah ich Mutter lächeln. Aber dieses Lächeln in Mutters Gesicht schreckte mich mehr als all ihre bitteren Worte. Denn noch nie, so weit meine Erinnerungen reichten, hatte ich Mutter damals lächeln gesehen. Aber dafür stand auch plötzlich dieser fremde Mann in unserer Stube, strich mir gleich mit seinen Händen über das Haar. "Erschrecke dich nicht, Kind", sagte er, "aber mein rechtes Bein liegt irgendwo im fremden Land."

Mutter gab sich wie toll, und für eine Weile glaubte ich, sie sei um ihren Verstand gekommen. Sie lachte und weinte zur selben Zeit. Dazu klammerte sie sich wie unklug an diesen fremden Mann und küßte immer und wieder in dieses bärtige Gesicht hinein. Erst als sie sich satt geküßt hatte, fragte sie: "Aber Junge, erkennst du deinen Vater nicht?"

Vater hatte Glück. Schnell fand er wieder Anstellung in seinem früheren Beruf. Oftmals kam er erst spät aus der chemischen Fabrik zurück. "Sie arbeiten an einer neuartigen Mischung", erklärte Vater, "und wir im Labor tragen dabei die Hauptlast der Arbeit." - "Macht sie dir wenigstens Spaß, diese viele Arbeit?" fragte Mutter. Vater nickte: "Natürlich, der Chef erkennt ja meine Leistung an."

An einem Tag im Advent sah ich dann den Mann im grauen Nadelstreifenanzug. In einem winzigen und spärlich erleuchtetem Schaufenster drehte eine elektrische Eisenbahn ihre einsamen Runden, und ich drückte mir die Nase an dem Fensterglas platt. Plötzlich stand der Mann in dem grauen Nadelstreifenanzug neben mir. Auch er schien mit fast kindlichem Vergnügen die Eisenbahn zu betrachten. Schließlich drehte er sich zu mir um und fragte: "Na, so etwas bekommst du sicherlich zu Weihnachten geschenkt?" Etwas verschämt schüttelte ich den Kopf: "So viel Geld haben meine Eltern nicht", gestand ich ihm. "Oh!" machte der Mann nur, "hat denn dein Vater keine Arbeit?" - "Doch, er arbeitet drüben in der chemischen Fabrik, aber Mutter sagt, das Geld reiche hinten und vorne nicht."

In den Augen des Mannes ging urplötzlich eine seltsame Veränderung vor sich, sie zogen sich spaltbreit zusammen und es schossen nun lauernde Blicke aus ihnen. "Ach so, ach so", sagte er wie nebenher, um gleich zu fragen: "Erzählt dein Vater zu Hause nichts von der Arbeit, spricht er mit deiner Mutter nicht darüber, hast du sie noch nicht belauscht?" - "Nein", schüttelte ich den Kopf, "Vater spricht nicht viel von seiner Arbeit und Mutter fragt auch nichts ..."

Fast jedesmal, wenn in den Adventswochen eine neue Kerze angezündet wurde, übermannte Mutter eine salzschmeckende Trostlosigkeit. Zuerst weinte sie nur immer still vor sich hin. Doch wenn ich mich erschrocken an sie drückte, begannen augenblicklich auch ihre Schultern zu beben. "Mutti ... Mutti ...", schluchzte nun auch ich. Und so weinten wir beide. Weinten, bis irgendwann Vater in die Stube stampfte.

Der heftige Tränenstrom schien Mutter aber auch Erleichterung zu verschaffen. Denn nach den Tränen schienen ihre Augen wieder heimliches Lächeln zu spiegeln.

An einem der Abende lag ich schon längst zu Bett, als Vater endlich kam. Seine Stimme klang anders als sonst und Mutter fragte auch sogleich: "Hast du getrunken?" Vater schien außer sich vor Empörung zu sein.

"Stell dir vor", sagte er zu Mutter, "auf dem Nachhauseweg stieß ich mit einem feinen Herrn zusammen, er trug einen grauen Nadelstreifenanzug. Wir stießen heftig zusammen, und dabei muß etwas mit der Prothese passiert sein, kaum daß ich danach noch gehen konnte. ‚Oh!' bat der Fremde um Verzeihung und lud mich danach in die nahe Gaststätte ein, damit ich nach der Prothese schauen konnte."

Vater schwieg eine Weile. "Weiter ... weiter ...!" forderte ihn Mutter auf. "Na ja, der Fremde spendierte einen Schnaps nach dem anderen und zu erzählen verstand er gut ..." - "Nun rede doch weiter!" drängte Mutter erneut. Vater schluckte schwer. "Vielleicht glaubte der Lump, ich wäre schon betrunken genug, denn gleich beim nächsten Satz bot er mir viel, viel Geld an ..."

"Viel Geld - wofür?" fragte Mutter.

"Für das Geheimnis der Mischung. - Ich sollte ihm das Firmengeheimnis verraten."

"Und ...?" fragte Mutter. "Den Schnaps habe ich ihm ins Gesicht gegossen", sagte Vater zornig. -

Dann endlich war der Heilige Abend da. Weihnachten 1949. Mutter hatte etwas gespart, und es gab für jeden eine Wurst mit Salat. Auf einem besonderen Teller lag für mich auch etwas Naschwerk. Für Vater gab es selbstgestrickte Strümpfe. Und Gott sei Dank: Mutter weinte nicht, das war eigentlich die schönste Bescherung.

Plötzlich hörten wir Schritte im Treppenhaus. Jemand fragte nach unserem Namen. "Die wohnen ganz oben", antwortete man ihnen. Dann klopfte es an der Tür.

Mutter öffnete die Wohnungstür. Zuerst sah ich den Mann im grauen Nadelstreifenanzug. Hinter ihm trat noch jemand durch die Tür. "Oh Gott, mein Chef", flüsterte Vater.

Der Chef schien reichlich verlegen zu sein, als er Vater die Hand reichte. "Ich möchte Ihnen danken und gleichzeitig auch um Verzeihung bitten", sagte er zu Vater, "aber ich habe Sie die ganze Zeit nur an einem Scheinprojekt arbeiten lassen. Doch das Geheimnis der Mischung werden Sie nach den Feiertagen erfahren - jetzt wo Sie allen Verlockungen widerstanden haben." Dabei deutete er lachend auf den Mann im Nadelstreifenanzug herüber. "Das ist übrigens der Doktor Gerhard aus

einem unserer Zweigwerke. Ich bat ihn diesbezüglich, Sie auf die Probe zu stellen."

Auch der Mann im grauen Nadelstreifenanzug reichte Vater nun die Hand. Er lachte mit breitem Gesicht. "Die Probe haben Sie übrigens mit Bravour bestanden, Herr Kollege, mir brennen heute noch die Augen von dem Schnaps!"

Was dann weiter noch zwischen den Erwachsenen gesprochen wurde, das weiß ich nicht. Denn ich machte mich über die zwei großen Pakete her, welche die beiden Männer mir zugeschoben hatten.

Und das hätte ich fast vergessen noch zu sagen: Eine elektrische Eisenbahn war auch noch in einem der zwei großen Pakete ...

Bunte Angebote: Gerade in den Wochen vor Weihnachten ist Spielzeug jeder Art besonders gefragt. Foto: Archiv


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