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04.12.04 / Das knallrote Feuerwehrauto

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. Dezember 2004


Das knallrote Feuerwehrauto
von Heinz Kurt Kays

Seit am ersten Advent die Sternsinger mit ihren bunten Papierlaternen durch Jablonken gezogen waren, wartete Walter Libuda mit wachsender Ungeduld auf das Christkind. Die Zeit ging ihm viel zu langsam dahin. Aber es half alles nichts, noch an drei weiteren Sonntagen kamen die Chorsänger auf der schneeverwehten Dorfstraße daher und stimmten vor jedem Haus ihre Vorweihnachtslieder an, eines davon sogar in masurischer Sprache. So wollte es der in der damaligen Zeit geltende uralte Brauch.

Dem konnte das Walterchen, wie er von Eltern und Geschwistern sowie vor allem von seiner Großmutter liebevoll gerufen wurde, nicht eben viel abgewinnen. Denn er war sozusagen ein ‚Gnurpel' von noch nicht einmal sieben Jahren und saß erst seit vergangenen Ostern auf der Schulbank. Was Wunder, daß er solche Singerei kaum zu würdigen wußte. Außerdem - er mußte immerzu nur an seinen Wunschzettel denken, den er längst bei Muttchen abgeliefert hatte.

An erster Stelle stand dort in leicht krakeliger Kinderschrift: "Feuerwehrauto". Walterchen hatte es in jenem Katalog gesehen, den ein bereits damals überaus bekanntes Versandhaus weit vor der Adventszeit an die meisten Haushalte in Ostpreußen zu verschicken pflegte. Eines dieser bunten und dickleibigen Druckwerke war bei der Familie Libuda gelandet und hatte sofort seine Aufmerksamkeit erregt. Das Gefährt, das man auf der Abbildung in allen Einzelheiten bewundern konnte, war knallrot lackiert. Es besaß eine ausfahrbare Leiter sowie an jeder Seitentür eine Schlauchrolle, aus deren Mundstück sich wirklich und wahrhaftig echtes Wasser verspritzen ließ. Man mußte zuvor nur den ebenfalls vorhandenen Tank auffüllen. Auf dieses Wunderwerk von Spielzeug wartete der Gnurpel Walter mit von Tag zu Tag steigender Inbrunst.

Und dann wurde es tatsächlich Heiligabend. Walterchen stand in aller Herrgottsfrühe auf, trank seine Morgenmilch und wußte dann nicht recht, wie er mit den vor ihm liegenden Wartestunden fertig werden sollte. Zum Glück erschien aber sein Vetter Heini, der nur zwei Häuser weiter wohnte. Einträchtig trabten die beiden zum Kirchberg, wo es eine Rodelbahn gab. Inmitten der übrigen Jugend von Jablonken verging die Zeit wie im Flug und Walterchen vergaß selbst das so heiß ersehnte Feuerwehrauto.

Das fiel ihm erst wieder ein, als er daheim am Mittagstisch saß. Und umgehend verlor er jeglichen Appetit. Seine Blicke wanderten immer wieder zu der großen Wanduhr, deren Perpendikel an diesem Tag besonders langsam hin- und herschwang. Und der Zeiger auf dem Zifferblatt des Regulators schien überhaupt nicht vorrücken zu wollen.

Schließlich bemerkte Oma Libuda die Unrast ihres Enkels. Sie ließ die Stricknadeln für ein Weilchen ruhen und sagte: "Jungchen, mal' doch ein Bild vom Weihnachtsmann. Oder von einem Tannenbaum mit Glaskugeln und Kerzen. Das kannst doch so gut und denn vergeht die Zeit viel schneller." Dann lehnte sie sich an den warmen Kachelofen, seufzte zufrieden und bald klapperten die Nadeln wieder und der schafwollene Strumpf, den sie in Arbeit hatte, wurde länger und immer länger.

Ihr Enkel Walter aber zuckte nur verdrießlich die Schultern. Seit Anfang Dezember hatte er nahezu an jedem Tag einen Weihnachtsmann gezeichnet, immer mit Zipfelmütze, mit pelzbesetztem Mantel, mit langem Bart, die Rute in der Hand und den Sack mit Geschenken auf dem

Buckel. All diese ‚Gemälde' lagen aufgestapelt in einer Schublade neben den Buntstiften. Und Tannenbäume gab es dort ebenso reichlich, stets mit goldenem Stern an der Spitze und mit viel glitzerndem Lametta.

Nun mochte er nicht mehr malen. Ein Blick zur Wanduhr zeigte ihm, daß es noch gut drei Stunden dauerte bis zur Bescherung. Im dämmrigen Flur blieb er unschlüssig stehen, zufällig genau vor der guten Stube. Dort stand sicher der bereits geschmückte Weihnachtsbaum. Und dort würde vielleicht gerade in diesem Augenblick das Christkind die Geschenke bringen. Ob er wohl einen Blick durch das Schlüsselloch riskieren sollte? Fast hätte er es getan, doch dann schoß ihm ein schreck-licher Gedanke durch den Kopf.

Bei den Kindern in Jablonken war nämlich der Glaube verbreitet, daß ausgerechnet zu Weihnachten ganz fürchterliche Dinge passieren konnten. Seit Generationen wurde den lieben Kleinen eingetrichtert, daß für bestimmte Vergehen allerlei Strafen drohten. Das Allerschlimmste geschah denen, die das Christkind heimlich bei seiner Tätigkeit beobachteten. Die wurden auf der Stelle blind! Weiter hieß es sogar, vorzeitig ausspionierte Weihnachtsgeschenke würden verschwinden und an jene braven Kinder weitergeleitet, die ihre Neugierde gezügelt hätten.

Natürlich wußte auch Walter Libuda, der siebenjährige Gnurpel, über solche Geschichten Bescheid. Und dieses Wissen hinderte ihn daran, in die gute Stube zu linsen. Wenigstens vorläufig, denn schon ein halbes Stundchen später stand er wiederum vor der verbotenen Tür. Und diesmal siegte die brennende Ungeduld über alle Drohungen. Nur mal eben so gucken, dachte er bei sich, wird bestimmt nicht schiefgehen. Und schon preßte er sein Gesicht gegen das lockende Schlüsselloch.

Schemenhaft erkannte er den geschmückten Weihnachtsbaum. Und undeutlich sah er einige Päckchen, die zur Bescherung bereitlagen. In einem davon schimmerte es leuchtend Rot. Ist sicher das Feuerwehrauto, freute er sich, um dann blitzschnell zu verschwinden. Denn er hörte, daß die Küchentür geöffnet wurde. Seine Schwester Elfriede erschien auf dem Flur. Sie summte "Oh du fröhliche, oh du selige ..." vor sich hin und sah Walterchen zum Glück nicht. Der war in das Zimmer geflitzt, in dem Oma Libuda mit ihrem Strickzeug saß. Sie war auf der Ofenbank eingenickt und bemerkte deshalb ihren Enkel nicht. Walter war heilfroh darüber, denn es war ihm überhaupt nicht wohl zumute, da ihm einfiel, was die Erwachsenen so alles erzählten. Nun galt es, herauszufinden, was an den Geschichten dran war. Fest drückte er beide Augen zu, dann blinzelte er erst mit dem linken, dann auch mit dem rechten. Welch ein Glück, er konnte alles ganz deutlich sehen!

Der Gnurpel war beruhigt, jedoch nur für kurze Zeit. Denn er erinnerte sich, daß er das Christkind ja nicht erblickt hatte. Also war er nie in Gefahr gewesen, blind zu werden! Was aber passierte nun mit dem Feuerwehrauto? Aus dem einen Karton hatte es rot geglänzt, er hatte es deutlich bemerkt. Hier also drohte Schlimmes. Nicht auszudenken, wenn das heiß ersehnte Spielzeug tatsächlich verschwunden und unter einen anderen Tannenbaum gelegt worden war!

Walterchen mußte zugegeben heftig schlucken. Doch es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Bescherung abzuwarten. Zum Glück dauerte es nur noch kurze Zeit. Punkt sechs Uhr tönte Glockengeklingel aus der guten Stube. Walterchen stürmte sofort los, dicht gefolgt von Schwesterchen Elfriede. Selbst Oma kam hinterher, so schnell die Schlorren wollten. Im Weihnachtszimmer standen die Eltern Libuda neben dem funkelnden und strahlenden Tannenbaum. Und überall lagen bunte Geschenkpäckchen.

Bevor sich der Gnurpel aber darauf stürzen konnte, hielt ihn die Mutter mit ausgebreiteten Armen auf. "Nei, nei, du Lorbaß", sagte sie, "erst wird gesungen." Und stimmte helltönend an: "Stille Nacht, heilige Nacht". Walterchen brummte reichlich widerwillig mit, doch er mußte auch noch alle Strophen von "Ihr Kinderlein kommet" über sich ergehen lassen, bevor er sich endlich seinen Geschenken widmen durfte. Und er fand so allerlei: Der Bauernhof vom vergangenen Jahr hatte sich um etliche aus Holz geschnitzte Tiere vergrößert. Neu war eine Eisenbahn, die im Kreis fuhr, wenn man sie aufzog. Ein schönes Märchenbuch war vorhanden, eine Trommel ebenso. Und Oma hatte ihm einen warmen Winterschal gestrickt. Dazu kam der bunte Teller mit Marzipan, mit Schokolade und mit Lebkuchen. Nur eins war nicht da: das erhoffte knallrote Feuerwehrauto!

Walter Libuda hätte am liebsten losgeheult. Doch er biß auf die Zähne und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er war ja selbst schuld an diesem Fiasko. Wäre er nicht so neugierig gewesen, dann ... Er mochte nicht zu Ende denken. Mühsam tat der Gnurpel so, als sei alles bestens. Doch das war schwer, unheimlich schwer. Am ersten Weihnachtstag sollte es noch schlimmer kommen. Denn Heini erschien zu Besuch und präsentierte voller Stolz das knallrote Feuerwehrauto, welches er auf dem Gabentisch vorgefunden hatte. Walter war wie vor den Kopf geschlagen. "Hast also nicht geguckt durchs Schlüsselloch?" wollte er wissen. Vetter Heini schaute ihn nur verständnislos an.

Der Gnurpel Walter Libuda hat danach nie mehr versucht, die Weihnachtsgeschenke auszukundschaften. Und seine Kinder und Enkel haben dies auch nicht getan, obwohl sie fern von Jablonken aufwachsen mußten. Doch sie kannten alle die Geschichte von dem verschwundenen, knallroten Feuerwehrauto. Ihr Vater und Großvater hat sie ihnen gar oft erzählt.

Konsumrausch: Die Warenhäuser bersten in diesen Wochen vor Weihnachten geradezu vor verlockenden Geschenken. Und die Wünsche der Kinder sind keineswegs immer so bescheiden wie die des kleinen Walterchen. Foto: Archiv


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