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04.12.04 / Als Vaters "Pelzgefütterte" verschwanden

© Preußische Allgemeine Zeitung / 04. Dezember 2004


Als Vaters "Pelzgefütterte" verschwanden
von Horst Mrotzek

Als der "Ritter vom goldenen Schuh" noch keine Seltenheit war, als Pferdestärken noch die Stärke der Pferde waren, als die Landstraße ihre nüchterne Schwester Autobahn noch nicht zu dulden brauchte, als zu einer erfolgreich abgeschlossenen Handwerksausbildung noch die Wanderschaft gehörte - da durfte der Wenktiner auf der Landstraße nicht fehlen. Ein solcher Landstreicher war nicht immer gern gesehen; oft mußte er vor bissigen Hofhunden Reißaus nehmen und die Gegenwart eines Gendarmen meiden - oft wurde er jedoch auch gastlich aufgenommen.

Unseren Hof suchte zwei- bis dreimal im Jahr ein Bettler auf. Blieb er länger aus, so hörte ich meine Mutter sagen: "Ihm wird doch nichts passiert sein?" Traf er endlich ein, so erwartete ihn meistens eine dicke, schmackhafte Erbsensuppe, die er sich munden ließ. Ein paar Groschen aus Mutters Haushaltskasse wanderten obendrein als "milde Gabe" in seine Tasche. Gelegentlich erhielt er auch etwas gebrauchte Kleidung. Bei uns hatte er den Spitznamen "Tropfnase" - aus erklärlichen Gründen.

Lieber Leser, du wirst erkannt haben, daß unsere "Tropfnase" kein gewöhnlicher Bettler war. Er war ein Original - nur so kann man es erklären, warum die Geschehnisse um und mit ihm in unserer Familie so nachhaltig waren.

Seinen letzten Besuch im Jahr machte "Tropfnase" gewöhnlich in den Wochen vor dem Weihnachtsfest. Mein Vater hatte schon die pelzgefütterten Stiefel hervorgeholt, denn wir hatten einen frühen und recht kalten Winter. Für uns Kinder begannen die Freuden in Schnee und Eis, täglich endend an einem warmen Kachelofen. Für die Leute auf der Landstraße - wie für unseren Gast - begann die Zeit der kalten Füße. Wo er überwinterte, konnten wir nie erfahren. Vielleicht fand er Unterschlupf in einem Obdachlosenasyl oder ein "Kavaliersdelikt" brachte ihn für ein paar Wochen ins Gefängnis.

Jedenfalls machte er wieder mal seinen Weihnachtsbesuch bei uns. Sättigte und wärmte sich; bedankte sich für die klingende Münze, die diesmal besonders reichlich ausgefallen war und verschwand mit einem gemurmelten: "Frohes Fest!"

Aber - mit ihm verschwanden auch die "Pelzgefütterten" meines Vaters. Wir waren uns alle einig: "Tropfnase" hatte sie mitgehen lassen. Als mein Vater von dem Mißgeschick erfuhr, war es natürlich aus mit der vorweihnachtlichen Stimmung. Es gab ein Donnerwetter über den Kerl, doch seine Abwesenheit machte uns Unbeteiligte zum Blitz-ableiter. Mutter versuchte, die Wogen zu glätten und tröstete: "Er hat sie doch notwendiger als du. Zu Weihnachten bekommst du ein paar neue, viel schöner als deine alten."

Nichts half - Vater wollte seine Pelzgefütterten wiederhaben. Auch wir Kinder waren "Tropfnase" wegen der verdorbenen Weih-nachtswoche gram. Hie und da fiel das böse Wort "Dieb!"

Der Heilige Abend war da, und niemand wußte so recht etwas damit anzufangen. Trotz aller schönen Vorbereitungen war der häusliche Friede noch nicht eingekehrt. Was sollte werden? Das weite Land lag eingepackt in pulvrigem Schnee. Alles, was darunter lag, war fürsorglich zugedeckt, damit nichts zerbreche. Menschliche Schritte, gedämpft durch den weißen Teppich, störten die festliche Stille kaum. Sterne strahlten ihren Glanz auf die Erde hernieder. Liebe und Friede waren eingekehrt unter den Menschen. Und das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht!" war Mahnung für Gute und Böse.

Wir hatten uns zum Kirchgang fertig gemacht. Als Vater das Haus verließ, hörte ich ein Stolpern auf der Steintreppe; gleich darauf sah ich ihn schemenhaft im Mondlicht, in der Hand etwas Unförmiges haltend.

"Meine Pelzgefütterten sind wieder da", rief er freudig. Er zog sie sofort an, und erst dann ging es zur Kirche. So war es doch noch eine fröhliche Weihnacht geworden. Vater hatte das schönste Weihnachtsgeschenk; vielleicht weniger wegen der Stiefel, sondern mehr noch, weil er den Glauben an die Ehrlichkeit unseres Gelegenheitsgastes wiedergefunden hatte.

Erst viele Jahre später erfuhr ich des Rätsels Lösung: Mutter hatte, wie schon so oft, als guter Engel gewirkt. Sie hatte "Tropfnase" während einer Einkaufsfahrt in der Stadt entdeckt und hatte ihm die pelzgefütterten Stiefel gegen ein paar nagelneue abjagen können. Aber das hat mein Vater wohl nie erfahren.


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