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18.12.04 / Eine lästige Laune

© Preußische Allgemeine Zeitung / 18. Dezember 2004


Eine lästige Laune
von Esther Knorr-Anders

Fertig?" fragte sie. "Gleich." - "Schön hast du das gemacht." Er trat vom Tannenbaum zurück. Die Kugel, die er noch in der Hand hielt, befestigte er im unteren Geäst. Er begann die Kerzen aufzustecken. Wenn er sich bückte, lief sein Gesicht an. Es wird sich herausstellen, daß er ein Leberleiden hat; er kommt mit dem Streß nicht zurecht, dachte sie.

Um ihm eine Freude zu machen, ging sie näher und betrachtete den Baum von allen Seiten. Er hatte ihn vor der Tür zur Terrasse plaziert und so fiel ihr Blick in den Garten. Dort wuchsen genug Tannen. Oder waren es Fichten? Der Schnee im Becken der Fontäne wässerte, aber die Eiszapfen am Dach des Pavillons hielten noch.

Sie sah, daß er Päckchen rings um den Baum legte. Später griff er nach einem Rauschgoldengel. "Wollen wir ihn wieder dazusetzen?" fragte er. "Wir hatten ihn schon im vorigen Jahr. Die Flügel sind etwas zerknittert." Er setzte den Engel dazu. "Sieht es gut aus?" - "Bezaubernd", antwortete sie.

Er sammelte die Splitter einer beim Schmücken zerbrochenen Kugel vom Teppich. Behielt sie in der Hand. Blies die größte Scherbe an. Sie bewegte sich.

"Genau gesehen, ist Weihnachten ein recht zwiespältiges Fest. Aber je älter man wird ... nun, sagen wir, um so liebreicher und herzerwärmender wird es."

Er nickte ihr zu. Gleich darauf hörte sie ihn in der Küche, am Kühlschrank. Hörte das Aneinanderklirren von Flaschen. Er prüfte die Weintemperatur. In wenigen Minuten würden die Glocken der Stadtkirche zu läuten beginnen.

Sie ging ins Schlafzimmer, um die Tasche zu holen, in der sich die Geschenke für ihn befanden. Sie entdeckte die Tasche nicht gleich. Er hatte seinen Bademantel darüber geworfen. Sie legte den Mantel zur Seite. Öffnete die Tasche. Nahm die Päckchen heraus, eins nach dem anderen. Hübsch hatten die das verpackt. Dann fühlte sie, zwischen Portemonnaie und Kosmetikbeutel das andere Päckchen. Jenes mit dem Anhänger: "In Liebe für Sascha". Ein leiser Schrecken überlief sie. "Wie dumm", murmelte sie.

Er hieß nicht Sascha. Sie nannte ihn so, weil klangfremde, lautmalerische oder lauthemmende Vornamen vom Unterbewußtsein nicht verwechselt werden können. Noch immer hielt sie das Päckchen in der Hand.

Sie sah, daß ihr Mann mit einem Wachsstift die Kerzen anbrannte, vorschriftsmäßig von der Spitze des Baumes nach unten.

Sie hörte, daß die Glocken der Kirchen der Umgebung zu läuten anhuben, demnach mußte es 19 Uhr sein.

Sie dachte, daß sie um 13 Uhr verabredet gewesen war, in der Wohnung, die sie gemietet hatte, im Hochhaus, in dessen Wabe ein Mensch nicht nur ungestört beischlafen, sondern auch unauffindbar sterben konnte, der Abgeschiedenheit wegen; um 11 Uhr hatte sie die Geschenke gekauft, darunter dieses; und hatte beim Friseur die Verabredung vergessen.

Sie riß den Anhänger ab, zerschnipselte ihn, ließ die Schnipsel in den Kosmetikbeutel gleiten. Ihr Mann winkte ihr mit dem Wachsstift zu. Er erblickte das Päckchen. Lachte. Deutete auf sich. Da schob sie es zu den anderen. "Eigentlich habe ich schon genug Uhren", würde er nachher sagen. Darauf mußte sie antworten: "Aber noch keine von mir ausgesuchte."

Sie legte sämtliche Päckchen neben das Weinglas ihres Mannes. Der Gedanke, daß er, wenn sie ihn aufgefordert hätte, die Päckchen selbst aus der Tasche zu nehmen ... daß er, ein spaßloser Mensch, den Anhänger in der Hand gehalten hätte und las und schlußfolgerte, stimmte sie unfreundlich.

Zu welcher Unüberlegtheit hatte sie sich verleiten lassen; sie, die als äußerst sensibel bekannte Frau eines äußerst erfolgreichen Anwalts. "In Liebe für Sascha." Kaum verständlich, daß ihr dies passiert war. Allerdings war er beim letzten Treffen unmanierlich aufgeregt gewesen. Eifersüchtig, vermutete sie; und in jenen Schluchten wird es ohnehin unordentlich. Nein, sie hätte sich zu einer Verabredung am Weihnachtsmittag nicht überreden lassen dürfen. Es mußte dem adretten, kultivierten, jungen Mann doch möglich sein, einzusehen, daß familiäre Verpflichtungen stets den Vorrang haben. Er würde es später genau so handhaben müssen.

Aus ansehnlicher Familie kam er. Was hatten die ihm nur beigebracht? Es war gesellschaftsnotwendig, zwischen einer Verhältniswahl und der Gattenwahl strikt unterscheiden zu können. Demnächst würde sie es ihm noch einmal erklären ...

Aufatmend setzte sie sich. Doch fiel ihr ein, daß er anrufen könnte. In Rage. Aus Wut. Vielleicht wartete er in der Wohnung, im 11. Stock des lautlosen Hochhauses, mit dem falschen Namen an der Tür und dem immer leeren Briefkasten. Vielleicht hatte er getrunken. Den Telefonhörer angestarrt. Wieder getrunken. Wieviel muß ein Mensch trinken, einer, der liebte, um skandalfähig zu werden? Gar nicht viel, wahrscheinlich. Um so weniger einer mit Risikotemperament.

Sie spürte, daß sie in eine ihr bisher unvertraute Gefühlsgrube hineinglitt: in die Panik. Sie mußte ihre Freundin anrufen, die einzige übrigens, die sie hatte. Die würde es ordnen. Ausdauernd und gediegen. Ruf ihn an oder fahr in die Wohnung. Sag ihm, daß ich die Verabredung vergessen habe. Nein, sag nicht "vergessen". Erfinde etwas. Eine elegante Ausrede ... wie für eine Galanterieware, die man nicht vorzeigen kann. Er darf nicht anrufen. Er soll auf meine Nerven Rücksicht nehmen. Er verdirbt mir den Heiligen Abend.

Es gelang ihr nicht, das Gespräch zu führen. Das Telefon stand im Nebenzimmer; die Falttür ständig offen. So war es eingespielt. Die Einspielung konnte jetzt, abrupt, nicht geändert werden ...

Ihr Mann hatte den Korken aus der Flasche gezogen. "Die Glocken haben zu läuten aufgehört. Wollen wir anfangen?" sagte er. "Jetzt schon?" - "Wir haben es immer auf diese Art gehalten. Möchtest du es anders?"

Er drückte die Tonbandtaste; setzte sich zu ihr. Von ihm selbst gesprochen, begann der Wortlaut der Niederschrift des Evangelisten Lukas.

"Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zu der Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war."

Wenn er anrief! Dann würde ihr Mann zum Telefon gehen. Auch das war eingespielt und ließ sich im Augenblick unauffällig nicht ändern. Wenn er anrief! Auf und davon gehen wollte er mit ihr. Allen Ernstes. Beinahe war sie versucht zu lachen. Ein Student der Rechte sollte Respekt vor anderer Menschen Zugehörigkeit haben. Wer denn sonst?

" ... aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land der Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum daß er von dem Hause und Geschlechte Davids war, auf daß er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe ..."

Wenn er anrief! Aber er würde nicht anrufen. Er hatte eine exquisite Schule besucht, verfügte über Bildung. Nichts konnte ihm ferner liegen, als die geliebte Frau in Schwierigkeiten zu verwickeln. "Keine Schwierigkeiten, bitte." Wie oft hatte sie ihm das gesagt. Jedoch heute? Ein junger Mann in der schallisolierten Wohnung ...

"Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Herden, die hüteten des Nachts ..."

Er würde nicht anrufen. Das war zwischen ihnen abgemacht. Abgemacht als Regel ohne Ausnahme. Unter diese Regelung fiel ebenfalls, daß sie sich niemals schrieben und sich in Gegenwart Dritter übersahen. Die Neigung blieb Bestandteil der Wohnung im 11. Stock, die sie unter keinen Umständen zusammen betraten und unter keinen Umständen zusammen verließen ...

" ... und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen."

Es war zu Ende. Barockmusik schloß sich an. "Ich finde, ich habe den Text sehr gut gesprochen", sagte er.

"Bezaubernd", antwortete sie.

Das Telefon läutete. Ihr Mann stand auf. Sie blieb sitzen. Etwas steif im Nacken. Es schmerzte. Verdirb mir mein Leben nicht. Ich warne dich, dachte sie.

Ihr Mann kam zurück. Füllte die Gläser nach. Er blickte sie an. "Du siehst zum Erschrecken aus", sagte er.

"War es die Telefonseelsorge?" fragte sie.

"Weiß der Kuckuck. Irgendeiner quasselte etwas. Auch am Weihnachtsabend bin ich Opfer meines Berufs." Er wischte die Finger an der Serviette ab. Nahm Platz. Er zog sein Glas zu sich heran.

Sie dachte: Diese lästige Laune Sascha muß ihre Erledigung finden. Sie erhob sich, nahm das Glas zur Hand, das sie ruhig hielt. Unwillkürlich erhob auch er sich.

"Ich bin froh, daß ich dich ... besitze", sagte er.

Sie sah ihm auf die Lippen. Wie sie feststellte, öffneten sie sich. "Frohe Weihnacht", wünschte sie.


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