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Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
In die Enge getriebene Diktaturen haben einen starken Hang, Stärken
vorzugaukeln, die sich post factum zwar als fiktiv herausstellen, vorher jedoch
zu teilweise weitreichenden Fehlentscheidungen ihrer Gegner führten.
Nordkorea verfügt über ein Heer von 1,2 Millionen Mann. Im konventionellen
Stärkevergleich ist es dem Süden (einschließlich der dort noch stationierten
37.000 US-Amerikaner) an Panzern, Geschützen, Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen
weit überlegen. Es hat ein reiches Arsenal an Kurzstreckenraketen, erprobt
Mittel- und Langstreckenraketen und behauptet, Atomwaffen zu besitzen.
Der hohe Schrott- und Rostanteil an der Panzer- und Luftwaffe sowie der Marine
der Staaten des Warschauer Paktes (dem Nordkorea nie angehörte) ist mittlerweile
ebenso bekannt, wie die Tendenz des Regimes zu militanten Drohungen. Das es vor
tatsächlicher Gewaltanwendung nicht zurückschreckt, zeigt sich vom Angriffskrieg
von 1950 bis zum Staatsterrorismus der 70er und 80er Jahre. Dabei bleibt neben
einem Artillerieüberfall auf Seoul die nukleare Erpressung die einzige Karte,
die dem bankrotten Regime noch bleibt. Es spielt dieses armselige Blatt bislang
erstaunlich gut. Wie gefährlich ist Nordkorea wirklich, zumal die am besten
informierten US-amerikanischen Quellen seit dem Irakkrieg unter einem gewissen
Glaubwürdigkeitsproblem leiden?
Schon 1964 wurde in Yongbyon ein Fünf-Megawatt-Forschungsreaktor gebaut, der
jedoch nie das Ziel verfolgte, Strom zu erzeugen. 1989 begann mit chinesischer
Hilfe in einer Aufarbeitungsanlage die Plutoniumextraktion. 1993 kündigte
Nordkorea an, es werde aus dem Atomwaffensperrvertrag austreten. Als dann noch
8.000 gebrauchte Brennstäbe aus drei anderen Atomkraftwerken nach Yongbyon
verbracht wurden, aus denen 20 Kilogramm Plutonium, die für sechs Atombomben
ausreichen, gewonnen werden konnten, da löste dies in Washington Alarm aus.
Präsident Clinton ließ die Durchführung und die Folgen eines Präventivschlags
auf Yongbyon abschätzen. Das Ergebnis: Zu unsicher und zu gefährlich.
Wahrscheinlich sei ein Teil der Produktion und die schon existierenden ein oder
zwei Atombomben in unbekannte Bunker- und Tunnelsysteme verlagert und damit
unangreifbar geworden.
Nordkorea würde als Vergeltung mit einem massiven Raketen- und
Artillerieüberfall auf die dichtbesiedelte, 60 Kilometer südlich der
demilitarisierten Zone (DMZ) befindliche Hauptstadtregion Seoul reagieren. Auch
die nördlich der DMZ befindlichen verbunkerten Artilleriestellungen mit ihren
13.000 Geschützen und Stalinorgeln – deren Geschosse zu 25 Prozent chemisch
bestückt sein sollen – sind in der seit den 60er Jahren intensiv vertunnelten
Gebirgslandschaft mit Präzisionswaffen nur schwerlich und unvollständig
auszuschalten. Nach Schätzungen des Pentagons würden im ersten Kriegsmonat
50.000 US-Soldaten und eine Million Koreaner fallen. Deshalb schickte Clinton
1994 als Friedensengel Ex-Präsident Jimmy Carter nach Pjöngjang. Im Gegenzug für
Gratislieferungen von Öl und Getreide sowie den Bau von zwei
Leichtwasserreaktoren in Kuniho für fünf Milliarden US-Dollar (bezahlt von den
USA, Japan, China, Südkorea und der EU) versprachen die Nordkoreaner, ihr
nukleares Rüstungsprogramm einzumotten.
Inzwischen begann Südkorea unter Kim Dae-jung seine berühmte Sonnenscheinpolitik
der Entspannung gegenüber dem Norden, um noch drastischer als weiland Willy
Brandt feststellen zu müssen, daß nach dem teuer bezahlten Gipfel von Pjöngjang
im Juni 2000 der Norden nicht daran dachte, die Vereinbarungen
(Familienkontakte, Gefangenenaustausch, Eisen- und Autobahnanschlüsse)
einzuhalten.
Bill Clinton schickte Madelaine Albright nach Pjöngjang. Sie bot an, die USA
würden auch den Abbruch der nordkoreanischen Raketenrüstung großzügig
honorieren. Doch Kim Jong-il zeigte sich desinteressiert. Derweil lieferten die
Amerikaner brav weiter jährlich (1994 bis 2002) 500.000 Tonnen Öl (30 Prozent
des Elektrizitätsbedarfs) und eine Million Tonnen Reis und Weizen (ein Drittel
der Importe) gratis und bauten an den Leichtwasserreaktoren trotz aller
nordkoreanischen Schikanen weiter. Auch die EU-Länder steuerten insgesamt 500
Millionen Euro und die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Pjöngjang als
Entspannungsbeitrag bei. Allein Kim Jong-il dachte nicht an die Einhaltung der
Vereinbarung von 1994.
Im Oktober 2002 warfen die Amerikaner den Nordkoreanern öffentlich vor, schon
seit Mitte der 90er Jahre heimlich die 8.000 Brennstäbe zur Plutoniumgewinnung
aufzuarbeiten und sich gleichzeitig zum Bau eines weiteren Atombombentypus aus
Pakistan die Technologien und die Gaszentrifugen für angereichertes Uran besorgt
zu haben. Abdul Qadev Khan, der Vater der pakistanischen Atombombe, hatte solche
Lieferungen nach Libyen, dem Iran und Nordkorea öffentlich eingestanden. Seine
Version wurde von Hwang Jang-yop bestätigt, der vor seiner Flucht in den Süden
in Nordkorea Parlamentspräsident und im ZK für Ideologie und Internationales
zuständig war. Nach anfänglichem wütenden Leugnen gab Nordkoreas
Vizeaußenminister Kang die Atomprogramme zu und erklärte die Vereinbarung von
1994 für hinfällig. Im Januar 2003 ließ Kim die letzten IAEA-Inspektoren des
Landes verweisen und kündigte als erstes Land der Welt die Mitgliedschaft im
Atomwaffensperrvertrag. Seither rüstet Nordkorea ganz legal nuklear auf.
Deklariertes Ziel ist es, in den Kreis der anerkannten Atommächte aufgenommen zu
werden.
Die Nichtverbreitungspolitik der USA liegt seither in Trümmern. Statt des Iran
oder Nordkorea griff Bush den wesentlich weniger gefährlichen Irak an und
verstrickte sich heillos in der dortigen Okkupation. Gegenüber Nordkorea stellte
die seit Januar 2001 amtierende Bush-Administration darauf die Lieferungen von
Öl und Getreide sowie die Zahlungen für den Reaktorbau ein und tat ansonsten
nichts. Weil er dezidiert keine zwei Krisenherde gleichzeitig im Blick haben
wollte, beschränkte sich Bush auf Maulheldentum, denunzierte Nordkorea nicht
ganz zu Unrecht als „Reich des Bösen“ und verweigerte jede bilaterale Verhand-
lung, da Kim nicht zu trauen, ja da es unmoralisch sei, mit dem Despoten direkt
zu verhandeln. Dies reizte Kim noch mehr, ohne ihm allerdings zu schaden. Denn
Südkorea ließ sich weiter zu Zahlungen erpressen. Auch Japan zahlte für die
Rückkehr seiner entführten Landeskinder. Die Welthungerhilfe lief weiter, und
China liefert seinem jähzornigen Schützling verläßlich das für den
Militärbetrieb nötige Rohöl.
Währenddessen läuft das Rüstungsprogramm Nordkoreas ungestört weiter.
Möglicherweise wurden, wie befürchtet, schon sechs neue Plutoniumbomben gebaut.
Auch könnte die unterirdische Fertigung von Bomben aus angereichertem Uran
jederzeit anlaufen. Das Pentagon, das Verhandlungen mit dem vertragsbrüchigen
Regime für sinnlos hält und wie Chefabrüstungsverhandler John Bolton keinen
nuklearen Erpressungen mehr nachgeben will, stritt sich jahrelang mit dem
Außenministerium, das Nordkorea Wirtschafts- und Energiehilfen gegen einen
diesmal verifizierbaren Abbruch des Plutonium- und Uraniumanreicherungsprogramms
anbieten will. Es dauerte eine Weile bis Dick Cheney die öffentliche Erleuchtung
kam, die Zeit arbeite nicht notwendigerweise für die USA, und Rumsfeld die
geniale Idee hatte, ausgerechnet mit Hilfe der Chinesen den Regimewechsel in
Pjöngjang herbeizuführen (was so ziemlich das letzte strategische Interesse der
chinesischen Führung ist, die von US-Einkreisungsszenarien heimgesucht wird). So
begannen schließlich die Sechserverhandlungen in Peking zwischen Nord- und
Südkorea, den USA, Japan, China und Rußland. Da Kim die
US-Präsidentschaftswahlen abwarten wollte, brachten jedoch auch die Sechser-
Verhandlungen nur einen weiteren Zeitgewinn für den Norden.
Schon 1958 erhielt Nordkorea von China sowjetische Scud-B-Raketen, die auf
deutschen V2-Entwicklungen beruhten. Seit 1988 wurden sie als Nodong mit einer
Gesamtzahl von derzeit 600 bis 700 in etwa 80 unterirdischen Silos in Stellung
gebracht. Als Kurzstreckenwaffe hat die Nodong eine Reichweite von bis zu 1.300
Kilometern. Sie kann 700 Kilogramm Sprengstoff ins Ziel bringen. Ob Nordkorea in
der Lage ist, seine Plutoniumbombe so zu miniaturisieren, daß sie in einen
Raketenkopf gezwängt werden können, ist unklar. Sicherlich wird daran fieberhaft
gearbeitet. Das gleiche gilt für die Bestückung mit chemischen und biologischen
Waffen. Saringas, andere Nerven- und Stickgase, Pockenviren, deren verfügbare
Gesamtmenge auf zwischen 250 Tonnen und 5.000 Tonnen geschätzt wird, stehen
dafür zur Verfügung.
Als Exportartikel in den Mittleren Osten verkaufen sich die Nodong hervorragend:
Pakistan, das diese als nuklearbestückte Ghauri-Rakete gegen Dehli und Bombai
richtet, ist ein Hauptkunde (und lieferte chinesische
Urananreicherungstechnologien im Gegenzug), ebenso wie der Iran, Syrien, Libyen
und Ägypten. 1999 fingen die Inder einen nordkoreanischen Frachter mit
Raketenteilen auf dem Weg nach Pakistan ab. Die spanische Marine stoppte im
Dezember 2002 den Frachter „Sosan“ mit zwölf Raketen an Bord auf der Fahrt in
den Jemen – und mußten die Fracht wieder freigeben, denn das Geschäft war
absolut legal. Mittlerweile holen die Pakistanis ihre Raketenteile in Pjöngjang
per Luftfracht ab – ironischerweise mit Transportflugzeugen, die ihnen die
Amerikaner zum Kampf gegen den Terror schenkten. Das sie dabei chinesisches
Territorium überfliegen, stört China wenig. Im Gegenteil, es scheint den
arbeitsteiligen Technologie- und Wissenschaftsaustausch seiner beiden
Nachbarstaaten mit Wohlgefallen zu betrachten. Sicher wirkt China mäßigend auf
seinen ungestümen Satelliten ein, um Japan und Südkorea nicht zur Unzeit zur
Aufrüstung und zur Teilnahme am US- Raketenabwehrprogramm zu provozieren (das
Chinas Atomwaffen Makulatur werden ließe).
Wegen des chinesischen und russischen Unwillens, überhaupt
Sanktionen gegen Nordkorea zu unterstützen, scheitern US-Pläne, mit Australien
und Japan eine
Teilblockade gegen Nordkorea zu organisieren. Derweil arbeitet Nordkorea
unverdrossen an den Mittel- und Langstreckenraketen Taepodong 1 und 2
(Reichweite: 2.000 bis 6.000 Kilometer). 1998 feuerte es
eine zur Erprobung und zum Erschrecken der Japaner über Japan hinweg. Damit
können eines Tages die US-Basen im Pazifik und bald US-Territorien in Alaska und
auf Hawaii angegriffen werden, eine Entwicklung, die selbst die im Irak
verstrickte Bush-Administration nicht länger tatenlos hinnehmen könnte.
Zweifellos ist dem Regime in Pjöngjang klar, daß die Verwendung von Atomwaffen
und ein Angriff auf die USA sein sofortiges
Todesurteil bedeutet. Sein bisheriges, denkbar ungewöhnliches Überleben verdankt
es jedoch nur dem Mut zum hochgradigen Risiko. Zwischen machiavellistischem
Nuklearpoker und dem reinen, vom Cognac umnebelten Wahnsinn ist es dann nur ein
kleiner Schritt. Korea braucht in den nächsten zwölf Monaten sehr viel Glück. Es
ist dieser tapferen, leidgeprüften Nation zu wünschen. Albrecht Rothacher
Nervenkitzel: An der Grenze zwischen Nord- und Südkorea zeigt sich seit
Jahrzehnten das angespannte Verhältnis zum Westen. Foto: Reuters |