Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
©
Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Sieh einmal, hier steht er, pfui, der Struwwelpeter!“ Der garstige Unhold mit
den langen Haaren und noch längeren Fingernägeln mag einst Kinder erschreckt
haben. Spätestens seit in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die
Rock-Ikone Jimmy Hendrix mit seiner Struwwelpeter-Frisur die Jugend begeisterte
und sie schließlich gesellschaftsfähig machte, ist Heinrich Hoffmanns Figur
nicht mehr das Schreckgespenst. Das Buch aber, dem er den Namen gab, ist noch
heute ein Begriff. Eine spontane „Umfrage“ in der PAZ-Redaktion brachte
überraschende Ergebnisse. Ganz gleich welcher Generation die Befragten
angehörten, Struwwelpeter & Co. waren ihnen bekannt. Selbst die ganz jungen
Kollegen bekamen glänzende Augen und erinnerten sich an einzelne Verse, an
einzelne Figuren. Paulinchen, die einzige weibliche Hauptfigur, wurde genannt,
der Daumenlutscher, den ein schreckliches Schick-sal ereilte, Suppen-Kaspar
natürlich und der Zappel-Philipp. Der große Nikolaus, der drei böse Knaben in
ein Tintenfaß taucht, weil sie einen „kohlpechrabenschwarzen Mohr“ verulkt
hatten, der bitterböse Friederich, der Tiere quält, der pfiffige Hase, der dem
Jäger das Gewehr stibitzt und den Spieß kurzerhand umdreht, ach ja, der
fliegende Robert und Hanns Guck-in-die-Luft ... Sie alle haben unser Bild vom
Leben einst geprägt. Einige Sprüche aus diesem Buch sind sogar zu geflügelten
Worten geworden („und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“). Was
hat er an sich, dieser Struwwelpeter, der ja nun auch schon einige Jährchen auf
dem Buckel hat? – Man schrieb das Jahr 1844, als der Arzt und Psychiater
Heinrich Hoffmann für seinen damals dreijährigen Sohn Carl-Philipp dringend ein Weihnachtsgeschenk suchte. Ein Bilderbuch sollte es sein,
doch die Exemplare, die er damals in den Buchläden fand, schienen ihm nicht
geeignet. Zu wenig kindgerecht waren ihm die Bücher; sentimentale Märchen
sollten es auch nicht sein. Und so besorgte Hoffmann sich kurzerhand ein leeres
Heft und fing an, selbst ein Bilderbuch herzustellen.
Heinrich Hoffmann wurde am 13. Juli 1809 als Sohn des Architekten und
Städtischen Wasser-, Wege- und Brückenbauinspektors Philipp Jacob Hoffmann in
Frankfurt am Main geboren. Er studierte Medizin in Heidelberg, Halle und Paris
und arbeitete zunächst in einer Armenklinik seiner Vaterstadt. Am renommierten Senckenbergischen Institut
unterrichtete er Anatomie, bis er 1851 eine Anstellung als Arzt an der
Städtischen Anstalt für Irre und Epileptiker fand. Ihm ist es zu verdanken, daß
die Anstalt sowohl architektonisch als auch pflegerisch auf den neuesten Stand
gebracht wurde. Neben seiner verantwortungsvollen Aufgabe als Arzt widmete
Hoffmann sich 1838 den Vorbereitungen für das erste Deutsche Sängerfest und war
1848 Mitglied des Frankfurter Vorparlaments, das die erste deutsche
Nationalversammlung in der Paulskirche vorbereitete. In schöngeistigen Zirkeln
fand er außerdem den Ausgleich für seinen Beruf. Hoffmann war verheiratet und
hatte drei Kinder. Er starb am 20. September 1894 in Frankfurt.
Schon früher hat Hoffmann gezeichnet und gedichtet, vor allem um seine kleinen
Patienten zu erfreuen und sie vor der Behandlung ein wenig abzulenken.
Ermahnungen wie „sei brav“ fruchteten in solchen Situationen auch damals
überhaupt nicht. Pfiffige Geschichten aber und selbst drastische Bilder wie das
von dem Bengel, der sich Haare und Nägel nicht schneiden lassen will, nahmen die
Kinder gefangen und faszinierten sie. Der Psychiater Hoffmann ging auf ihre
Ängste ein und machte sich augenzwinkernd zu ihrem Komplizen.
Nicht nur Kinder waren schließlich von den Geschichten begeistert, Hoffmanns
Freunde drängten ihn, das Buch drucken zu lassen. 1845 erschien die erste nach
der Urhandschrift lithografierte Ausgabe unter dem Titel „Lustige Geschichten
und drollige Bilder mit 15 schön kolorierten Tafeln für Kinder von 3 bis 6
Jahren“. Der Verfasser verbarg sich hinter dem Pseudonym „Reimerich Kinderlieb“,
da er den Neid seiner Mitmenschen fürchtete, sollte er Erfolg mit dem Büchlein
haben. Und den hatte er! Die ersten 1.500 Exemplare waren innerhalb von vier
Wochen ausverkauft. Auflage folgte um Auflage; erst ab der 5. Auflage 1847 las
man den wirklichen Namen des Verfassers (mit Doktortitel). In dieser Auflage war
der Struwwelpeter schließlich auch die Titelgestalt. Im Urmanuskript, das sich
heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befindet, ziert der
Struwwelpeter noch die letzte Seite.
Bis 1939 erschienen etwa 5.000 Auflagen, hinzu kamen zahlreiche unlizensierte
Drucke. Den Struwwelpeter gab es bald auch in den verschiedensten Übersetzungen;
35 an der Zahl sollen es heute sein. Hoffmann selbst benutzte eine russische
Version schon 1847 für die bildnerische Überarbeitung des deutschen Buches. In
Esperanto oder Japanisch, Afrikaans oder Rätoromanisch sind mittlerweile die
Missetaten eines Friederich oder eines Zappel-Philipp zu lesen. Als „Petrulus
Hirsutus“ tritt der Struwwelpeter sogar in lateinischer Sprache auf; selbst
Mundarten haben vor dem Text nicht halt gemacht.
Ein solcher Erfolg ruft natürlich auch Nachahmer und Kritiker auf den Plan. Sehr
bald gab es Bücher auf dem Markt, die das Konzept aufgriffen, also Text und Bild
zu einer Einheit verbanden, damit selbst kleine Kinder die Bilderfolgen wie
heute einen Comic „lesen“ konnten. Die Nachfolger Hoffmanns machten allerdings
mit den garstigen Kindern kurzen Prozeß und wandten drastische Strafen an. 1864
erschien dann „Die Schreiliesel“, 1870 „Die Struwwelliese“, Gleichberechtigung
muß schließlich sein. Auch hier waren die Strafen nicht zimperlich.
Schon früh gab es auch den „Anti-Struwwelpeter“. So brachte 1914 Fritz Stern ein
„Bilderbuch für die Großen“ heraus, der den Struwwelpeter als Symbol für den
natürlichen Menschen der Jugendbewegung und Neuromantik sah. Auch die
antiautoritäre Erziehungswelle nahm sich des Struwwelpeter an. Und wenn man
genau hinschaut, dann entdeckt man in dem Original auch den kleinen Radikalen,
den Anarchisten, einen jungen Menschen, der sich nichts sagen lassen will.
Selbst die Politik hat sich schließlich an den Struwwelpeter herangemacht. Schon
1849 erschien „Der politische Struwwelpeter. Ein Versuch zur Einigung
Deutschlands“. Da trägt der „garstige Michel“ ein Hemd mit 39 Flicken als Symbol
für die damals existierenden 39 deutschen Fürstentümer. In Krisenzeiten war der
Struwwelpeter besonders beliebt. 1914 erschien er in England als „Swollenheaded
William“ – Kaiser Wilhelm in Struwwelpeterpose, den Kopf als dicken Ballon
tragend und mit Blut an den Händen. Ein Jahr später dann die Reaktion aus
Deutschland. „Der Kriegsstruwwelpeter – Lustige Bilder und Verse“ von Karl Ewald
Olszewski erschien und nahm die Kriegsgegner aufs Korn. Der russische Großfürst
Nikolai wurde zum bitterbösen Friederich, der der Friedenstaube die Flügel
ausreißt, und die französische Marianne entzündet einen Brand, in dem sie selbst
umkommt. Die „Krönung“ dann kam 1941, als in London ein „Struwwelhitler“ mit
gewaltiger schwarzer Haarmähne erschien ...
Immer wieder greifen auch heute noch mehr oder minder begabte Grafiker auf den
Struwwelpeter zurück und verwerten ihn für ihr Anliegen. Kein Exemplar der
„Struwwelpetriaden“ allerdings kommt an das Original heran.
Literaturwissenschaftler nennen Heinrich Hoffmann gar auch einen „Copernicus der
Kinderliteratur“, habe er doch ein herausragendes, neuartiges Kinderbuch
geschaffen, das heute zu den Klassikern zählt.
Selbst in Museen hat der Struwwelpeter Eingang gefunden. So besitzt die Stadt-
und Universitätsbibliothek Frankfurt eine große Sammlung zu diesem Thema. Neben
deutschen Ausgaben und Übersetzungen sowie Nachahmungen finden sich dort auch
Spiele und die anderen Kinderbücher von Heinrich Hoffmann. Das
Originalmanuskript zur zweiten Fassung des Struwwelpeters von 1858 wird in der
Handschriftenabteilung verwahrt.
Das Frankfurter Struwwelpeter-Museum, Schirn am Roemerberg, beherbergt einen
großen Teil des Nachlasses von Heinrich Hoffmann und gibt auch Auskunft über
sein Wirken als Arzt und Reformer der Psychiatrie. In der Schubertsraße 20,
ebenfalls in Frankfurt / Main, hat das Heinrich-Hoffmann-Museum seit 1977 sein
Domizil (dienstags bis sonntags 10 bis 17 Uhr). Dort können Kinder und
Erwachsene in die Welt des Struwwelpeters eintauchen und sich sogar verkleiden.
Ganz im Sinne Hoffmanns mag es sein, daß unter einem Dach mit dem Museum eine
Werkstatt für psychisch Kranke untergebracht ist. Das Museum bietet darüber
hinaus auch Reha-Arbeitsplätze an. Silke Osman
Der Struwwelpeter: Die erste Fassung des Knaben mit den langen Haaren und Nägeln
(heute im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg); und rechts der Nikolaus mit dem
großen Tintenfaß
Fotos: Archiv |