Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
©
Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Im alten Ostpreußen waren die Winter lang und kalt. Und weiß. Sehr weiß.
Manchmal fuhr man schon im Oktober mit dem Schlitten zur Kirche, manchmal
flockte es noch im Mai auf blühende Obstbäume. Und zu Weihnachten lag immer
Schnee. An dem Fest, an dem unsere Geschichte spielt, sogar sehr hoch.
Das hatte Tante Klara auch bewogen, sehr eindringlich darüber nachzudenken, ob
sie wirklich zum Weihnachtsfest in das kleine Kirchdorf an der östlichsten
Grenze zu ihrem Neffen und Patensohn Paul fahren sollte. Der hatte dort vor
einigen Jahren eingeheiratet und die Wirtschaft des Schwiegervaters bereits
übernommen. Nachwuchs war auch schon da, und so sollte es eine richtig schöne
Familienweihnacht werden.
Nun pflegten echte ostpreußische Sippen nicht nur aus einer Tante samt Neffen zu
bestehen. So war auch Tante Klara als lediges, ältliches Wesen in den Familien
ihrer verheirateten acht Geschwister stets zum Fest herumgereicht worden, und da
die meisten in der Stadt oder nicht weit entfernt wohnten, war das auch kein
Problem gewesen. Aber nun sollte sie in dieses Kuhdorf fahren, das man nur mit
Umsteigen in eine Nebenbahn erreichen konnte, deren Endstation eben dieser Ort
war. Danach war die Welt zu Ende. Jedenfalls für Tante Klara.
Die anderen Familien redeten der Zögerlichen gut zu, denn sie waren doch sehr
erleichtert, sie diesmal nicht in ihrer Mitte zu haben. Zwar war die Bezeichnung
„Familienübel“, die der älteste Bruder für seine sehr eigenwillige Schwester
geprägt hatte, nur für den internen Gebrauch bestimmt, aber sie hatte schon
einen wahren Kern. Vielleicht hatten zu hoch gesteckte Erwartungen, die nie
erfüllt wurden, ihr Wesen geprägt. Jedenfalls war – milde gesagt – Tante Klara
eine schwierige Person. Und so begann dann auch die Weihnachtsfahrt am Tag vor
dem heiligen Abend sehr umständlich, und Tante Klara versicherte den
Familienmitgliedern, die sie zum Bahnhof begleiteten, daß sie überhaupt keine
Lust hätte, an solch einem unwirtlichen Ort das Fest zu verbringen. Die Eskorte
atmete auf, als der Zug abgedampft war.
Am Bahnhof der Kreisstadt, in der Tante Klara umsteigen mußte, erwartete sie ein
entfernter Vetter, der sie mit allen Pacheidels und Paketen in das einzige 1.
Klasse-Abteil der Kleinbahn verstaute und sie tröstete: „Verfahren kannst du
dich ja nicht mehr, Klärchen, du fährst ja bis zur Endstation. Und da holt dich
Paulchen ab.“ Es war also alles sehr gut geregelt. Glaubte man.
Die Fahrt durch die tiefverschneite Landschaft fand Tante Klara durchaus nicht
reizvoll, denn sie konnte nichts sehen, weil die kleinen Fensterscheiben mit
Eisblumen überzogen waren. Demgemäß war es auch ziemlich kalt in dem Abteil,
dessen rote Samtpolster kaum wärmten. Sie kuschelte sich tief in ihren mit
Hamsterfell gefütterten Mantel und zog sich die Pelzmütze, die modisch mit einer
Fasanenfeder geschmückt war, in die Stirn. Zum Glück – so fand Tante Klara – war
sie allein in dem kleinen Coupé, was sich aber noch als unangenehm herausstellen
sollte. Denn als seine einzige Insassin den dumpfen Ruf des Schaffners von
irgendwoher vernahm: „Endstation, alles aussteigen!“, da war niemand da, der ihr
mitsamt den Pacheidels heraushelfen konnte.
Wutschnaubend öffnete sie eine der beiden Abteiltüren und – fiel von den
vereisten Stufen bäuchlings in den Schnee. Tante Klara hatte nämlich die falsche
Tür erwischt: die zum Bahnsteig war auf der anderen Seite. Und da der Bahnhof
auf einer kleiner Höhe lag, bekam Tante Klara das Rutschen und schorrte den
Abhang hinunter, an dessem Fuß sie zuerst einmal reglos liegenblieb.
Es stiemte und alles war in weiße Watte gehüllt, die auch Tante Klaras Hilferufe
erstickten. So dauerte es eine Ewigkeit, bis sie sich soweit aufgerappelt hatte,
daß sie sich aufrecht setzen konnte. Die Pelzmütze war ihr weit über die Ohren
gerutscht, die geknickte Fasanenfeder kitzelte ihre Nase. Mit verplierten Augen
versuchte sie, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, von einem Haus oder einer
Straße war aber nichts zu sehen. Die einzige akustische Wahrnehmung war der
Pfiff der Lokomotive, die oben rangierte.
Wut verleiht bekanntlich ungeahnte Kräfte. Tante Klara wühlte sich durch den
Schnee den Hang hinauf, erreichte laut schimpfend auf diese Walachei, in der es
nicht einmal einen vernünftigen Bahnhof gab, die Höhe und – fühlte sich
plötzlich von hilfreichen Händen in ihr Abteil gehoben. Ja, es war ihr Abteil,
denn da standen ja noch – zum Glück trocken und heil – die
Pacheidels, die Tante
Klara gewahrte, als sie sich den Schnee aus den Augen gerieben hatte.
Sie sah aber noch etwas: einen älteren Herrn mit weißem Bart, der sie über die
Ränder seines Kneifers verwundert anstarrte: „Ja, meine liebe Dame, wo kommen
Sie denn her? Da unten ist doch nur die Grube vom Bahnbau!“
„Gibt es hier überhaupt einen Bahnhof in diesem elenden Nest?“ fauchte Tante
Klara, „Aber ja, werte Dame, der ist auf der anderen Seite. Durch d i e Tür
hätten Sie einsteigen müssen!“ Und er wies auf die gegenüberliegende Türe des
Abteils, deren Fenster aber keinen Durchblick gewährte
Tante Klara begann zu bibbern, denn der in den Hals gerutschte Schnee fing an zu
tauen, die langen Röcke hingen klitschnaß um ihre Waden. „Ich, ich ...“, keuchte
sie, „ich wollte a u s steigen!“
„Dazu, Verehrteste, ist es nun leider zu spät“, sagte der freundliche Herr und
schaute sein derangiertes Gegenüber mitfühlend an, „denn wir fahren bereits!“
Tatsächlich, wie Tante Klara an dem Ruckeln und Zuckeln des Zuges bemerkte, der
nun in die Richtung fuhr, aus der er gekommen war.
Es dauerte eine Weile und mindestens fünf Haltestellen, bis sich die Lage für
beide Insassen verständlich geklärt hatte. Tante Klara erzählte ihre Geschichte,
der nette Herr im schwarzen Habit die Seine. Der aus Amt und Würden geschiedene
Geistliche hatte seine ehe-
maligen Schäfchen in der Grenzgemeinde besucht und eine vorweih-nachtliche
Andacht abgehalten. Nun fuhr er zurück in die Kreisstadt, in der er seinen
Alterssitz in einem Pfarrhaus hatte, nachdem seine Frau gestorben war.
Der altgediente Seelenhirt hatte schon ganz andere Dickköpfe zur Raison
gebracht. Und es gelang ihm tatsächlich, Tante Klara zum Zuhören zu bewegen und
ihr zu erklären, daß man den kleinen Grenzort durchaus nicht als Kaff bezeichnen
könnte, daß die Familie, in die ihr Neffe Paul geheiratet hatte, sehr angesehen
sei und daß die Dame doch wohl auf eine wundervolle Weih-nachtsfeier verzichten
müßte.
Ja, das mußte sie nun, denn es fuhr kein Zug mehr an dem Tag, schließlich war es
ja eine Kleinbahn. Und außerdem: So mitgenommen wollte Tante Klara sich nicht
den neuen Verwandten zeigen, oh nein! Dafür hatte der alte Herr auch volles
Verständnis.
Als man in der Kreisstadt ankam, hatte man die denkbar günstigste Lösung
gefunden: Tante Klara übernachtete zuerst einmal im Gästezimmer des Pfarrhauses.
Neffe Paul, der ja vergeblich am Bahnhof gewartet hatte, wurde telefonisch
verständigt, daß seine Patentante erst am Heiligen Abend käme. Der Herr Pfarrer
wollte sie persönlich zum Zug bringen.
Er brachte Tante Klara nicht nur zum Zug, sondern fuhr gleich mit. Denn Neffe
Paul hatte, erlöst von der Ungewißheit über das Schick-sal seiner Patentante,
ihn ebenfalls eingeladen. Er war nun einmal in seiner alten Gemeinde sehr
beliebt. Und außerdem hatte man dann die Gewißheit, daß Tante Klara nun auf dem
richtigen Bahnsteig landen würde. Es wurde ein sehr schönes Weihnachtsfest, und
es war nicht das letzte, das Tante Klara und ihr Retter zusammen feierten. Denn
zwischen beiden entwickelte sich eine
erbauliche Altersfreundschaft, in der sich Tante Klara erstaunlich wandelte.
Eine späte, aber geglückte Metamorphose, die schließlich zu einer christlich
abgesegneten Verbindung führte. Das verlangte die Zeit, die man die gute, alte
nennt, nun einmal so.
Winterliches Idyll mit Tücken: Hoch türmt sich der Schnee auch auf Bahngleisen.
Foto: Archiv |