Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung
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Preußische Allgemeine Zeitung / 25. Dezember 2004
Weit im Osten, jenseits des großen Stromes, der zum Schicksalsfluß der
Deutschen geworden ist, liegt das Dorf, in dem sich dieses hier begab zur
Weihnacht 1944. Niemals vorher war die kleine Kirche so dicht zur
Weihnachtsvesper gefüllt gewesen wie an diesem Heiligen Abend. Aus allen Häusern
waren sie herbeigeeilt gekommen, die alten und die jungen Frauen, die Kinder und
die wenigen Männer, die zum Kriegshandwerk nicht taugten, weil sie zu alt oder
gebrechlich waren, um ins letzte Aufgebot ihres Landes gerufen zu werden. Denn
der Feind stand nahe. Wie nahe eigentlich, wußte niemand genau. Nur die Gerüchte
wollten wissen, daß keinen Tag weit die Vorhut der anderen schon abmarschbereit
sei. Aber die Gerüchte brauchten nicht zu stimmen. Der Mensch klammert sich so
gern an ein winziges Fünkchen Hoffnung. Zumal in jener Weihnachtszeit, da die
Botschaft vom Frieden so seltsam unwirklich und doch voller Sehnsucht in den
Herzen der wortkargen Deutschen in dieser Landschaft Einlaß suchte und fand.
Alle lauschten sie den Worten des alten Pfarrers, der von einer unbändigen
Zuversicht beseelt schien und die verborgenen Türen zu den Herzen der Gemeinde
aufstieß. Nur die Hebamme Maria Domagella, weit über die 70 hinaus und immer
noch in ihrem schweren Dienst tätig, und Anna Tomasczek, die ihrer Niederkunft
entgegen sah, fehlten beim Weihnachtsgottesdienst. Die aber in der Kirche mit
heiseren, schluchzenden, tränenerstickten Stimmen das Lied von der
gnadenbringenden Weihnachtszeit sangen, bezogen auch diese beiden Frauen und das
Kind, das in dieser schweren Zeit in ihrem Dorf auf die Welt kommen sollte, in
ihre Gedanken und Gebete mit ein.
Die Angst jedoch hockte neben ihnen, als sie in den alten Bänken knieten und
auch weit dahinter auf dem harten Lehmboden, denn es hatten nicht alle Platz in
den wenigen Bankreihen gefunden, weil die Kirche auf einen solchen Ansturm der
Gläubigen zu anderer Zeit nicht eingestellt gewesen war. Es lebten aber in
diesen Tagen schon viele Leute aus den weiter östlich gelegenen Dörfern bei
ihnen, die der harsche Wind des Krieges schon aus ihren Wohnstätten getrieben
hatte, und aßen mit von ihrem Brot.
Als der alte Pfarrer am Ende des Weihnachtsgottesdienstes auch die Fürbitte für
einen ungefährdeten Auszug aus dem Dorf ihrer Väter für den ersten Weihnachtstag
und eine baldige Heimkehr in friedlicherer Zeit in sein Gebet mit einbezogen
hatte, war ein undeutliches Gemurmel aufgekommen, das man als Aufbegehren gegen
ein übermächtiges Schicksal, aber auch als dumpfe Ergebenheit deuten mochte. War
wohl von beiden etwas darin.
Noch in der Nacht segnete der Pfarrer das Kind, das Anna Tomasczek zur Welt
gebracht hatte in ihrem 20. Lebensjahr, taufte es auf den Namen Michael, dem
beide in dieser Zeit symbolische Kräfte zumaßen, und sorgte auch dafür, daß
Nachbarinnen über dem Packen ihrer eigenen Habe nicht die der Wöchnerin
vergaßen. Der am weichsten federnde Ackerwagen des Dorfes wurde zu einem
fahrenden Wochenbett für Anne Tomasczek ausgestattet und sollte der jungen
Mutter über die ersten Tage und dem Kindchen für die Dauer der Flucht als
Wohnung dienen.
Es blieb keiner in dem Dorf zurück als der Pfarrer und sein Küster, beides alte
Männer, die vom Leben nichts mehr erwarteten als den Tod, der ihnen nahe genug
gerückt war. Und den wollten sie in der Heimat erwarten, in ihrer Kirche, der
sie ein langes Leben geduldig gewidmet hatten.
Beim Auszug der Bewohner dieses Dorfes am Abend des ersten Weihnachtstages
läuteten die Glocken. Sie klangen aber nicht feierlich wie zu anderen Zeiten. Es
lag der Klang des Krieges darin, es wimmerte die Not der Vertriebenen, die da im
Schneesturm, der sich aufgemacht hatte, fortzogen, und es weinte das Leid um die
unzähligen Getöteten, die das grausige Geschehen schon gefordert hatte. Manchmal
hob sich nur der helle Ton der kleinsten Glocke wie eine schüchterne Hoffnung
auf ein Ende des Schreckens und Frieden auf Erden heraus, wie er doch verheißen
war seit alter Zeit. Die Glocken hallten mächtig in den Abend hinein, in ihrer
ungestümen, schrillen Ausdauer wie der Warnruf eines Vogels an die anderen, auf
der Hut zu sein.
Als der Treck nach Wochen auf abenteuerlichen Wegen das schleswig-holsteinische
Dorf erreichte, aus dem Anna Tomasczek stammte, und in dem sie eine fröhliche
Kindheit verlebt hatte, bevor sie des Bauern Andreas Tomasczeks Frau geworden
war, rückten die Menschen in diesem unversehrten Stück Erde in ihren Häusern
enger zusammen, um die Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Viele von ihnen blieben
dort und richteten sich mit den Jahren hier und in der Nachbarschaft ein, weil
eine Rückkehr in das alte Dorf unmöglich geworden war. Aber der Knabe Michael,
letztes Kind, das noch in der Heimat geboren war, mußte mehr als zehn Jahre auf
den Vater warten, der als stiller Mann endlich aus der Gefangenschaft in den
Weiten Rußlands heimkehrte.
Vom Pfarrer und dem Küster, die dem Treck das Glockengeläut in der Weihnacht
1944 als Geleit in eine ungewisse Zukunft gegeben hatten, erfuhren sie nichts
mehr, so sehr auch die Menschen nach Jahren, in denen die Zeiten ruhiger
geworden waren, in ihren Herzen nach ihnen geforscht hatten. Nur daß die Kirche
von einem Volltreffer der vorrückenden Artillerie getroffen worden war, bevor
das Jahr sich damals wendete, sickerte durch. Das aber war auch schon alles, was
die Mutter ihrem Knaben Michael zu erzählen wußte über das Dorf, in dem er
geboren worden war in der letzten Weihnachtsnacht des Krieges. |