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08.01.05 / Schwenkitten '45 Teil VII / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 1 vom 08. Januar 2005

Schwenkitten '45 Teil VII
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Ostpreußen 1945 - Alexander Solschenizyn berichtet in seiner autobiographischen Erzählung "Schwenkitten '45" erstmals über seine Kriegserfahrungen. Die Verteidigung der Heimat bei Kursk im Sommer 1943 und der Vorstoß nach Ostpreußen im Winter 1945 sind Thema dieser deutschen Erstveröffentlichung. Mit dieser Erzählung, die nun erstmals in deutscher Sprache vorliegt, knüpft der Literaturnobelpreisträger an die großartige Prosa seines "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" an. Hier folgt nun Teil VII der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung Alexander Solschenizyns, die seit Folge 46 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wird.

Sogar in der 2. Stoßarmee war Wolodja Balujew im Frühjahr 1942 am Leben geblieben und aus dem Kessel entkommen. Und beim Brückenkopf am Sosh hatten sie den ganzen November 1943 herumgehangen, verwundet wurde er zwei Stunden vor dem Abzug der Deutschen, als sie sich davonmachten, danach zwei Monate Lazarett in Samara und dann ein Jahr in der Akademie.

In der Akademie gab es jetzt sehr viele Versehrte, sie alle haben erfahren, wie es im Krieg zugeht. Dennoch, ein Jahr Studium - das ist eine andere Welt: Der Krieg wird sublimiert zu Klarheit, Schönheit und Vernunft. Aber es ist schwierig, sich den Gedanken zu verbieten: Vielleicht ist der Krieg in einem Jahr zu Ende? Vielleicht ist's für mich genug?

Er ist nicht zu Ende, wird es aber bald sein. Durch Nordpolen, durch Ostpreußen ist Balujew gehetzt, per Anhalter, in Zügen, voll gestopft mit irgendwelchen Soldaten. Und er freute sich, wieder in den Frontalltag zu kommen. Noch dazu in einem so großartigen Augenblick - der Eroberung Ostpreußens. (Und mit dieser auseinander gezogenen Front.) Er ging im lockeren Schnee durch offenes Land. Die Aufklärer folgten ihm schweigend. Er ging nach dem Kompaß.

Wenn es tatsächlich losgeht, dann taugt auch Petersdorf nicht, ist zu exponiert. Wie soll man beizeiten Infanterie herbeischaffen, wenn nicht eine Kompanie, dann wenigstens einen Zug zum Schutz der Kanonen bei Schwenkitten? Kann man eine einzige Kompanie hierher beordern? Vielleicht sind die Leute so erschöpft, daß sie nicht auf die Beine kommen? Nur diese eine Nacht müssen wir standhalten. Morgen wird es schon leichter werden.

Und da - linker Hand nordöstlich, vier bis fünf Kilometer entfernt, war geräuschlos leichter Feuerschein aufgekommen. Ein Brand. Ja, es brannte. Es war aber kein Schießen zu hören.

Balujew blieb stehen, sah durch den Feldstecher. Ja, ein Brand. Es brannte ruhig und gleichmäßig. Ein Haus?

Im Krieg entsteht ein Brand nicht von selbst. Er hat einen Grund, entwickelt sich im Zuge der Kampfhandlungen. Ist das schon bei den Deutschen? Oder sind welche von uns vorgeprescht, haben einen Fehler gemacht?

Sie gingen weiter nach Osten. Er dachte wieder an den Traum von Mama. Wolodjas Mutter war jung gestorben, so jung. Und er, jetzt 28 Jahre alt, träumte seit vielen Jahren von ihr, der Lieben. Sie war unglücklich gewesen, aber in seinen Träumen war sie immer heiter. Doch niemals kam sie ihm im Traum ganz nahe: Eben war sie noch da, nun ist sie fort; gerade kommt sie herein; sie schläft im Nebenzimmer; sie geht vorüber, lächelt, nickt ihm zu. Aber niemals ist sie ganz dicht bei ihm.

Doch aus irgendwelchen Beispielen, Vergleichen oder Erzählungen hat sich bei Balujew die Vorstellung gebildet: Wenn es Zeit ist zu sterben, kommt Mama ganz nah und umarmt ihn. Und in dieser Nacht hat er es geträumt: Mama atmete ihm ins Gesicht, umarmte ihn ganz fest - woher hatte sie die Kraft? Und im Traum war ihm so warm und fröhlich zumute gewesen. Beim Erwachen erinnerte er sich aber an das Vorzeichen ...

*

Vier Haubitzen der 6. Batterie wurden aus Klein Schwenkitten abgezogen, der Lärm ihrer Zugmaschinen zerstörte die absolute Stille ringsum. Ohne Licht holte man sie auf demselben Weg zurück, auf dem sie wenige Stunden früher gekommen waren. Den Munitionsanhängern folgte die Abteilungsküche und der Wirtschaftsdreitonner. (Und der deutsche Überläufer.)

Leutnant Gussew saß wie gewöhnlich in der Kabine der ersten Zugmaschine des 2. Zuges. Dieser Rückmarsch gefiel ihm ganz und gar nicht. Welche Überlegungen auch dazu geführt haben mochten, es war als Rück-zug anzusehen. Und so wird er keine Gelegenheit haben, an einer wichtigen Kampfhandlung teilzunehmen.

Oleg Gussew lebte im steten Bewußtsein, nicht bloß ein junger Leutnant zu sein, sondern auch der Sohn eines berühmten Armeekommandeurs. Und mit jedem seiner Kriegstage, mit jedem Kampfeinsatz wollte er diese Sohnschaft rechtfertigen. Es wäre für ihn ein schwerer Kummer, dem Vater irgendwie Schande zu bereiten. An Auszeichnungen besaß er erst den "Vaterländischen" 2. Klasse, ein helles Ordensbändchen, für einen Kampfeinsatz. (Der Vater achtete darauf, daß dem Sohn nicht durch Protektion Auszeichnungen verliehen wurden.)

Diese Fahrt war überhaupt ein Nichts. Anderthalb Kilometer, und schon waren sie wieder an der am Abend überschrittenen Eisenbetonbrücke über die Passarge. Eins nach dem anderen wurden die schweren Geschütze von den Zugmaschinen die steile Steigung hinter der Brücke hinaufgezogen. Dann gab es eine Verzögerung, irgendein Hindernis vorne. Danach röhrten die Zugmaschinen wieder los, behoben es.

Oleg sprang aus der Kabine, lief nach vorn, um zu sehen, was los war. Kandalinzew sprach mit irgendeinem hohen Oberst in Pelzmütze. Der war entsetzlich aufgeregt und merkte offenbar gar nicht, daß er immer noch seine auf irgendjemanden gerichtete Parabellum in der Hand hielt. Wahrscheinlich hielt er sie in der Hand, um Insubordination auszuschließen. Er verlangte, die Kanonen unverzüglich in Kampfstellung zu bringen, Rohre nach Osten. Für direkten Beschuß.

Etwas weiter weg ragte hinter dem Oberst das Rohr einer Selbstfahrlafette SU 76, auf der Panzerung ein paar Soldaten. Kandalinzew erklärte ruhig, daß 152-Millimeter-Geschütze nicht für direkten Beschuß geeignet seien: Schneller als in einer Minute kann man nicht nachladen, es sind keine Panzerabwehrgeschütze.

"Andere sind nicht da!" schrie der Oberst. "Schluß mit dem Geschwafel!" Nicht die Parabellum nötigte zu Gehorsam. Unter Kampfbedingungen ist bei Abwesenheit eigener Vorgesetzter jeder einem Ranghöheren am Platz zu Gehorsam verpflichtet. Von ihrem eigenen Vorgesetzten waren sie nach dem Flußübergang getrennt. Genaugenommen machte die Forderung des Obersten keinen großen Unterschied: Kandalinzew hatte 200 Meter weiter Stellung beziehen wollen, denn, und das meldete er dem Oberst, hier an der Brücke ist es zu eng, vier Kanonen lassen sich hier nicht in Front postieren.

Der Oberst begriff trotz seiner Aufregung wenigstens zum Teil, was der Oberleutnant Kandalinzew sagte, und befahl, nur zwei Kanonen aufzustellen, zu beiden Seiten der Straße.

Da war nichts zu machen. Kandalinzew sagte resigniert, nicht im Befehlston: "Oleg, dein Geschütz links, meins rechts."

Gussew befahl den Feldwebel Pjotr Nikolajew auf die Position der dritten Geschützbedienung. Kandalinzew beorderte Oberfeldwebel Kolzow zur ersten Geschützbedienung. Kolzow war in seinem Alter, etwa 40. Ein Donkosak.

Die anderen Kanonen und die Lkws zogen 200 Meter weiter, wo der Herrenhof Pittehnen mit seinen Gebäuden im Dunkeln lag.

Jetzt mußte man sich um den Überläufer kümmern. Kandalinzew legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: "Gutt, gutt, wird alles gutt! Geh mit unseren Leuten, kannst schlafen."

*

Die durchschnittene Leitung konnte kein Zufall sein. Zwei Meter waren herausgeschnitten. Klar: Jene waren mit der Örtlichkeit vertraut, ihre Aufklärer und ihre Funker kannten jeden Fußbreit, alle Wäldchen und Gehölze hüben und drüben. Wir können sie nicht ausmachen, aber sie lauern uns auf.

So etwas war Bojew noch nie passiert. Er hatte im Bombenhagel Flüsse überquert, hatte auf Beobachtungsposten an tödlichen Brückenköpfen gesessen unter dem häufigen Granaten- und Werferbeschuß der Deutschen, hatte bei Feuerüberfällen aus der Luft in rasch ausgehobenen Gräben gelegen, und immer hatte er die Gewißheit gehabt, Teil seiner Artilleriebrigade zu sein, getreuer Nachbar der Infanterie, die ihm früher oder später die Freundeshand hinstreckt oder mit ihm in Verbindung tritt oder den Befehl der Führung und auch seine eigenen Überlegungen weitergibt.

Aber das jetzt? ... Kein Laut, kein Beschuß, der jähe Tod fliegt nicht heran, nichts rührt sich. Und unsere Infanterie ist nicht da, wird auch vor dem Morgen nicht da sein, noch gut, wenn sie am Morgen kommt. Und der Brigadestab? Wie tot, schon seit Mitternacht. Wie kann das sein? Ist das Funkgerät lädiert? Sie haben doch Ersatzgeräte.

Die Wolken sind wieder dichter geworden. Der Mond wird bald untergehen. Erstorbenes Schneefeld, schlechte Sicht. Einen Batterieführer hat Bojew bei sich, die beiden anderen sitzen in kleinen Gräben in der Nähe und warten - worauf? Vielleicht darauf, daß die Deutschen angreifen, obwohl weder Zugmaschinen- noch Lastwagengeräusche zu hören sind, das heißt: Ihre Artillerie zieht nicht zu uns her. Und wenn die Deutschen uns zu Fuß umrunden und direkt auf unsere Kanonen losgehen? Sie sind ungeschützt.

Und wozu stehen wir hier? Auf wen ist zu schießen? Weshalb stehen wir hier?

Eine Batterie hat Bojew schon eigenmächtig abgezogen. Das kann er rechtfertigen. (Nämlich so: Da bei Kassjanow die Fernsprechleitung noch nicht bis zu seiner Batterie führt, soll er sich davonmachen und aufs andere Ufer zu seinen Geschützen gehen. Diesen Befehl hatte er gegeben.)

Aber noch zwei Batterien über die Passarge zurückschicken? Das wäre eine absolut eigenmächtige Veränderung der Stellung, wäre Rückzug. Und das heilige Prinzip der Roten Armee ist: Keinen Schritt zurück! In unserer Armee - ein eigenmächtiger Rückzug? Das erlaubt nicht nur die Seele nicht, das geht einfach nicht. Das ist Vaterlandsverrat. Darauf steht Strafkompanie oder Tod. Völlige Ohnmacht.

Es ist ganz klar: Natürlich muß man zurückgehen, die Abteilung abziehen. Noch klarer - das ist absolut verboten. Wenn du schon umkommen mußt, dann nicht durch deine eigenen Leute.

Seit Balujews Weggang war noch keine Meldung von ihm eingegangen. Doch es gingen andere Meldungen ein, vom Batterieführer links: In 300 Meter Entfernung ein einzelner Reiter Richtung Osten. Mehr war nicht zu erkennen. Zu schießen war ihnen nicht in den Sinn gekommen.

Benutzen die Deutschen Ortsansässige als Kundschafter oder Melder?

Über den linken Beobachtungsstand und den eigenen Schallmeßposten telefonierte Bojew mit dem Führer der Schallmeßbatterie. Die Verständigung über zwei bis drei Einheiten war nicht sehr deutlich: Direkt hinter dem See stehen Deutsche, haben unseren Durchschlagsanzeiger beschossen, einen Mann getötet.

"Sascha, was siehst du? Was hörst du?"

"Links zwei Feuerscheine."

"Und um dich herum? Leute von uns?"

"Niemand. Wir haben hier ein prächtiges Herrenhaus besetzt."

"Ich habe Meldungen, daß die Deutschen sehr bald vorgehen werden. Pack die Geräte ein, solange es noch keinen Beschuß gibt."

"Das geht doch nicht?"

"Was willst du denn noch mit ihnen hören?"

Toplew meldet. Auch er sieht von links her Feuerschein. Ural antwortet nicht. Schlafen die? Sie können doch unmöglich alle schlafen?!

Toplew ist jung, schwächlich. Sie können von der Flanke aus die Kanonen umgehen. Bojew schärft Toplew ein: Alle Geschützbedienungen alarmieren, niemanden schlafen lassen. Karabiner und Handgranaten mitnehmen. Bereit zur Verteidigung der Feuerlinie sein. Verbindung halten. Melden.

Ostanin kam herein: "Genosse Major, wir haben einen netten Einzelhof gefunden, 500 Meter von hier. Übersiedeln wir?"

Hat das Sinn? Während wir dorthin eine Leitung legen, passiert womöglich noch was.

Fortsetzung folgt

 

Alexander Solschenizyn: "Schwenkitten '45", Langen-Müller, München 2004, geb., 205 Seiten, 19,90 Euro

Alexander Solschenizyn: Der 1918 geborene russische Schriftsteller gilt als einer der glaubwürdigsten und unermüdlichsten Kritiker der Menschenrechtsverletzungen im ehemaligen Sowjetreich. Foto: Archiv


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