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15.01.05 / Schwenkitten ’45 Teil VIII. / Geschichte eines Tages und einer Nacht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 2 vom 15. Januar 2005

Schwenkitten ’45 Teil VIII.
Geschichte eines Tages und einer Nacht

Es verging noch eine halbe Stunde. Der Feuerschein links nördlich hat sich verstärkt. In der Nähe sind es schon drei Feuer, weiter entfernt noch ein großes Feuer. Aber kein Beschuß – weder Artillerie noch Granatwerfer. Gewehrfeuer reicht nicht bis hierhin.

Rechts, wo er Kassjanows Beobachtungsstand abgezogen hatte, gab es zwar keinerlei Anzeichen, aber das Geländerelief, die Biegung der Talsenke, lieferte sehr wohl Grund zur Besorgnis.

Jetzt war Ostanin von der vorderen Talsenke zurückgekommen. Er konnte einfach nicht stillsitzen. Er berichtet, daß sich auf jenem Hang Gestalten bewegen, zwei oder drei. Fast hätte er geschossen, hat sich aber beherrscht. Vielleicht war das richtig.

Mit ihren örtlichen Führern können die Deutschen jeden Pfad ausfindig machen, und hinter dem Geländerelief auch ein Bataillon heranführen, sogar mit Schlitten.

Die Sicht ist noch schlechter geworden. Auf 100 Meter ist eine Person kaum noch erkennbar, allenfalls zu erraten, mehr nicht. Und in dieser Dunkelheit mit so vielen Infanteristen vorgehen – ohne Geräusch? Im jetzigen Krieg wird in dieser Weise nicht angegriffen, unmöglich. Einen lautlosen Angriff zu organisieren ist noch schwieriger als einen geräuschvollen. Aber – im Krieg ist alles möglich.

Wenn die Deutschen schon seit 24 Stunden abgeschnitten sind – bleibt ihnen doch nichts übrig als anzugreifen! Die Gedanken wirbeln. Der Brigadestab? Wie konnte man uns so im Stich lassen?

Zurückgehen? Auf keinen Fall. Aber – bis zum Morgen können wir nicht standhalten. Es ist sinnlos, hier zu bleiben. Man muß die Kanonen retten.

Kann man riskieren, noch eine Batterie abzuziehen? Das würde nicht als Stellungswechsel akzeptiert werden. Das wäre eigenmächtiger Rück-zug.

Nun ja, zunächst mal Scherenfernrohre, Funkgeräte, ein paar überzählige Kabelrollen auf Schlitten verladen. Und die Schlitten neben der Batterie aufstellen. Bojew befahl Mjagkow: „Ersatzmagazine für die Maschinenpistolen mitnehmen, Handgranaten so viele wie vorhanden.“ Und noch leiser sprechen. Lautes Reden kann man weithin hören.

Natürlich, sie könnten auch rasch einen Panzer heranziehen. Gegen Panzer sind wir machtlos. Und die Deckungsgräben sind flach.

Der Telefonist ruft Bojew. Zu ihrem Graben sind es zwei Schritt. Wieder ist es der Führer der Schallmeßbatterie. Er ist sehr besorgt: Seinen linken Schallmeßposten haben die Deutschen geschnappt. Von dort hört man nur noch: „Sie kesseln uns ein! Sie haben Schneehemden an.“ Das ist alles.

„Und bei Ihnen, Pawel Afanassjewitsch?“ „Alles noch unklar.“ „Bei mir in der Zentrale – einstweilen auch nichts. Aber die Geräte baue ich ab, sollen nicht verloren gehen. Nun gut. Seien Sie auf der Hut und bauen Sie die Leitung ab.“ Bojew legte den Hörer nicht sofort auf, als warte er darauf, noch etwas zu hören. Es kam nichts mehr. Das ist schon der Kampf. Zu Mjagkow: „Verteile alle, die da sind, in geöffneter Ordnung zur Sicherung im Halbkreis von 200 Metern. Laß einen Mann am Telefon, einen bei den Schlitten.“ Mjagkow ging, um leise seine Anordnungen zu treffen.

Sicherung vorschieben – das ist ein Risiko: Man erkennt zwar früher, kann aber von hier aus nicht schießen, es ginge in die eigenen Reihen. Aber geschlossen zusammenbleiben – da erwischen sie uns wie eine Hammelherde.

Es herrschte keine Aufregung, sondern ruhige, klare Vernunft. Andere Kämpfe gingen Bojew durch den Sinn: die Offensive von Orjol, an der Desna, bei Starodub, bei Retschiza. Überall war der Kampf anders, waren die Tode verschieden. Was aber bei ihm nie vorgekommen war – nie war eine Beschießung vergebens gewesen, nie sinnlos.

Der Triumph beim Kessel von Bobrujsk. Der Marsch durch Polen. Der Brückenkopf bei Pultusk. Wir haben sie stets kleingekriegt. … bis zum Morgen standhalten …

Im Nordosten, zwei Kilometer entfernt knatterte eine MP-Salve. Dann wieder Stille.

Das Schießen kam ungefähr aus der Richtung, in die Balujew gegangen war.

Bei Toplew lagen in den Feuerstellungen neben den Geschützen die Geschosse gestapelt. Doch man würde erst bei Tageslicht schießen können. Und jetzt hatte Bojew befohlen, in allen Feuerstellungen die Karabiner bereitzuhalten, die sonst nie gebraucht wurden. Sie liegen als überflüssig in den Munitionswagen. Für die Kanoniere der Schweren Artillerie ist der Schützenkampf nicht vorgesehen. Die Aufklärer, die Verwaltungszüge haben Maschinenpistolen, und die befinden sich alle in den Beobachtungsständen. Weder voraus noch seitwärts war etwas zu sehen, alles halb verhangen.

Toplew ging ohnehin beunruhigt hin und her, in Unklarheit. Und nach dem Befehl, die Karabiner herauszuholen?

Hier standen acht Kanonen in einer Reihe, wie es selten vorkommt, die Batterien stehen sonst immer getrennt. Nervös ging der kleine Toplew an diesen Ungeheuern entlang. Bei jedem Geschütz befand sich im besten Fall die halbe Bedienung. Die Übrigen hatten es sich in den nahen Häusern bequem gemacht und schliefen trocken und warm. Manch einer trank auch wieder Beuteschnaps. Und die Fahrer schliefen auch irgendwo.

Toplew schärfte allen vier Zugführern ein, die Geschütze bereitzumachen und sich auf die Nahverteidigung vorzubereiten.

Die einen sprangen sofort auf, die anderen widerwillig. Wenn bloß der Sampolit der Abteilung hier wäre, der so oft überall herumlungert – ihn fürchten alle. Aber der Brigadekommissar hatte ihn in Dienstangelegenheiten bis zum Morgen bei sich zurückbehalten.

Die Deutschen werden nicht ohne Artillerievorbereitung angreifen, wenn auch irgendwelche Geschosse, Minen herumschwirren, um zu warnen.

Es ist still. Kein Panzergeräusch. Er horchte, horchte. Es war nichts zu hören. Irgendwie muß es gut gehen.

Toplew ging nach Klein Schwenkitten zum Stabswagen. Denn dort befand sich alles, alle Dokumente. Wenn was? … Dann was?

Er befahl dem Fahrer, beim Wagen zu bleiben, und dem Funker, Ural zu rufen. Dann ging er nach Schwenkitten zurück, zur Feuerstellung.

„Genosse Hauptmann!“, rief der Telefonist gedämpft, der irgendwo im Schatten hockte, „der Abteilungskommandeur für Sie.“ Toplew nahm den Hörer.

Bojew in strengem Ton: „Toplew, wir werden hier eingekreist. Mach verteidigungsbereit!“ Noch ehe er den Hörer zurückgelegt hatte, hörte Toplew: Schuß auf Schuß! Und dann war die Leitung tot, keine Verbindung mehr. Und Toplew spürte etwas Sonderbares: Seine Kniescheiben zitterten ganz von selbst, unabhängig vom Knie sprangen sie rauf und runter, rauf und runter.

Man konnte jetzt nicht die ganze Feuerstellung durch Schreien erreichen. Die Kanonenreihe entlang rannte er zu den Zugführern: Fertig machen zum Kampf! Der Kommandeur wurde schon angegriffen! Jetzt müssen alle ran! Und der Stabswagen? Wenn was? Er schickte einen Mann los, den Wagen mit Benzin zu übergießen. Kommen wir nicht weg, dann verbrennen wir den Wagen.

*

Die Treue zum Vater war der Schlüssel zu Oleg Gussews Seele. Wer ist einem Knaben heiliger und ehrwürdiger als der Vater? Und was hatte ihn mehr gekränkt als die grundlose Degradierung des Vaters in einem der 30er Jahre (Oleg war zehn Jahre alt, aber er begriff es schon) vom Brigadekommandeur zum Oberst. Statt der Raute Schulterstücke. Und sie mußten zwei Zimmer in einer Kommunalwohnung beziehen, im dritten hauste ein Stukatsch. (Der Grund: Jemand in Vaters Dienstbereich „saß“. Doch das erfuhr der Junge erst später.) Und als er heranwuchs? Wollte er auch Soldat werden? Mit 16 Jahren (gerade in den Stalingrader Tagen) setzte er es beim Vater durch: Er durfte den Soldatenmantel anziehen.

Treue zum Vater. Oleg würde lieber hier, bei seinen beiden Kanonen, fallen, als sich zu blamieren und dem Vater Schande zu machen. Er war sogar froh über die jetzige Wendung, die zu ihrer Postierung hier an der Brücke geführt hatte, um den ganz ungewöhnlichen direkten Beschuß mit einer 152er zu sichern. Wenn doch bloß diese deutschen Panzer rascher aus dem Halbdunkel vorstießen.

Heute war für ihn eine unerhörte Nacht, und es war noch mehr Unerhörtes zu erwarten. Obwohl zum vollständigen Munitionssatz je Geschütz 60 Schuß gehörten, brachten sie jetzt mit zwei Zügen nur die Hälfte zusammen. Und zur Geschützbedienung hatten sie nur sieben Mann statt acht. (Denn Lepetuschin …) Doch Gussew holte sich keinen Mann aus einer anderen Bedienung, es wäre falsch gewesen, die anderen noch zu schwächen. Er muß sich mit diesen sieben begnügen. Besser er hilft eigenhändig mit.

Weder die Selbstfahrlafette noch der drohende Oberst waren in der Nähe, doch die Geschütze der 6. Batterie standen an der Brücke, hielten Wacht.

Voraus – nichts als Leere, dunkle Weite, offenbar befinden sich dort keine Einheiten von uns. Aber – da rannten Leute herbei.

Es waren Topographen der Aufklärerabteilung. Einer hinkte, der andere hatte eine ausgerenkte Schulter. Sie waren zur topographischen Einmessung geschickt worden, als es mondhell war, und sind dann in der Dunkelheit stecken geblieben, haben darauf gewartet, daß es wieder heller wird. Sich gegenseitig unterbrechend, erzählten sie: ein ganz merkwürdiger Angriff, schweigendes Heranschleichen. Manche mit Spaten, manche sogar mit Messern, selten ein oder zwei Schuß

Einige Topographen sind noch zurückgeblieben.

Die Schlitten der Schallmeßleute fuhren vorüber, sie hatten nur mit Hilfe der Beute-Lastpferde abgezogen werden können. Die Zugmaschine war im Schnee stecken geblieben, sie schleppten sie ab.

So ist es also. Sind noch Schallmeßleute dort? „Pawel Petrowitsch, wie sollen wir schießen, wenn noch welche von unseren dazwischen sind?“

„Wir müssen noch abwarten“, antwortete Kandalinzew.

Auf dem Ostufer blitzte bald Beschuß auf, bald schwieg er wieder.

Kandalinzew befahl zwei dienstfreien Geschützbedienungen, sich für den Schützenkampf vorzubereiten, und ließ rechts und links sichern. Noch kamen einige auf der Brücke herüber. Auf einer Zeltbahn wurde ein Verwundeter gebracht. Zwei Regimentsaufklärer trugen ihn. Sie konnten ihn kaum schleppen, waren ganz erschöpft. Wer könnte sie abtransportieren?

Hierher – wir werden versuchen, ihn zu versorgen. Oleg Gussew beugte sich über den Verwundeten: Ein Major. Haare wie Flachs. Regungslos.

„Einer von euch?“ „Ja, der Regimentskommandeur. Neu. Ist erst gestern zu uns gekommen.“ „Schwer verwundet?“„Ja, Kopf und Bauch.“ „Wo steht euer Regiment?“ „Weiß der Teufel!“ Unsere Leute lösten die Träger ab bis zum Herrenhof. Kandalinzew befahl: „Bringt ihn mit einem Schlitten nach Liebstadt und kommt sofort zurück.“ In Liebstadt treffen sich sechs Straßen. Gestern Abend kam die Artillerieabteilung unbehelligt durch. Aber wenn man die Deutschen reinläßt, stehen denen alle Wege offen.

„Pawel Petrowitsch, unser Überläufer hat nicht gelogen.“ „Ich habe befohlen, ihm zu essen zu geben“, brummte Kandalinzew. Und was ist mit unserem Batterieführer? Über Funk antwortet er nicht. Und was ist mit der ganzen Abteilung? Der ferne Feuerschein leuchtet schwach her-über. Und die Augen haben sich daran gewöhnt. Dort dunkelt noch ein Grüppchen Unsriger. Sie kommen näher. Und da!!! Und da!!! Hier kann man nicht feuern. Plötzlich: Rechts vorn – wo unsere 4. und 5. Batterie stehen! Dichtes, lautes MG-Feuer. Gewaltiges Auflodern! Auflodern! Danach: Detonation! Detonation!

Aus trübem, nächtlichem Dämmer, aus absoluter Lautlosigkeit krachte es plötzlich in die 4. und 5. Batterie vom Wald rechter Hand, nicht aus Granatwerfern, sondern aus drei oder vier schweren Maschinengewehren und – wer weiß warum – nur Leuchtspurgeschosse. Die Strahlen der verlängerten roten Stäbchen bringen den angekündigten Tod, nur selten erkennt man ihn, ehe er einen erreicht. Und gleich danach schallte es aus jenem Waldstück: „Hurra! Hurra!“ aus mindestens 200 Kehlen. Und sie rannten in hellen Scharen Richtung Geschütze, kaum erkennbar im Flimmern der roten Strahlen. Von den Kanonen lösten sich einige Gewehrschüsse, mehr nicht. Die roten Strahlen glitten zur 4. Batterie hinüber, die 5. wurde schon mit Wurfgranaten eingedeckt. Feuer loderte auf, loderte und loderte. Der Angriff überraschte Toplew am äußersten Rand der 4. Batterie. Sie hatten sich doch vorbereitet, er hatte sie vorbereitet, sie hatten es selbst nicht geglaubt. Die ganze Nacht waren sie auf Posten gewesen, sie waren erschöpft, einige waren eingeschlafen. Und die Deutschen sind drei Mal mehr als wir!

Brüllen? Befehlen? Dazu reicht die Stimme schon nicht mehr. Nicht er ist es, der sie weckt.

Fortsetzung folgt

 

Alexander Solschenizyn: Der Autor berichtet in seiner autobiographischen Erzählung „Schwenkitten ’45“ erstmals über seine Kriegserfahrungen. Dies ist nun Teil VIII der bei Langen-Müller erschienenen Veröffentlichung, die seit Folge 46 in der Preußischen Allgemeinen Zeitung abgedruckt wird. Foto: Archiv


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