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29.01.05 / Mein Abschied / Ruthe Geede, die "gute Seele" unserer Ostpreußischen Familie, erinnert sich, wie sie vor 60 Jahren ihre Heimat verlor

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 4 vom 29. Januar 2005

Mein Abschied von Königsberg
Ruthe Geede, die "gute Seele" unserer Ostpreußischen Familie, erinnert sich, wie sie vor 60 Jahren ihre Heimat verlor

In jedem Jahr um diese Zeit kommen die Erinnerungen, die Träume, diese Bilder, die man nie vergessen hat. Auch nach Jahren, Jahrzehnten nicht. Sie sind in diesen Januarwochen stärker da als je zuvor, weil wieder ein Markstein gesetzt wird: 60 Jahre Vertreibung. Und man wird gefragt und gefordert: "Wie war das damals? Wie hast Du die Flucht erlebt? Du solltest darüber schreiben!" Es ist eigenartig, daß ich es bisher nie getan habe. Nicht, daß ich dieses bedrückende Kapitel aus meiner Biographie gestrichen hätte. Ich war auch nicht blockiert wie viele Landsleute, die über die furchtbaren Ereignisse jener Zeit nicht sprechen wollten, nicht konnten, auch nicht zu Kindern und Enkelkindern.

Es sind wohl die Briefe, die ich in jeder Woche erhalte, in denen Schicksale aufgerollt werden, die jedes nur erdenkliche Maß an Leid beinhalten, das mit Worten kaum zu beschreiben ist. Und so muß man auch zwischen den Zeilen lesen, und das kann wohl nur jemand, der selber jene Hölle erlebt hat. Wenn man auch nur am Kraterrand stand und die glühende Lava einen nicht erreichte oder sie umgangen hat. Aber angesichts der furchtbaren und oft noch immer ungelösten Schicksale, die in den Briefen geschildert oder hinterfragt werden, erhob ich bisher für die Veröffentlichung meiner eigenen Fluchterlebnisse keinen Anspruch, obgleich sie durchaus dokumentarischen Wert haben. Weil ich die Vertreibung nicht als Kind oder junger Mensch erlebte, sondern als erwachsene Frau, als Schriftstellerin, und deshalb auch als Chronistin berichten kann mit den mir nun einmal gegebenen Mitteln. Und darum sagte ich, wenn auch zögernd, zu, als ich gebeten wurde, über das zu schreiben, was ich vor 60 Jahren erlebte - wie ich es erlebte. In meiner Heimatstadt Königsberg, bei der Vertreibung aus dem Paradies meiner Kindheit.

Da, wo ich geboren wurde - in der Nähe des Königstores - und wo ich bis dahin immer gelebt hatte, war meine kleine Welt auch nach den Bombenangriffen im August 1944 noch sichtbar intakt geblieben. Wie ein Wunder war die Dinterstraße verschont worden, wenige Meter weiter schon war mein Königsberg in Schutt und Asche gefallen. Mein Vater war im September gestorben. Wir hatten den an Lungenkrebs Erkrankten nach den Angriffen, die auch seine Klinik zerstörten, zu einer Freundin der Familie nach Fuchsberg gebracht, damit er in Ruhe aus diesem Leben scheiden konnte. Seine letzten Worte : "Der Russe kommt, und ich habe doch keine Waffe!"

Immer wieder habe ich später an diese Worte gedacht, sie waren wie eine Vorsehung gewesen, an die wir nicht glauben wollten oder konnten. Und auch an andere Worte erinnere ich mich noch mit Grauen. Das war in der letzten Oktoberwoche, als ich meine Mutter zu meiner Schwägerin in die Nähe von Meseritz bringen wollte, weil wir sie dort besser aufgehoben glaubten - zu Besuch natürlich, denn der Gauleiter Koch hatte ja das Fluchtverbot verhängt. Im Zug hörten wir plötzlich ein entsetzliches Schreien: "Ich komme aus Nemmersdorf, aus Nemmersdorf! Sie sind tot, alle sind tot!" Wir sahen auf dem Gang eine um sich schlagende junge Frau, die nur mit Mühe von einigen Männern festgehalten werden konnte. Wir wußten noch nichts von dem Russeneinfall und dem furchtbaren Massaker. Da stieg eine erste Vorahnung in uns hoch von dem, was kommen konnte.

Und es kam! Kam mit einer Wucht, wie wir sie nie erahnt hätten. Wir hatten noch Weihnachten bescheiden, aber fast beschaulich mit einem Lichterbaum gefeiert, Mutter war wieder da, denn Königsberg erschien uns sicherer. Immer wieder wurde uns durch Rundfunk und Presse vermittelt, daß die deutschen Soldaten die Russen aufhalten würden. Ich ging wie an jedem Wochentag zu meiner Dienststelle, der Feldbuchhandlung des AOK 18, an der Samitter Allee. Man hatte mich seit 1942 "dienstverpflichtet", allerdings nur halbtags. Ich konnte also als freie Schriftstellerin weiter arbeiten, vor allem beim Reichssender Königsberg. Auch einige Bücher sollten noch herauskommen, zwei bei Jahnke in Leipzig, eines beim Kanter-Verlag in Königsberg, für das es schon 5.000 Vorbestellungen gab - man kann sich das heute kaum vorstellen. War es tatsächlich Ahnungslosigkeit, war es echte Gläubigkeit, daß die Wehrmacht den Russen zurückschlagen würde, war es ein bewußtes Nichtwissenwollen, ein Negieren der aufkommenden Ängste, die wir doch nicht leugnen konnten angesichts der ersten Flüchtlinge aus den Grenzgebieten, oder war es einfach ein Sichfügen in das Schicksal - es ist heute nicht mehr bestimmbar und war es wohl auch damals nicht.

Über diesen Wintertagen zu Beginn des Jahres 1945 lag eine merkwürdige Stille, der Schnee hatte die Trümmer gnädig zugedeckt, ein strahlend blauer Himmel stand über der Stadt - es war, als hielte sie den Atem an. Wenn ich am Morgen zu meiner Dienststelle ging, verzauberte die aufgehende Sonne die bereiften Bäume in den Anlagen am Oberteich in eine glitzernde Märchenwelt. In der Baracke der Feldbuchhandlung war es dann allerdings mit der Idylle vorbei. Die Soldaten, die sich in den engen Räumen drängten, berichteten von der Front, die bei Goldap und Gumbinnen stand. Sie kamen, um für die Kameraden Sachen zu holen, die in der Baracke noch vorhanden waren: Schreibwaren, Hygieneartikel, Textilien, Wollsachen, Dauergebäck, Tabakwaren, Kraftfahrzeugzubehör, sogar Spirituosen. Längst hatte unsere kleine Dienststelle den eigentlichen Rahmen gesprengt, der durch den Namen "Feldbuchhandlung" gegeben war.

Es war eine ganz eigentümliche Einrichtung, die zum WKK I gehörte. Dienststellenleiter war ein Zivilist, ein Buchhändler und Literat, der eine der ältesten Königsberger Buchhandlungen in der Französischen Straße besaß. Besessen hatte, denn die Bomben hatten auch diese so lebhafte Geschäftsstraße zwischen Roßgärter Markt und Münzplatz zerstört. Es gab nur zwei weitere Zivilpersonen in der Baracke, eine Sekretärin und mich, die ich ebenfalls Schreibarbeiten erledigte, aber auch den Soldaten, die Literatur, Schallplatten und Musikinstrumente für ihre Einheiten holten, zur Seite stand. Zur Dienstelle gehörten mehrere Wehrmachtsangehörige sowie zwei französische Kriegsgefangene. Es war schon eine sehr ungewöhnliche Mischung, wie auch das Aufgabengebiet, das sich, je länger der Krieg dauerte, immer mehr veränderte. Es waren hauptsächlich Gebrauchsgüter, die als Restposten angeliefert und hier gelagert wurden, um dann an die Einheiten verteilt zu werden. Da die zur Abholung Kommandierten aus den verschiedensten Einsatzgebieten kamen und in dieser halbzivilen, lockeren Atmosphäre recht gesprächig wurden, konnte man die Baracke als eine Art Stimmungsbarometer ansehen. Und das sank, je länger der Krieg dauerte.

Und dann fällt es jäh auf den Tiefpunkt, als Mitte Januar die Russen in schneidender Kälte zum Großangriff übergehen. Der ganze Osten ist ein Flammenmeer, über das brennende Gumbinnen stoßen die Russen nach Insterburg und weiter auf Königsberg vor. Auf der linken Flanke dieser riesigen Angriffsbewegung beginnt die Offensive auf die Weichselmündung. Von Norden her nähert sich die Walze aus dem Raum Tilsit kommend dem Samland. Königsberg soll eingekesselt werden.

Die Ereignisse überstürzen sich. Das Wort "Flucht" steht auf einmal übermächtig im Raum. Noch gilt offiziell das Fluchtverbot der Gauleitung. Auf Nachfrage wird mitgeteilt, daß an eine Evakuierung nicht zu denken sei, es gäbe keinen Grund dafür! Ein hilfreicher Kamerad von der Dienststelle, Bankangestellter in Hamburg, rät mir, meine Ersparnisse abzuheben und einen Teil auf ein Postsparbuch einzuzahlen. Aus Fuchsberg meldet sich meine Tante, sie will mit dem angeblich letzten Zug nach Königsberg. Ich hole sie vom Hauptbahnhof ab. Die große Halle ist voller Flüchtlinge, vor allem Frauen und Kinder. Es herrscht ein unbeschreibliches Chaos. Da ich meine Tante vom Zug abholen will, muß ich noch eine Bahnsteigkarte lösen! Das Warten auf dem eisigen Bahnsteig will nicht enden. Endlich kommt der Zug. Wir begrüßen uns, sie fragt erstaunt: "Sag mal, hast du gar keine Tasche?" Die Tasche! In ihr sind meine gesamten Ersparnisse und Papiere! Ich stürze die Treppe hinunter, in die Halle und - sehe unter dem Schalter meine Tasche stehen! Mitten zwischen Hunderten von Flüchtlingen. Niemand hat sie genommen.

In der Baracke wird von "Verlagerung" geredet. Und dann fällt auf höherer Ebene die Entscheidung: Die Feldbuchhandlung wird in die Nähe von Berlin verlegt! Die Abfahrt wird auf den frühen Morgen des 22. Januar angesetzt. Die gesamte Belegschaft soll mit. Nach längeren Verhandlungen wird gestattet, daß auch nächste Angehörige mitkönnen. Ich darf Mutter, Schwester und Nichte mitnehmen, wenn Platz vorhanden ist. Jetzt macht sich die gute Kameradschaft in der Baracke bemerkbar - nie wurde von "Kollegen" gesprochen - und man signalisiert mir: Es wird Platz vorhanden sein. Auf mehreren Lkw, die das wichtigste Umzugsgut transportieren sollen.

Das noch immer bestehende Fluchtverbot wird ignoriert! Zur Vorsicht lasse ich mir eine Bescheinigung von der befohlenen Verlegung ausstellen und hole am Vormittag des 21. Januar meine Nichte aus der Schule. Das Goethe- Oberlyzeum liegt am Ende unserer kurzen Straße. Die Zehnjährigen sitzen noch über ihre Diktathefte gebeugt. In einer Stadt, in der sich zwischen Trümmern und Ruinen die Planwagen und Fluchtschlitten drängen. Sie kommen vor allem vom Osten, man hört, daß der Russe schon an der Deime stehen soll. In Eile werden ein paar Sachen gepackt und auf den großen Rodelschlitten verladen. Guter, hilfreicher Schnee!

Das Verlassen des Mietshauses in der Dinterstraße fällt nicht schwer, weil man nicht an einen Abschied denkt, schon gar nicht an einen für immer. In der hinteren Erdgeschoßwohnung hört man das Keuchen der an schwerem Asthma leidenden Frau des Hauswirtes. Er wird nicht weggehen, wohin auch mit der kranken Frau? Der Blick des alten Mannes verfolgt uns noch lange. Am nächsten Morgen beginnt der Exodus. Meine Schwester und ihre Tochter finden auf einem Lkw Platz. Es ist kalt, ein eisiger Wind weht. Für mich und meine Mutter gibt es eine Überraschung. Unser Dienststellenleiter darf mit seinem Pkw fahren. Er nimmt uns mit. Allerdings bekommt er kein Benzin, der Wagen wird von einem Lkw geschleppt.

Nach Stunden erreichen wir durch verstopfte Straßen hinter der südlichen Stadtgrenze die Autobahn. Und auch hier: Wagen an Wagen, eine endliche Kolonne von Autos und Pferdefahrzeugen, Schlitten und Menschen, die nur ihre Füße zur Flucht haben. Es macht mich doch betroffen, daß ich in einem - wenn auch alten und kalten - Auto sitze und den kalten Wind nur durch eine zerbrochene Scheibe spüre. Bald wird Zinten kommen - ich denke an herrliche, warme, unbeschwerte Sommertage in der Montitter Wassermühle, dem Paradies meiner Kindheit. Wie weit, wie unfaßbar weit liegt das zurück.

Plötzlich ein Knall, ein Ruck: das Schleppseil ist gerissen! Wir liegen fest, mitten in dem träge fließenden Flüchtlingsstrom. Der Kamerad, der uns fährt, winkt verzweifelt, niemand bemerkt es auf dem Lkw, der langsam vor unsern Augen verschwindet. Die Männer steigen aus, die Trosse ist bis auf einen zerfetzten Rest nicht mehr vorhanden. Kopfschütteln: Wie konnte sie bloß reißen! Nach Stunden werden wir wieder geschleppt, diesmal von einem Wagen der Organisation Todt - zurück nach Königsberg. Wir hadern mit dem Schicksal und tun ihm doch Unrecht: der Lkw mit der abgerissenen Trosse wurde bei Elbing von den Russen beschossen und blieb liegen. Das haben wir erst viel später erfahren!

Wir sind also wieder in der Baracke, in der sich noch einige Männer aufhalten, die mit einem späteren Wagen mitfahren sollten. Was sich in den nächsten Tagen ereignet, bleibt in der Erinnerung verschwommen. In der Baracke herrscht ein stetes Kommen und Gehen, es sind Freunde und Bekannte, vor allem aus dem Kulturleben, aber auch Unbekannte, die hier Zuflucht suchen. Noch einmal bin ich in unserer Wohnung, hole einige Papiere. Wäsche und Binden für Mutters kranke Beine. Und, nach einem Blick in die fast leere Speisekammer, ein großes Weckglas mit Schweinefleisch! Der Ostwind bringt ein dumpfes Grollen mit, der Russe steht schon bei Neuhausen, meinem geliebten Neuhausen, in das uns immer die Kleinbahn vom Königstor gebracht hatte.

An dem Tag, an dem es die russische Walze überrollt, rüsten wir zur zweiten Flucht. Inzwischen haben wir erfahren, daß der Weg nach Süden nicht mehr frei ist, der Russe ist durchgebrochen, soll Tolkemit erreichen. Die Menschen flüchten über das Haff auf die Frische Nehrung, eines der furchtbarsten Kapitel der Vertreibung beginnt. Wir müssen also irgendwie nach Pillau. Dort soll die Marine mit ihren Schiffen die Menschen an sichere Küsten bringen. Es ist auch für uns die einzige Möglichkeit, aus Königsberg herauszukommen. Aus einer Stadt, die der Russe mit tödlichem Griff zu umklammern beginnt.

Irgendwie ist ein Wunder geschehen, die Männer haben einen Bus aufgetrieben, in dem wir alle, die noch in der Baracke hausen, Platz finden. Und noch einige andere, die zu uns geflüchtet sind. Nur unsere beiden Franzosen müssen wir auf Befehl zurücklassen, obgleich sie uns inständig um die Mitnahme bitten. Aber ihnen, so glaubt man, würde der Russe nichts tun! Ich weiche nicht von meiner Mutter, denn ich hatte sie inzwischen beinahe verloren - durch eine gescheiterte zweite Aktion meines Dienstellenleiters mit seinem Auto, in dem er auch meine Mutter mitnehmen wollte. Ich weiß heute noch nicht, was mich bewogen hatte, sie mitfahren zu lassen, während ich zurückblieb und auf eine nächste Fahrgelegenheit hoffte. Nach wenigen Stunden waren sie wieder in der Baracke, sie kamen nicht mehr durch, und ich hatte beschlossen, daß wir uns nie mehr trennten, komme, was wolle.

Es kommt mit einer eiskalten Nacht, in der das Thermometer unter minus 20 Grad sinkt, von Feuern erleuchtet, die nun auch im Westen aufflammen: der Weg nach Fischhausen über Seerappen scheint auch nicht mehr frei zu sein. Der Bus durchfährt die wohl einzige noch passierbare Schneise in das Samland, um nach großem Bogen aus nördlicher Richtung Pillau zu erreichen. Das Schneelicht, der sternenklare Himmel, die zuckenden Feuermale, die Dörfer mit ihren im Schnee kauernden Häusern, die einsamen Höfe, in denen alles Leben erloschen scheint, es ist alles so unwirklich, so gespenstisch. Einer aus unserm Bus, der Schauspieler Dr. Karl Pempelfort, beginnt Verse zu sprechen. Und dann springt er plötzlich auf, reißt die Arme hoch und schreit: "Leichen! Leichen!"

Wir denken zuerst, daß dieser Ausruf zu seiner Deklamation gehört, aber dann sehen wir sie, halb zugeweht am Grabenrand entlang der einsamen Landstraße: Männer, Frauen und Kinder, mit den Gesichtern im Schnee, die Arme ausgebreitet, erschossen! Eine lange, lange Reihe von Toten. Wir ahnen nicht, wer sie sind, woher sie kamen, wer sie getötet hat. Wir wissen nichts und wollen es wohl auch nicht wissen, weil auf einmal das Grauen im Raum steht, das wie ein Würgegriff den Hals zu umklammern scheint.

Dieser Würgegriff wird noch stärker, als wir am kalten Morgen Pillau erreichen und die Menschentrauben am Kai sehen: Hunderte, Tausende, Zehntausende, die wie wir zum letzten Hafen geflüchtet sind.

Ist es auch der rettende Hafen? Es erscheint unmöglich, daß alle diese Menschen auf Schiffen den Weg aus der Hölle finden. Wir ahnen noch nicht, daß dies erst der Beginn einer beispiellosen Rettungsaktion ist, mit der weit über zwei Millionen Menschen über See gerettet werden konnten. In diesen letzten Januartagen gewinnen von Pillau aus 96 Transporte die offene See, allein an diesem 28. Januar laufen acht Schiffe mit 21.300 Menschen aus, weitere acht Schiffe werden gerade beladen. Auf einem sind auch wir. Aber bis wir endlich an Bord gehen können, müssen wir noch lange Stunden in Ungewißheit und Angst leben.

Aber wo und wie leben? Der Sturm fetzt über den Kai, ein eisiger Sturm, der selbst durch dicke Decken und Pelze dringt. Die Menschen kauern wie eine Herde eng zusammen, schützen sich gegenseitig, vor allem die Kinder, die unter die Röcke der Frauen kriechen. Hilfreiche Hände verteilen irgendwo warme Suppen und Tee. Uns Frauen wird empfohlen, zuerst einmal im Bus zu bleiben, wo wir wenigstens vor dem eisigen Wind geschützt sind. Ich halte meine Mutter eng umschlungen, sie weint nicht, aber ihr Körper zittert. Es ist weniger die Angst um das eigene Leben als die Ungewißheit, was wohl aus ihrer geliebten Enkeltochter geworden ist, die wir mit ihrer Mutter auf der Autobahn verloren haben.

Jedesmal, wenn einer der Männer den Bus betritt, blicken wir ihn hoffnungsvoll an. Aber immer ein Kopfschütteln. Das bedeutet: keine Bordkarte! Der Abend kommt, die Nacht! Jemand hat ein leerstehendes Haus in Hafennähe ausfindig gemacht, dort können wir die Nacht verbringen. Wir weigern uns, gehen dann doch mit. Man weist uns in eine offen stehende Wohnung. Die Menschen, die hier lebten, haben wohl erst vor kurzem ihr Heim verlassen, alles ist noch so geordnet, so gepflegt, wirkt so bewohnt. Selbst die Speisekammer ist noch gefüllt. Ob wohl in unserer Wohnung in der Dinterstraße jetzt auch Flüchtlinge einen Unterschlupf gefunden haben? Dieser Gedanke hilft mir, die Skrupel zu überwinden, ungebetener Gast in einer fremden Wohnung zu sein.

Die Nacht ist grauenhaft. Immer wieder Alarm, Bombeneinschläge, Brände. Meine Mutter weigert sich, in den Keller zu gehen, sie will nicht mehr. Kurze Atempausen mit leichtem Schlaf. Endlich der Morgen und mit ihm die erlösende Meldung: "Wir haben die Passierscheine!"

Es ist ein Minensuchboot, das als Lazarettschiff eingesetzt ist. Es soll die "Adler" sichern, einen 1.500-Tonnen- Frachter einer Bremer Reederei. Erst Jahre später stellen wir fest, daß mein Bruder als Arzt diesen Transport begleitet. Hätte meine Mutter wenigstens das gewußt, vielleicht wäre ihr alles leichter gefallen.

Wir müssen uns durch die Menschenmassen zum Schiff durchkämpfen. Ich weiß, was viele denken: Warum die? Warum nicht wir? Es sind nur wenig Zivilpersonen an Bord des Bootes, das vor allem Verwundete birgt. Sie liegen überall, in den Gängen, auf dem Deck, schon im Hafen ist das Stroh durchnäßt, verharscht bei dem Eiswind. Ich finde für meine Mutter einen Sitzplatz in einer Ecke unter Deck.

Das Schiff legt ab. Ich stehe an Bord mit meinen Kameraden, es sind keine Ostpreußen, sie verlassen nicht wie ich die Heimat. Noch heute sehe ich, wie sie im kalten Licht dieses Januartages zurückbleibt, ein schmaler Küstenstrich, der langsam in der aufgewühlten See versinkt. Ich denke: Einmal wirst du wiederkommen, wirst die Küste aufsteigen sehen, wirst hier, ja, hier an Land gehen, wirst wieder in der Heimat sein ... Ja, so habe ich damals gedacht!

Ohne Blick zurück: Nach der Eroberung durch sowjetische Truppen verlassen Zivilisten die Hauptstadt Ostpreußens Fotos (2): Ullstein/Archiv

Kampf ums Überleben: Von Pillau aus konnten Zigtausende über See gerettet werden - aber längst nicht alle fanden einen Platz an Bord.


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