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29.01.05 / Ihr Leid wird nie ganz aufgearbeitet werden / Über den Versuch, das Schicksal der NKWD-Lager-Insassen in Tost zu klären

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 4 vom 29. Januar 2005

Ihr Leid wird nie ganz aufgearbeitet werden
Über den Versuch, das Schicksal der NKWD-Lager-Insassen in Tost zu klären

Bereits im Januar 1945 war für Schlesien der Zweite Weltkrieg zu Ende. Am 23. Januar fiel die sowjetische Armee - 1. Ukrainische Front unter Marschall Konjew - in Tost bei Gleiwitz ein und zerstörte teilweise das bis dahin vom Krieg verschonte Städtchen durch Brandschatzung. Die Toster hatten versäumt, die Alkoholbestände der Brauerei und der Schnapsfabrik zu entsorgen. Dies erledigten schnell und gründlich Angehörige der Roten Armee.

In Tost gab es auch eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts errichtete psychiatrische Klinik, in der während des Krieges etwa 700 ausländische Offiziere und etwa 250 Juden interniert waren. Im Frühjahr 1945 wurde die Psychiatrie vom NKWD in ein "Gefängnis / Lager" umfunktioniert - ohne die Möglichkeit, Musik zu betreiben, ohne Besuche und Pakete des schwedischen Roten Kreuzes, ohne Ausflüge zum Schwimmen wie zuvor. Im Mai / Juni zogen Hunderte willkürlich verhaftete - zuvor gefolterte - Oberschlesier ein, die noch Paketreste vom schwedischen Roten Kreuz vorfanden. Kurz darauf kamen einige Lkw-Ladungen mit weiteren Elendsgestalten hinzu, die nach dem Fall der "Festung Breslau" Anfang Mai zunächst in die Lager von Kletschkau und Hundsfeld gesteckt wurden.

Mein Vater Hans-Werner Rasmussen aus Hainichen / Sachsen gehörte zu den 3.654 Sachsen, Brandenburgern, Sachsen-Anhaltinern und Sudetendeutschen, die im Mai / Juni 1945 in ihren Heimatorten von der Straße weg verhaftet und vom überfüllten Zuchthaus Bautzen - auch "Gelbes Elend" genannt - in drei Viehwaggontransporten im Laufe des Sommers nach Tost verlegt wurden. Dort wurden nun über 4.500 Menschen in einem Gebäudekomplex, der seinerzeit für 500 Kranke ausgelegt war, zusammengepfercht.

Mein Vater wurde als "Besitzer einer Fabrik" verhaftet, wie ich 1994 aus den Transportlisten erfuhr. Das hat ihn das Leben gekostet. Vater ließ eine unversorgte Frau mit fünf kleinen Kindern zurück. Wir wurden sofort aus dem Haus geworfen. Alles, was wir Ende 1945 erfuhren, war, daß der Vater im September bereits im Lager gestorben war. Er gehörte zu den über 3.000 - von etwa 4.560 - Verhafteten, die auf ganz elendige Weise innerhalb von sechs Monaten umkamen: an Ruhr, Rose, "Herzinsuffizienz", Verletzungen bei der Zwangsarbeit oder Mißhandlungen durch die Wachleute, Hunger, miserabler Hygiene und einfach Erschöpfung. Eine ungeheuerliche Todesrate von 66 Prozent.

Gleich mach der Wende begann ich, dem Schicksal meines Vaters nachzuspüren. In Tost wurde bereits 1991 mit Hilfe der noch ansässigen Deutschen, die in Deutschen Freundschaftskreisen e. V. zusammengeschlossen sind, ein Kreuz am Rande der Massengräber aufgestellt. Es erinnert an unglaubliche Schicksale: Gefangene, die auf den umliegenden Domänen die Ernte einbringen mußten, wurden gezwungen, Kartoffeln aus der Furche mit dem Mund zu sammeln - mit einem Stiefel im Nacken, oder mit der bloßen Hand Disteln auszureißen, Korngarben auf ausgestreckten Armen zum Lager zu tragen, mit der Axt gefällte Baumstämme ins Lager zu schleppen, Kohlen aus abgesoffenen Oderkähnen zu bergen. Das alles bei Wassersuppe und anstrengenden Fußmärschen zu Kilometer entfernten Arbeitsplätzen.

Im November 1945 wurde das Lager aufgelöst. Etwa 800 "lebende Leichen" wurden entlassen. Sie wurden mit wenig Verpflegung auf die Straße gestellt und mußten sehen, wie sie nach Hause kamen. Viele fielen gleich vor dem Tor um und wurden von mitleidigen Tostern unter Lebensgefahr nach Hause mitgenommen. Eine große Zahl wird es nicht geschafft haben, nach Hause zu kommen. Und niemand wird erfahren, wo sie liegengeblieben sind. Manche wurden zu Hause zunächst vor den Kindern versteckt, bis sie wieder einigermaßen menschlich aussahen. Geredet haben die wenigsten der Männer über ihre Erlebnisse.

Wer noch gehfähig war, ging Ende November auf Transport nach Graudenz / Westpreußen. Die Gefangenen wußten immer noch nicht, was ihnen vorgeworfen wurde. Der Aufenthalt in Graudenz währte nur etwa vier Wochen, dann ging es weiter ins Lager Fünfeichen bei Neubrandenburg. Dieses wurde 1948 aufgelöst, was für manche Häftlinge allerdings nur eine weitere Haft im "Speziallager" Buchenwald bedeutete. Das wurde wiederum Anfang 1950 aufgelöst, wonach immer noch über 3.400 Häftlinge der Volkspolizei zur weiteren Verhaftung und Verurteilung übergeben wurden. Bis zu diesem Zeitpunkt wußte keiner der Häftlinge, warum er verhaftet worden war, und warum er nun schon mehr als vier Jahre in schrecklichen NKWD-Lagern zubringen mußte. Dies wurde den Betroffenen im Frühjahr 1950 im Zuchthaus Waldheim erklärt, wo die gefürchteten Prozesse stattfanden. Die Urteile waren konstruiert und standen bereits vor Prozeßbeginn fest.

Noch während meines ersten Besuches in Tost faßte ich den Entschluß, die Geschichte des Lagers aufzuarbeiten. Bislang hatte sich niemand darum gekümmert, kein Suchdienst, kein Historiker, kein Journalist - an die ich mich nach der Wende wandte, in der Hoffnung etwas über das Lager, das zwischenzeitlich in der Republik Polen lag, zu erfahren. In meiner Datei befinden sich nunmehr mehr als 4.560 Daten von Häftlingen - ich habe unzählige Berichte archiviert, habe die russischen Transportlisten Bautzen-Tost zurückübersetzt und konnte damit auch noch im Jahr 2004 sechs Angehörigen von dort Verstorbenen wenigstens die Gewißheit geben, wo der Vater, der Großvater umgekommen ist. Ich organisiere auch am 21. Mai wieder eine Busfahrt von Sachsen aus. Nähere Informationen bei Sybille Krägel, Wittekopsweg 36 a, 22415 Hamburg, Telefon (040) 53 32 05 99, Fax (040) 53 32 05 77, E-Mail sybkrägel@aol.com . S. Krägel

Von den NKWD-Lagern östlich von Oder und Neiße gibt es bislang außer zu Tost nur noch Erkenntnisse über das NKWD-Lager Landsberg. Hier wenden sich Interessierte an die Stiftung Gedenkstätte Buchenwald, Dir. Haus 5, 99427 Weimar-Buchenwald.

Hinweis: Immerhin ein Schild erinnert an das Lager. Foto: Krägel

 

NKWD-Lager Tost - über 3.000 wurden namenlos verscharrt

Im Sommer 1945 wurden von Bautzen aus - vermutlich immer wenn dem Zuchthaus Bautzen Überfüllung drohte - in Viehwaggontransporten Tausende ziviler Häftlinge nach Tost verlagert. Die Transporte dauerten zwischen fünf und sieben Tagen bei mangelhafter Verpflegung, glühender Hitze. Unterwegs Verstorbene wurden namenlos an Haltepunkten am Bahndamm vergraben. Im Lager befanden sich bereits 1.000 Schlesier aus Breslau, Ober- und Niederschlesien.

Eine Transportliste vom Suchdienst des DRK nennt 3.654 Namen - auf Russisch. Der Suchdienst besitzt ebenfalls eine der in Tost heimlich geführten und ebenso heimlich aus dem Lager geschmuggelten Sterbelisten mit 1.304 Namen. Es soll etwa 30 Frauen im Lager gegeben haben, einige standen auf den Transportlisten, alle überlebten. Etwa 60 Jugendliche zwischen 14 und 22 Jahre konnten ermittelt werden. Die Häftlinge wurden seinerzeit in Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und dem Sudetenland sowie in Schlesien verhaftet.

Tost wurde im November / Dezember 1945 wieder aufgelöst, 800 Transportfähige gingen nach Graudenz / Westpreußen und von dort vier Wochen später nach Fünfeichen. Tost war ein Zwangsarbeiterlager, wo die Häftlinge zur Ernte - meist mit den Händen - auf den verlassenen Domänen und zur Waldarbeit eingesetzt wurden. Die Bewacher gingen hier besonders grausam mit den Häftlingen um, die für diese schwere Arbeit völlig unzureichend ernährt wurden. Donnerstags gab es die wöchentliche Schnapsration für die Bewacher, dann folgten Tage, die die Häftlinge besonders fürchteten. Man zwang sie unter anderem dazu, lebende Mäuse und Frösche zu verschlucken. Normal waren auch fürchterliche Schläge bis zum Tod. Zwischen Juni und Dezember starben hier über 3.000 Männer. Diejenigen, die im Lager starben, kamen in Massengräber am Rande von Tost. Diejenigen, die während der Außenarbeit umkamen, wurden an Ort und Stelle notdürftig beerdigt.


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