25.04.2024

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05.02.05 / Versammlung der Nichtsnutze

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 5 vom 05. Februar 2005

Versammlung der Nichtsnutze
von Willi Wegner

Als Frau Sonja die neuen hauchzarten Strümpfe über ihre wohlgeformten Beine streifte, entdeckte sie eine Laufmasche. Ihr Ärger dauerte nur einige Sekunden, dann griff sie zu einem neuen Paar. Die laufende Masche kümmerte sie nicht mehr.

Die Masche jedoch lief weiter. Sie hörte auch dort nicht auf zu laufen, wo der Strumpf der Frau Sonja endete. So als wäre der Leibhaftige hinter ihr her, setzte sie ihre Lauferei fort. Sie lief zur Tür hinaus und auf den Korridor, ins Treppenhaus, rutschte auf dem Geländer nach unten und war auf der Straße. Weiter ging es, immer weiter durch den Abend, hinein in die Innenstadt.

Da sie aber durchsichtig und somit unsichtbar war, wurde die Masche von keinem Menschenauge wahrgenommen. Darum wunderte sie sich natürlich sehr, als sie plötzlich, während sie durch die Bahnhofstraße lief, völlig unerwartet angesprochen wurde: "Hallo, wohin so eilig?" - "Keine Ahnung", sagte die kleine Masche. "Ich will nur laufen. Laufen, laufen ... Alles andere ist mir gleichgültig. Wer sind Sie denn?" - "Ich bin ein Webfehler", antwortete der Unbekannte. "Ich habe es ein wenig mit dem Herzen, und deshalb möchte ich Sie bitten, nach Möglichkeit nicht so zu rennen. Die Versammlung beginnt doch erst um acht Uhr." - "Welche Versammlung?" fragte die Laufmasche. "Unsere Versammlung!" stieß der Webfehler etwas atemlos hervor. "Die Versammlung der Nichtsnutze. Einmal im Jahr vor Karneval kommen wir zusammen. Hallo - dort an der Ecke wartet schon mein Freund, die falsche Kragenweite."

So geschah es, daß die kleine Laufmasche der Frau Sonja mit in die Versammlung der Nichtsnutze geriet. Der Webfehler gehörte dem Vorstand an, bat um Ruhe und begann mit den Worten: "Liebe Mitnichtsnutze! Auf unserer heutigen Jahresversammlung muß ich leider bekanntgeben, daß sich die meisten unserer Mitglieder mit den Beiträgen im Rückstand befinden ..." Danach verlas die falsche Kragenweite den Kassenbericht und ermahnte die Beitragsrückständler um eine größere Zahlungsdisziplin.

Hierauf ging man zur Tagesordnung über und akzeptierte unter anderem die Aufnahme der kleinen Laufmasche in den gemeinnützigen Verein der Nichtsnutze. Sie bekam die Mitgliedsnummer 3456 und war nun ebenfalls als Nichtsnutz organisiert. Sie war stimmberechtigt und beitragspflichtig geworden.

Allem Anschein nach aber schien die kleine Laufmasche das Ereignis wenig zu würdigen. Sehr ungebührlich rannte sie zwischen den Stuhlreihen hin und her, lief die Wände entlang, gehetzt und aufgeregt, hastend und ohne Stillstand. Die anderen Nichtsnutze verlangten deshalb den sofortigen Wiederausschluß des neuen Mitglieds. Die vielen anwesenden Webfehler, Mißtöne, Sodbrenner und falschen Kragenweiten schrieen Zetermordio. "Es ist unmöglich, so einen Irrwisch aufzunehmen!" riefen sie. Der Vorstand sah sich deshalb zu folgenden Worten veranlaßt: "Liebe Mitnichtsnutze! Es ist das erste Mal, daß unseren Reihen eine Laufmasche angehört. Ich bitte zu bedenken, daß eine Laufmasche laufen muß. Nichts in der Welt wird sie davon abhalten können. Meines Erachtens liegt eine böswillige Absicht des Neumitglieds 3456 nicht vor."

Nun war es jedoch geschehen, daß die kleine Laufmasche bei ihrer unausgesetzten Hin- und Herlauferei rein zufällig den Notausgang des Vereinslokals der Nichtsnutze gefunden hatte ...

Wieder also war sie unterwegs in den Straßen der Stadt und lief die ganze Nacht hin und her. Am nächsten Morgen jedoch geriet sie in das Erdgeschoß eines großen Kaufhauses. Und was bisher keinem gelungen war - hier gelang es einem schwarzbekittelten weiblichen Wesen der Strumpfabteilung: Die kleine Masche fühlte einen Stich in ihrem Herzen, und schon war es passiert - man hatte sie aufgenommen!


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