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12.02.05 / Nichts mehr zu verlieren / Tschernobyl-Opfer versuchen, mit Hungerstreik auf sich aufmerksam zu machen

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. Februar 2005

Nichts mehr zu verlieren
Tschernobyl-Opfer versuchen, mit Hungerstreik auf sich aufmerksam zu machen

Kaum jemand nimmt Notiz von ihnen, kaum wird über sie berichtet: die Menschen, die am 26. April 1986 in Tschernobyl oder der näheren Umgebung Opfer der weltweit bisher schwersten Reaktorkatastrophe wurden. Vielleicht sind die Bilder, die damals um die Welt gingen, einigen noch im Gedächtnis: Die Unwissenheit oder das Nichtwissenwollen der Verstrahlten von der Gefahr, in der sie sich befanden, konnte im Westen niemand so recht verstehen. Viele Menschen starben kurz nach dem Unfall, andere bekamen die Folgen erst Jahre später zu spüren: Verkrüppelungen, Unfruchtbarkeit und Krebserkrankungen nahmen in der Region immer mehr zu.

Seit dem 12. Januar ist in St. Peterburg eine Gruppe von Strahlenopfern der Tschernobyl-Atomreaktorkatastrophe in den Hungerstreik getreten. Sie wollen damit die Welt auf die inzwischen 19 Jahre anhaltenden Qualen und die permanente Mißachtung, die ihnen sowohl von seiten des Staates als auch von den Mitmenschen entgegengebracht wird, aufmerksam machen.

1986 wurden Freiwillige, die an den Aufräumarbeiten in Tschernobyl teilnahmen, als Helden gefeiert. Es waren überwiegend junge Menschen, die sich ohne Kenntnis der Gefahr, in die sie sich begaben, und ohne Schutzkleidung mit bloßen Händen in gewöhnlichen Eimern den kontaminierten Schutt einsammelten. Heute, nach 19 Jahren, sind diese Menschen zwischen 40 und 50 Jahren alt; sie sehen uralt aus, können sich kaum auf Krücken halten, leiden an unheilbaren Krankheiten. Wie viele von ihnen inzwischen verstorben sind, bleibt geheim. Eine offizielle Todesfallstatistik gibt es nicht. Älteren Berichten zufolge wird die Zahl der Strahlenopfer in der Ukraine auf 3,3 Millionen geschätzt, davon 1,5 Millionen Kinder. Nach einer Statistik der Universität Kiew soll ein Drittel aller Neugeborenen genetische Abweichungen aufweisen. Wissenschaftler rechnen damit, daß noch drei Generationen an den Strahlenfolgen zu leiden haben.

Damals wurden den heldenhaften Helfern als Gegenleistung dafür, daß sie ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel setzten, Geld und Privilegien versprochen. Es wurde ein Gesetz erlassen, in dem ihnen qualifizierte medizinische Hilfe, Rehabilitation, die Verbesserung der Lebensverhältnisse durch soziale Privilegien, höhere Gehälter und Renten garantiert wurden. In der Praxis erwies sich das Gesetz von Anfang an als Blendwerk. Die größte Hürde für die Betroffenen war, als Invalide infolge der Verstrahlung überhaupt anerkannt zu werden. Es wurde ihnen immer wieder erklärt, die Strahlung in der Zone sei nur geringfügig höher gewesen als die eines medizinischen Röntgengerätes, ein Zusammenhang zwischen dem Reaktorunfall und ihren Erkrankungen infolgedessen nicht ableitbar. Die Sterblichkeit unter den Invaliden sei auf "psychologische Faktoren und Alkoholismus" zurückzuführen. Auch in der russischen Presse wurden die Opfer negativ dargestellt. Es hieß, sie simulierten nur, verstrahlt worden zu sein, um sich die staatliche Förderung zu erschleichen, tatsächlich seien ihre Probleme gar nicht so schlimm. Die Folge einer solch zynischen Haltung gegenüber den Geschädigten war, daß todkranke Menschen in Armut leben mußten, Hunderttausende ohne medizinische Hilfe vorzeitig starben, Witwen mit ihren oft ebenfalls erkrankten Kindern allein gelassen wurden.

Es existiert zwar eine Hilfsorganisation "Tschernobyl", doch soll diese der Regierung nahestehen. Auch verheimlichen staatliche Ärzte den Opfern ihre Diagnosen. Einige Ärzte gaben zu, vom Gesundheitsministerium Anweisungen erhalten zu haben, nach denen sie die Feststellung eines Zusammenhangs von Erkrankungen mit radioaktiver Bestrahlung vermeiden sollen. 2001 wurde Tschernobyl-Opfern eine Entschädigung zwischen 30 und 90 US-Dollar pro Monat gesetzlich zugesichert; eine Computertomographie kostet aber allein 150 US-Dollar, die Kosten für Medikamente übersteigen diese Preise um ein Vielfaches.

Obwohl der radioaktive Ausstoß von Tschernobyl zehnmal höher war als der in Hiroshima und Nagasaki, wurden die Menschen erst Tage nach dem Unfall evakuiert und über die Tragweite des Geschehenen im Unklaren gelassen. Viele Strahlenopfer wandten sich in den Folgejahren wegen der Willkür und der Untätigkeit der Mächtigen an die Gerichte, um ihr garantiertes Recht zu bekommen. Doch auch hier stießen sie auf verschlossene Türen. Jahrelang weigerten sich die Gerichte, Entschädigungsanträge überhaupt zu bearbeiten, oder sie setzten so lange Fristen, daß Tausende Opfer starben, ehe ihr Prozeß begann. Diejenigen, die sich an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wandten, erfuhren auch hier keine Unterstützung. Sie wurden an die Regierung der Russischen Föderation verwiesen, die diese Frage entscheiden müsse. Die hatte es jedoch nicht eilig damit. Am 26. April 2004, dem 18. Jahrestag der Katastrophe, erließ Präsident Putin einen Ukas, in dem die Rechte der Opfer weiter eingeschränkt wurden. Dies empfanden die Betroffenen als puren Zynismus.

Nach diesen Rückschlägen wollten sie sich nicht länger abspeisen lassen. Nachdem sie sich jahrelang gesetzlicher Mittel bedient hatten, um für ihre Rechte zu kämpfen, sind sie nun zum Äußersten bereit. Mit landesweiten Protestaktionen wollen sie auf sich aufmerksam machen. So begannen sie schon im Dezember 2004 in St. Petersburg einen Hungerstreik. Sie forderten, daß das Oberste Gericht der Russischen Föderation über Höhe und Art der Entschädigungen entscheiden solle. Als der für Menschenrechte zuständige Minister Lukin ihnen Hilfe versprach, unterbrachen sie ihren Hungerstreik. Doch die versprochene Unterstützung erwies sich wieder einmal als Verhöhnung: Die Tschernobyl-Opfer sollten als Entschädigung einen minimalen Rabatt von unter zwei Prozent für die kommunalen Dienstleistungen erhalten bei gleichzeitiger Erhöhung derselben um 30 Prozent.

Deshalb haben sie ihren Hungerstreik wieder aufgenommen. Auch wenn die zensierte russische Presse keine Notiz von ihren Aktionen nimmt und auch international kaum etwas bekannt ist über die Situation der Strahlenopfer, wollen sie weiterkämpfen. Sie haben nichts mehr zu verlieren, außer ihrer Menschenwürde. Um sich diese zu bewahren, wollen sie vor die Weltöffentlichkeit treten. Sie sammeln Beweise für den internationalen Gerichtshof in Den Haag. Sie wollen alles aufdecken: die Lügen der Regierung, die Willkür der Ärzte, die Verletzung ihrer Rechte. Manuela Rosenthal-Kappi

Vergessene Opfer: Die Mutter eines russischen Feuerwehrmannes weint am Grab ihres Sohnes. Er war einer der Helfer, die ungenügend ausgerüstet in das Katastrophengebiet geschickt wurden. Foto: dpa


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