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26.02.05 / Doktor Eisenbart in Masuren

© Preußische Allgemeine Zeitung / 26. Februar 2005

Doktor Eisenbart in Masuren
von Klaus Weidich

Tief versteckt in masurischer Weitläufigkeit stand irgendwo am Ortseingang das kleine Anwesen des Schusters Karl Buttgereit. Man konnte ihm nichts Besonderes zur Last legen, dem kleinwüchsigen Schuster, außer, daß er im Rücken nicht mehr ganz gerade war. Schon früh beklopfte er das Leder. Brachte ihm sein Fleiß auch Ansehen ein - Wohlstand brachte er ihm nicht. Fast täglich war in seinem Hause Schmalhans Küchenmeister. Das vergrämte Gesichtchen seiner Angetrauten war daher hohlwangig und die Augen voller gehässiger Blicke. Selbst an beiden Kindern, ein Mädchen und ein Bube, waren höchstens die ewig verschnupften Nasen erwähnenswert.

Einzig die Kuh Martha gehörte auffällig ins Bild gerückt. Ihre Vorzüge würden Seiten füllen. Daher nur das Notwendigste: Die Kuh Martha besaß ein ausdrucksvolles, wenngleich auch etwas zu lang geratenes Gesicht. Dazu ein neugierig blickendes Augenpaar und ein dekoratives Gehörn, welches ihr sichernde Distanz garantierte. Selbst für das karge Überleben der ewig hungrigen Schusterfamilie fehlten der Kuh Martha nicht die erforderlichen Voraussetzungen. Tief unter ihr waren sie angebracht, und Schuster Buttgereit wußte auf wunderbare Weise den Mechanismus dazu in Gang zu setzen. Weiß und fettig rann es aus der Kuh Martha heraus.

Eines Tages aber, man getraut sich fast gar nicht, das Unglück zu erwähnen, verhielt sich die Kuh Martha äußerst ungewöhnlich. Stumm und reglos und so starr wie ein Holzbock stand sie auf ihrem Platz. Sie ließ auch nichts Grünes mehr hinter sich fallen, und das war allerhand. Immense Sorgen machten sich in der Schusterfamilie breit, und sie schick-te deshalb um Hilfe aus. Die ließ nicht lange auf sich warten. Sie war von derber Gestalt, trug im Gesicht schwärzlichen Bewuchs und hieß mit Namen Wilhelm Stamphun. Diesem Wilhelm Stamphun eilte nun der Ruf voraus, daß seine Heilkraft bei niemandem an Grenzen stoße. Ganz gleich, bei wem er sie anwandte - ob bei Zwei- oder Vierbeinern. Vor Wilhelm Stamphuns Heilkraft kapitulierte sozusagen jegliches Leid.

"Barmherziger Gott, diese Kuh ist ja aufgepumpt wie das Luftschiff Graf Zeppelin", stellte die schwarzbärtige Heilkraft schon nach wenigen Augenblicken fest, "wahrscheinlich hat sie zuviel feuchten Klee gefressen. - Die Kuh wird diese Nacht nicht überleben." Der Schuster fragte leise: "Gibt es keine Möglichkeit ...?" - "Diese Möglichkeit kostet einen blanken Taler", erwiderte trocken die schnauzbärtige Heilkraft. "Oh je ... oh je!" jammerte die hungrige Schusterfamilie im Chor. Ein blanker Taler war kein Pappenstiel, fand sich aber letztendlich doch.

"So!" sagte die Heilkraft, "jetzt können wir anfangen. Schuster, halte den Kopf deiner Kuh ..." Lang und fürchterlich spitz war das Werkzeug, welches Wilhelm Stamphun aus der Tasche zauberte, und inwendig so hohl wie ein abgestorbener Baum.

Blitzschnell und hartgesotten stach er damit der Kuh Martha in den Leib. "Riechst du, Schuster, wie jetzt der Tod aus deiner Kuh heraus strömt?" fragte Wilhelm Stamphun zuversichtlich, "bald geht es ihr besser."

Abends konnte der Schuster lange Zeit nicht einschlafen. "Bei uns hier in Masuren ist die Heilung keine große Sache", sagte er sich im Stillen, "meist hilft die Natur sich selber. Ab und an muß man auch schon mal nachhelfen, mit etwas Langem und Spitzen ..." Und fast im gleichen Augenblick kam dem grübelnden Menschen seine Schusterahle in den Sinn. Dieses spitze Werkzeug, mit dem er die Löcher in das Leder stach. Sogleich faßte er einen verwegenen Plan. "Garantiert schmerzfreies Zähneziehen" malte er schon früh am nächsten Morgen auf einen großen Pappdeckel. Den nagelte er wind- und wetterfest an seine Tür und wartete von Stund an auf das Kommende.

So, als ob das Schicksal sich selber zum Spott machen wollte, erschien eines frühen Morgens, heimlich und unbeobachtet, Wilhelm Stamphun. Mit dickgeschwollenem Gesicht und verweinten Augen war der Ärmste in die Schusterstube getreten. Offensichtlich war das Mysterium seiner Heilkraft an sich selber nun doch an Grenzen gestoßen. "Kannst du mir nicht den faulen Zahn reißen, Schuster? - Ich halte es schon kaum noch aus!" Im nächsten Augenblick erschienen vor den Augen des Leid-

geprüften auch schon die schwarzumrandeten Fingernägel des geschäftstüchtigen Schusters. "Das kostet aber einen blanken Taler, Wilhelm Stamphun." - "Was? - Einen Taler ..." Ungerührt nickte der Schuster. "Na meinetwegen, fang endlich an!" weinte der bitter geprüfte Mensch.

Derben Faden hatte der Schuster in Hülle und Fülle. Er knüpfte ein Ende des Fadens an den hohlen Zahn, das andere Ende zog er flink durch den eisernen Haken, an dem in besseren Zeiten auch schon mal Mettwürste und Räucherschinken gehangen hatten. "Wart's nur ab, gleich wirst du dich besser fühlen", machte der Schuster Mut. Doch weit gefehlt, dieser wehleidige Mensch bekam größere Augen als zuvor. "Um Himmels willen, was versteckst du hinter deinem Rücken, Schuster? Schuster ... Schuster! Du elender ...!" Weiter kam er nicht. Denn da hatte der Schuster mit der rechten Hand bereits gezogen, und mit der linken ...

"Au ... au ...!" Wilhelm Stamphun schrie wie am Spieß, und damit hatte er gar nicht so unrecht. Nur der Schuster grinste über das ganze Gesicht. Seelenruhig putzte er an seiner Ahle, an der noch Reste von dick-flüssigem Blut klebten. "Augenblicklich verlange ich den Taler zurück, Schuster! - Das war überhaupt nicht schmerzfrei, so wie du draußen geschrieben hast."

Der Schuster grinste noch immer. "Wo hat es denn wehgetan?" fragte er tückisch. "Wo ... wo! - Hier unten in der Hose hat es wehgetan. Da, wo du die Wurzel rausgerissen hast." "Häh ... hähhhh!" höhnte der Schuster, "so eine lange Wurzel hat nicht mal das Krokodil. Und Zähne, die sitzen nun einmal im Mund. Von Schmerzen in der Hose war nie und nimmer die Rede, Wilhelm Stamphun. Dort unten habe ich nur etwas mit der Ahle gepiekt. So etwas lenkt ungemein von schmerzenden Zähnen ab. Hab ich nicht recht, Wilhelm Stamphun?"

Dieser spuckte indessen immer noch Blut in die Schusterstube. Ab und an aber auch reichlich Galle. Zu guter Letzt machte er sich dann aber doch ohne seinen Taler auf den Heimweg. Zwischendurch drehte er sich aber mindestens dreimal um. Schaute mit ungläubigen Augen zurück, als sei er einem bösen Traum entsprungen.

Prächtiges Exemplar: Eine Kuh spielt eine nicht unwichtige Rolle in der Geschichte um einen ostpreußischen "Doktor Eisenbart" Foto: Archiv


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