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12.03.05 / Die Jungen gehen schon wieder / Berlins Wirtschaftsmisere kratzt am Glanz der jugendlichen Metropole 

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. März 2005

Die Jungen gehen schon wieder
Berlins Wirtschaftsmisere kratzt am Glanz der jugendlichen Metropole 
von Annegret Kühnel

In Berlin sind aktuell 331.095 Menschen arbeitslos gemeldet, 44.000 mehr als im Dezember. Quote: 19,6 Prozent. Die Zahl der Sozialhilfeempfänger ist nach Einführung von Hartz IV hingegen von 271.000 auf jetzt 26.500 gesunken. In der Differenz versteckt sind 85.000 Kinder bis 15 Jahre, die früher Sozialhilfe erhalten hatten und deren Eltern nun das Arbeitslosengeld II erhalten.

Berlin mußte bisher Sozialhilfekosten von einer Milliarde Euro jährlich aufbringen. Die Summe soll auf 137 Millionen sinken, zuzüglich der Mietzuschüsse, über die keine Zahlen vorliegen, weil sie noch zwischen Bund und Land verhandelt werden. Den größten Teil der Kosten muß jetzt die Bundesagentur für Arbeit übernehmen. Die Einsparung im Berliner Landeshaushalt ist also beträchtlich.

Daß Sozialhilfeempfänger auch in Berlin zu Unrecht als arbeitsfähig eingestuft wurden, ist allerdings sicher. Es sind bisher Fälle von Bettlägerigen, Krebspatienten im Endstadium oder schweren Diabetikern bekannt geworden. Aber selbst wenn ihre Zahl sich im vierstelligen Bereich bewegen sollte, wäre sie vergleichsweise klein. Die wirkliche Misere liegt nicht im verwaltungstechnischen, sondern im wirtschaftlichen Bereich. Pro Kopf liegt Berlin 20 Prozent unter der Wirtschaftskraft von Westdeutschland und sogar 50 Prozent unter der von Hamburg. Das Wirtschaftswachstum in der Hauptstadt betrug 2004 nur 0,4 Prozent. Auch 2005 wird es weit unter dem Bundesschnitt liegen. Die Kaufkraft der Privathaushalte sinkt und sinkt. Die Zinsausgaben im Landeshaushalt für den immer astronomischer werdenden Schuldenberg dagegen steigen, staatliche Wirtschaftsimpulse, etwa durch die Sanierung öffentlicher Einrichtungen, bleiben deshalb bescheiden.

Von 256.000 Industriearbeitsplätzen 1991 sind nur 98.000 übriggeblieben, das sind 38 Prozent. Ein spezielles Problem sind die nur formal erwerbsfähigen Ausländer, die oft jahrelang in Berlin leben, aber kein Wort Deutsch sprechen. Dramatisch ist die Lage für die freie Künstlerszene, eine relativ kleine, für Berlin jedoch wichtige Gruppe, weil sie viel zum Außenbild der Stadt beiträgt. Bisher konnten sich freie Schauspieler, Kameraleute usw. zwischen zwei Engagements arbeitslos melden, jetzt werden sie - weil kaum einer von ihnen innerhalb von zwei Jahren 360 sozialversicherungspflichtige Arbeitstage erzielt - zum Sozialfall.

Einige Wirtschaftsmeldungen der letzten Monaten: Die Fotokette Wegert, vor über 70 Jahren in Berlin gegründet, hat Insolvenz angemeldet, 250 Arbeitsplätze sind weg. Die Modefirma Ebbinghaus hat ihr Stammhaus in Steglitz geschlossen. Die Kindl-Brauerei in Neukölln schließt, der Chip-Hersteller Infineon ebenfalls, ein Verlust von 280 Arbeitsstellen, bei Siemens fallen 200 weg. Ein großes Call Center in Spandau mit einst 500 Beschäftigten hat Ende Februar dichtgemacht. So jagt eine Horrornachricht die andere. Zum Glück gibt es auch positive Signale: Der Tourismus wächst, mehrere Billig-Flieger weiten ihr Geschäft aus und stellen Hunderte Arbeitskräfte ein. Sogar Akademiker sind als Bordpersonal tätig. Der Kölner Musiksender MTV bezieht ein attraktives Gebäude an der Spree, 45 Mitarbeiter ziehen mit. Im Werbe- und Medienbereich, wo viele am Rand des Existenzminimums leben, hofft man auf Aufträge. Ob die Hoffnungen erfüllt werden, ist fraglich, denn der Musikindustrie und MTV geht es schlecht. DaimlerChrysler, Berlin-Chemie und BASF haben insgesamt rund 1.700 neue Arbeitsplätze angekündigt. Den oben genannten massiven Stellenabbau in der hauptstädtischen Wirtschaft gegengerechnet ergibt sich indes bestenfalls ein Nullsummenspiel: Es bleibt ein Defizit von 200.000 Industriearbeitsplätzen.

Die Folge: Längst kehren junge, gutausgebildete Leute, die hoffnungsvoll nach Berlin gekommen waren, in die geschmähte westdeutsche Provinz zurück, um das elterliche Antiquariat oder eine Arztpraxis zu übernehmen. Berlin kann ihnen kein Auskommen bieten, weder mit noch ohne Hartz IV.


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