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12.03.05 / Ukraine: Für immer im Schatten Rußlands?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 12. März 2005

Ukraine: Für immer im Schatten Rußlands?
von Hans Rothe

Er war durchaus bewegend der Kampf der Ukrainer um freie Wahlen und Demokratie. Die "Orangene Revolution" ließ die Menschen in Europa mit den gewaltfreien Demonstranten in der Kälte Kiews mitfiebern. Inzwischen hat der neue Präsident Viktor Juschtschenko seine Regierung gebildet und versucht nun offen, die Ukraine Richtung Europa zu führen. "Europa wird ohne die Ukraine nicht komplett sein", so Juschtschenko. Doch gehört das Land da überhaupt hin? Teil I 

Der Fall der Ukraine, der im vorigen Herbst Schlagzeilen machte, erhob die Herzen: Ein Volk erreichte friedlich seine Freiheit von Fremdbestimmung und Korruption. Viele Fragen wurden dabei aufgeworfen; aber, als die Schlagzeilen verschwunden waren, waren sie immer noch nicht beantwortet.

Es wurde von Demokratie und Freiheit viel geredet; eine Volksbewegung hat sich durchgesetzt; internationale Unterstützung (Solidarität?) hat das gefördert. Aber was weiß man nun wirklich? Versuchen wir, ein paar Fragen zu stellen, damit wir an Antworten herankommen können.

Ist denn die Ukraine überhaupt etwas anderes als Rußland? Ist es berechtigt, daß sie einen eigenen Weg gehen will? Es gibt ja gewichtige Stimmen, die das leugnen, und meinen, beide gehörten zusammen (beispielsweise Solschenizyn, der Vorkämpfer gegen den Kommunismus). Zudem ist innerhalb der Ukraine der russische Bevölkerungsanteil sehr hoch, vor allem im Osten und Süden des Landes.

Am 26. Juli 2004 wurde gemeldet, daß der damalige Präsident Kutschma das außenpolitische Ziel, die Ukraine in die EU zu führen, aufgegeben habe. In dem folgenden Wahlkampf spielte dann der Vorwurf an den Gegenspieler Juschtschenko eine Rolle, sein Sieg werde die Ukraine zum Satelliten von Amerika und der Nato machen. Heute steht die Aufnahme in die EU für 2016 wieder auf dem Plan. Was ist nun an der einen oder anderen Behauptung oder Zielsetzung dran, und vor allem: Warum ist das für uns wichtig?

Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen im vorigen November waren unter vielen anderen auch namhafte Polen in Kiew, darunter ein ehemaliger und der amtierende Staatspräsident. In Berichten darüber spürte man hier Befriedigung - damit sah man anscheinend die Sache in guten Händen, denn Polen seien erfahrene Politiker, sogar Europäer. Doch was ist dabei polnisches Eigeninteresse? Schließen ihre Interessen die unseren ein?

Ein Blick in die Geschichte zeigt, daß die Ukraine von heute - unabhängig davon, wer sie regiert - mit fünf historischen Hypotheken belastet ist. Die erste Hypothek entsteht aus der Frage wann die ukrainische Geschichte begonnen hat. Oder die Geschichte der Ukraine?

Die Ukrainer hatten bisher nie einen eigenen Staat. Es gab zwar zwei Versuche im 17. Jahrhundert (1654-1709) und nach dem Ersten Weltkrieg unter deutscher Ägide. Beide Versuche endeten mit einer vollständigen Eingliederung von Land und Volk in das russische Reich beziehungsweise die Sowjetunion. Der heutige Staatsname stammt aus der Zeit des zweiten Versuches. Er bedeutete ursprünglich Randgebiet, und zwar von Rußland aus gesehen. Die Sowjetunion übernahm das Ergebnis der Ostpolitik des untergehenden deutschen Kaiserreiches als Spielball zur Verhöhnung westlichen Demokratiedenkens: Die Ukraine erhielt, wie Weißrußland, nach dem Zweiten Weltkrieg in der Uno eine Satellitenstimme.

Ukrainer haben sich seit Ende des 16. Jahrhunderts als letztes der drei ostslawischen Völker, nach Russen und Weißrussen, aus der ursprünglichen Einheit aller Ostslawen herausgelöst und als selbständiges Volk zusammengefunden. Aber ukrainische Historiker haben seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Überzeugung verkündet, ihre Geschichte beginne mit der ältesten bekannten Zeit seit dem 10. Jahrhundert. So denken und lehren sehr viele heute noch, vor allem die einflußreichen Ukrainer in den USA und in Kanada. Das ist aber nicht richtig. Auf die älteste Zeit berufen sich mit gleichem Anspruch auch Russen und Weißrussen. Sie auszuschließen, belastet die Beziehungen. Ein ungerechtfertigter Anspruch eines der drei heutigen Völker auf die älteste Zeit verrät ein irreales Selbst- und Staatsverständnis, das für politische Urteile bei einer angemessenen Selbstbestimmung heute untauglich ist.

Eine zweite, ungleich schwerere Hypothek liegt in der Religionsfrage. Währen die Nation sich zu bilden begann, wurde 1596 eine Union zwischen der im Lande üblichen griechischen Orthodoxie und der katholischen Kirche des polnischen Staatsverbandes, zu dem die ukrainischen Lande gehörten, abgeschlossen. Die Jurisdiktion (zum Beispiel Bischofseinsetzung) lag bei Rom, Ritus und kirchliches Leben blieben orthodox. Sehr schnell war fast der ganze Klerus zur Union übergegangen. Im Osten erstarkte die Orthodoxie aber bald wieder. Die Folge war die geistige Teilung des Landes. Der Westen, wo sich das Nationalbewußtsein ausbildete, uniert; der Osten wurde orthodox. Die Religionsfrage vermischte sich mit der Nationalfrage. Das hatte weitreichende Folgen. Unierte wurden von zwei Seiten angegriffen, verhöhnt, verfolgt: von den orthodoxen Russen, weil sie nicht richtig orthodox, von den katholischen Polen, weil sie "noch" nicht richtig katholisch geworden waren. Unter diesem Doppeldruck entstand ein Zusammenhörigkeitsgefühl, das der Keim des ukrainischen Nationalbewußtseins im Westen des Landes wurde. Das ist bis heute so geblieben.

Nachdem innerhalb der Krone Polens Ostslawen durch Jahrhunderte mehr oder weniger friedlich und unbehelligt mit anderen gelebt hatten, brachte die Union, die sie ihrer Sonderart sich bewußt werden ließ, sie sogleich in Spannung mit Polen und der dortigen Gegenreformation, ebenso mit Russen und der "richtigen" Orthodoxie. Von Jahrhundert zu Jahrhundert verschärfte sich das.

Die dritte Hypothek wirkte noch einmal erschwerend: das Aufkommen der russischen Schutzmacht im europäischen Kräftespiel seit dem 16. Jahrhundert. Ivan IV., der Schreckliche (1530-1584) hatte eine Politik des Dranges nach Westen eingeleitet; zunächst war sie an Polen gescheitert. Die folgende russische Schwäche nutzte Polen 1605 zu einem Überfall auf Rußland, der ebenfalls scheiterte. Das wurde der Anfang von Polens Ende.

Kosaken, die dem König von Polen unterstanden, sicherten gegen dessen Willen 1620 die Wiederherstellung der Orthodoxie in Kiew. 1648 erhoben sie sich gegen das gegenreformatorische Polen. 1654 zogen sie das zögernde Moskau ins Spiel, und 1667 mußte Polen alles ukrainische Land östlich des Dnjepr an Moskau abtreten. Das war die erste polnische Teilung. Nun gehörten die Ukrainer je zur Hälfte zu verschiedenen Staaten, die einander feindselig gegenüberstanden. Versuche der Ukrainer, das Land beiderseits des Dnjepr in föderativer Union zusammenzuhalten, scheiterten 1709 an Peter dem Großen. Die östlichen Ukrainer waren der Russifizierung ausgesetzt, aber etwas später bildete sich doch ein neues ukrainisches Kulturzentrum im Gebiet von Poltava. Die Entfremdung zum Westen vertiefte sich.

Die vierte Hypothek entstand am Ende des 18. Jahrhunderts durch die polnischen Teilungen. Der Untergang Polens war durch die polnischen Teilungen programmiert. Einerseits durch die polonisierende unduldsame Haltung gegen die ostslawischen

Unierten, andererseits durch das Erstarken Rußlands, das als Schutzmacht der, wie es damals hießt, "Südrussen" auftrat. Als 1772 Galizien an Habsburg fiel, war die Bukowina (Buchenland) südlich davon schon seit 1769 von Rußland besetzt. Österreich gelang es 1775, dieses Land als Brücke zu seinen inneren Landen für sich zu erwerben. Die sogenannte Karpatho-Ukraine war schon ein Jahrhundert österreichisch, vorher ungarisch gewesen. Beide Länder waren weitgehend ukrainisch besiedelt.

Die Karpatho-Ukraine und nördliche Bukowina kamen 1945 an die Ukraine, das heißt zur Sowjetunion. 1990 entstand ein selbständiger Staat, in dem erstmals fast alle Ukrainer vereint waren. Aber die ukrainischen Bewohner der Karpatho-Ukraine und der Bukowina (von anderen: Slowaken, Rumänen, Juden nicht zu reden), deren historische Tradition ungarisch und österreichisch war, sind in diesem Staat gar nicht zu Hause. Kenner versichern, sie wollten aus ihm ausscheiden. Außer Ost und West gibt es also noch dieses Problem des Südwestens, der bis zur Staatsverweigerung geht.

Schließlich eine fünfte Hypothek: Während der Südwesten immerhin noch ukrainisch besiedelt ist, fehlt auch das im Süden. Die Krim wurde 1954 von Chruschtschow an die Sowjet-Ukraine verschenkt. Sie war tatarisch besiedelt, wurde 1784 russisch; Sewastopol, das spätantike Korsun, wurde im gleichen Jahr als russischer Kriegshafen im Süden ausgebaut. Odessa ist eine russische Stadtgründung von 1794. Beide Städte waren Rußlands internationales Tor nach Europa im Süden wie Petersburg im Norden. Nennenswerte ukrainische Tradition hat es da nie gegeben. So weit der Blick in die Geschichte.

Was es bedeutet, daß 1991 diese Ukraine nun selbständig wurde und von Rußland unabhängig seine Politik bestimmen konnte, lehrt ein Blick auf die Landkarte. Der neue Staat schneidet Rußland nach Süden weitgehend vom Schwarzen Meer ab. Zugleich ist Rußland vom Westen abgeschnitten. Nicht mehr Rußland, sondern die Ukraine grenzt an Rumänien, Ungarn, die Slowakei und Polen. Weißrußland schiebt sich auch noch dazwischen.

Solche geopolitische Überlegung spielt vielleicht nicht mehr die Rolle wie im 19. und 20. Jahrhundert. Aber sie ist auch nicht bedeutungslos geworden. Wenn die Ukraine über sich selbst verfügen und als ein reiches und unabhängiges Land auftreten könnte, würde das nicht weniger bedeuten, als die Zurückstufung Rußlands zu einer Weltmacht dritten Ranges, deren europäische Bedeutung nur im Norden und deren weltpolitische Bedeutung vorwiegend in Asien, nicht mehr in Europa läge. Es liegt auf der Hand, daß das im Ernst nicht geht.

Wenn das Ernst wäre, könnte die Ukraine die Rolle einer vorgeschobenen "Feldwache" für den Westen übernehmen, als die seit Napoleon Polen für Frankreich galt (so 1830 der ostpreußische Oberpräsident Theodor v. Schön); Polen hätte diese Rolle dann verloren. Polen tritt mit seinem Eigeninteresse nun schon etwas deutlicher ans Licht. Es ergibt sich also, daß man nur weiter kommt, wenn man Klarheit über die Interessen der beiden wichtigsten Nachbarn der Ukraine gewinnt, und zwar die berechtigten Interessen von Rußland und Polen.

Es ist nicht üblich, nach legitimen Interessen Rußlands zu fragen. Zu groß war der Angstdruck seit dem Zweiten Weltkrieg. Zu sehr hat man sich daran gewöhnt, die Weltlage auch in ihren Regionalproblemen von Amerika her zu verstehen, zu wenig hat Amerika gelehrt, daß es imstande ist, die Interessenlage eines Widersachers zu verstehen, ehe es seine Politik entwirft. Dafür wird es nicht genügen, bloß von Demokratie und Freiheit zu reden und den anderen als Gewaltmacht hinzustellen. Das mag Rußland sein. Aber auch solchen Mächten müssen legitime Interessen zugestanden werden, wenn anders ein Friedenskompromiß erreicht werden soll.

Fortsetzung folgt


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