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16.04.05 / Das widersprüchlichste Land der Welt / Zwischen Tradition und Moderne, Kommunismus und Globalisierung zeigt China seine vielen Gesichter

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. April 2005

Das widersprüchlichste Land der Welt
Zwischen Tradition und Moderne, Kommunismus und Globalisierung zeigt China seine vielen Gesichter
von Norbert Matern

Nach den Einschätzungen deutscher Wirtschaftsexperten - 4.000 davon allein in Shanghai - ist China das widersprüchlichste Land der Welt. Der äußerlichen Stabilität stehen enorme "soziale Verwerfungen" gegen-über. Allein im vergangenen Jahr gab es rund 600.000 Massenproteste in der Region und in den großen Städten gegen die soziale Ungleichheit. In Shanghai wird sie besonders deutlich. Im Stadtzentrum mit seinen riesigen, architektonisch geglückten Wohnhochhäusern kostet die Miete für eine Dreizimmerwohnung rund 5.000 Euro. Das können sich nur Ausländer oder reiche Chinesen leisten, die aus anderen Landesteilen zuziehen. Die Einheimischen, deren meist heruntergekommene Stadtbezirke - Häuser nur mit Gemeinschafts- beziehungsweise Straßentoiletten - rigoros abgerissen werden, müssen in die Randbezirke ziehen. Busfahrten zur Arbeit von Stau zu Stau machen ihnen das Leben noch schwerer. Nahrungsmittel sind im vergangenen Jahr um fast zehn Prozent teurer geworden.

Bettler bestimmen das Straßenbild vor allem dort, wo sich im Laufe nur eines Jahres Millionen Touristen einfinden. Händler versuchen aufdringlich, eine "Rolex" für einen Euro, Mützen mit Aufdrucken für die Olympiade 2008 oder die Weltausstellung 2010 zu verkaufen. In der Nähe des Kaiserpalastes steht die Belegschaft eines großen Restaurants auf dem Bürgersteig und übt sich zur Freude aller Hobbyfotographen in Gymnastik. Auf bunten Tischen werden die besten Gewürze angeboten, unverpackt und damit Staub wie Fliegen preisgegeben. Brot ist inzwischen für die Chinesen kein Fremdwort mehr, Weißbrot und Kuchen werden überall angeboten. Nur die arme Bevölkerung bleibt bei ihrer Portion Reis. An der Glitzerwelt der großen Städte hat sie keinen Anteil.

Dem Elend der manchmal verstümmelten oder unheilbar erkrankten Bettler stehen die Studenten gegenüber, die mit Büchern und Zeitungen unter dem Arm zu ihren Hochschulen eilen. Nur noch die wenigsten benutzen das Fahrrad. Chinas Jugend steht inzwischen auch das westliche Ausland offen. 50.000 studieren in den USA, 30.000 in Deutschland. Innerhalb einer Gruppe kann jeder ausreisen, sonst muß eine Einladung der Gasteltern oder der Universität vorliegen. Rückkehr ist Pflicht. Die Regierung sorgt dafür, daß sich möglichst keiner dem gewaltigen chinesischen Aufbauprogramm entzieht.

China ist die drittgrößte Welthandelsnation und zugleich das größte Entwicklungsland. Die kommunistischen Regierungen haben dies geschafft: Der Hunger ist grundsätzlich beseitigt, die meisten Chinesen haben einen wenigstens bescheidenen Wohnraum und müssen in den eisigen Wintern nicht mehr frieren. Für Mao, dessen Bild oft zu sehen ist, gilt: 70 Prozent seines Wirkens seien gut gewesen, 30 Prozent schlecht. Er hat das Land vorangebracht, aber nicht verändert. "Die Ideologie des Kommunismus ist mausetod", so ein Beobachter. Für seine kommunistischen Nachfolger gilt seit der Jahrtausendwende: Starres Festhalten an der Souveränität. Die kommunistische Partei hat offiziell nicht "abgewirtschaftet", eine Gegenelite ist nicht in Sicht. Die Regierung bildet in Peking "eine Stadt in der Stadt". Die Zahl der Hinrichtungen nimmt eher zu als ab. Zu verzeichnen ist eine wieder zunehmende Zensur der Medien, wovon auch die deutschen Korrespondenten einiges erzählen können. Jede Reise ins Landesinnere muß angemeldet werden. Im Gegensatz dazu steht eine zunehmende Kommerzialisierung der Medien. In Pekinger Hotelzimmern sind rund 80 Kanäle zu empfangen. Kritische Artikel werden aus ausländischen Zeitungen herausgerissen. Man rechnet damit, daß derzeit bis zu 200 chinesische Journalisten in Haft sind. Meist funktioniert aber in den Redaktionen die "Selbstkontrolle".

Mit der streng kontrollierten Politik der Einkindfamilie ist es übrigens weitgehend vorbei. Zwei Kinder sind erlaubt. Derzeit gibt es einen jährlichen Bevölkerungszuwachs von 1,1 Prozent. Im vergangenen Jahr standen sieben Millionen Sterbefällen 19 Millionen Geburten gegenüber. Die 1,3 Milliarden Chinesen stellen somit ein Fünftel der Weltbevölkerung.

Statistiken allerdings sind mit Vorsicht zu lesen. Es gibt eine "gewaltige Datenunsicherheit". Trotzdem arbeitet die Weltbank mit ihnen. Weil vor allen den offiziellen Angaben der Provinzen nicht zu trauen ist - jeder Provinzfürst will der beste sein - hat ihnen Peking die Veröffentlichung ihrer Zahlen verboten. Die Bevölkerung im ländlichen Raum hat nur ein Viertel des Einkommens der Städte. Doch da die Wirtschaft boomt, hofft man, daß auch die ländlichen Regionen davon profitieren. Ginge es nach Kanzler Schröder, müßte auch Deutschland etwas von Chinas, wenn auch einseitigem Wachstum haben. So war er bereits sechsmal dort. Deutschland will investieren, teilhaben am "explosionsartigen Wachstum" wie Jens-Peter Voss, Wirtschaftsreferent der deutschen Botschaft, es nennt. Dafür zahlt das hochverschuldete Deutschland pro Jahr 70 Millionen Euro Entwicklungshilfe an das Land der Sparer, denn die Chinesen sind inzwischen "Weltmeister im Sparen". Das ist für die Alterssicherung. Eltern stellen sich rechtzeitig auf die hohen Ausbildungskosten ein. Vom Kindergarten bis zur Universität - nichts ist mehr kostenlos. Auch deshalb sind Stipendien im Ausland - ganz gleich wo - so gefragt.

Die Religionsfreiheit gilt für registrierte Kirchen und Gemeinden. Konfuzius wird wieder verehrt, Buddhatempel sind wieder geöffnet, Mönche haben Bewegungsraum. Inbrünstig knien auch Jugendliche mit gefalteten Händen vor den durch Kerzen erleuchteten Buddhafiguren. Äpfel, Säfte, Reis und Brot werden zu ihren Füßen als Opfergaben abgestellt. Die katholische Nationalkirche hat großen Zuspruch. Die Kathedrale in Shanghai ist bei Gottesdiensten überfüllt. Besucht wird auch die evangelische Gemeinde. Genaue Zahlen über die Religionszugehörigkeit gibt es nicht. Zwischen zehn bis 20 Millionen Katholiken sollen in China in der Nationalkirche und papsttreu im Untergrund leben. Neue Kirchen werden gebaut. Trotzdem gilt: Die meisten Chinesen sind Atheisten. Aber auch bei ihnen gibt es Sehnsucht nach Spiritualität und verläßlichen Werten. Wichtig ist das "Streben nach Harmonie", so wie es in den alten Tempeln, die mit Hochdruck renoviert werden, architektonisch vorgegeben ist.

Siemens gehört zu den großen deutschen Firmen im Land. Am Stadtrand von Shanghai, in der Hu Road 278, stehen die weißen Bauten der "Medical Solutions", vor denen neben der deutschen und chinesischen auch die Siemensflagge flattert. In dem Werk werden Computertomographen für den asiatischen Markt hergestellt. Seit diesem Jahr gehören 51 Prozent des Unternehmens den Deutschen, es ist kein joint venture mehr. Unter den 300 Mitarbeitern befinden sich allerdings nur acht Deutsche. Die Belegschaft ist jung, es gibt Dreijahresverträge und ein Monatseinkommen von umgerechnet 200 Euro. Zehn Tage Urlaub sind Gesetz, Siemens gibt sogar 15, doch Krankentage werden zum Teil vom Urlaub abgezogen.

Ausländische Firmen, die hochwillkommen sind, zahlen die ersten drei Jahre keine Einkommensteuer, dann zwei Jahre lang nur 30 Prozent. Arbeitslose gibt es laut offziellem Sprachgebrauch nicht, statt dessen auf "Arbeit Wartende". Die aber machen nach offiziellen Zahlen 4,2 Prozent der Bevölkerung aus.

 

Tai Chi auf einem Häuserdach in Shanghai, im Hintergrund die Skyline von Pudong: Chinas Großstädte wachsen rasant, doch bei der einhergehenden Modernisierung bleiben viele Menschen auf der Strecke. Foto: keystone


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