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16.04.05 / Ein Licht am Ende des Tunnels

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. April 2005

Ein Licht am Ende des Tunnels
von Gabriele Lins

Hallo", fragt die Mädchenstimme und zittert ein wenig, "wer spricht da, bitte?" - "Katholische Kirchengemeinde St. Angela - Edmund Reiser." - "Ja, ich ..." Das Mädchen druckst herum, weint schließlich los. "Erzählen Sie", sagt der Mann. "Ach, ich ... eigentlich wollte ich ..." - "Ja?" - "Ist dort die Telefonseelsorge?" - "Stimmt. Kann ich Ihnen helfen? - Hallo, sind Sie noch da?" - "Ja."

"Ja ... ich ... ich wollte nur sagen - ich muß es wenigstens einem sagen ... ich werde jetzt Schlaftabletten nehmen. Hab' sie alle gesammelt ..." - "Darf ich fragen, wie Sie heißen?" - "Sandra." - "Sandra, ich kann Sie nicht daran hindern. Aber erzählen Sie mir erst, warum Sie so einfach aus dem Leben gehen wollen." - "Ich bin querschnittgelähmt. Bin vom Pferd gestürzt - schon vor zwei Jahren. Seitdem sitze ich im Rollstuhl ..."

"Sandra, ich kann das gut verstehen. Nur - wenn alle sterben wollten, die behindert sind - es gibt so viele." - "Ich halte es nicht mehr aus. Das Mitleid der Leute. Ich stand gestern an der Bushaltestelle, dachte bei mir, ob vielleicht jemand hilft. Da wirft mir eine Frau zwei Euro in den Schoß. ‚Hier, Kleine!' ... Ich kann einfach nicht mehr!" - "Sandra, sagen Sie mir Ihr Alter?" - "Ich bin 20 Jahre alt."

"Hören Sie, Sandra, wollen Sie mir einen Gefallen tun? Warten Sie mit dem Sterben, wenigstens bis morgen. Einfach mir zuliebe. Rufen Sie mich morgen wieder an, um die gleiche Zeit. Ich lasse mir alles durch den Kopf gehen. Vielleicht weiß ich dann Rat. Bitte, Sandra!" - "Ja ... ich weiß nicht ..."

"Hallo, ist dort Edmund?" - "Sandra, freu' mich, Sie zu hören. Wie geht es Ihnen heute?" - "Edmund, ich ... ich hab' Angst vorm Sterben." - "Aber Sie müssen ja nicht! Hören Sie, ich möchte, daß wir uns treffen. Im Stadtpark. Wenn man jemandem sein Herz ausschüttet und ihm dabei ins Gesicht sehen kann - vieles ist hinterher leichter, bestimmt. Ich spreche aus eigener Erfahrung." - "Meinen Sie?" - "Morgen um drei, an der ersten Bank im Park. Ich freu' mich. Aber auch wirklich kommen! Tschüß, Sandra." - "Ich weiß nicht ... tschüß, Edmund."

Eine junge Frau - ihr Gesicht ist schmal und blaß, um den Mund ziehen sich feine Linien - kommt in den Park gefahren, lenkt ihren Rollstuhl vorsichtig zwischen den Spaziergängern hindurch. Ein paar Meter vor der ersten Parkbank bleibt sie stehen und sieht sich verstohlen um. Der junge Mann im Rollstuhl, der dort vor der Bank sitzt, lächelt, winkt ihr entgegen.

"Sandra?" Er grinst verschmitzt. "Ja, ich bin Edmund. Erlauben Sie, daß ich sitzen bleibe?"


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