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16.04.05 / Das Grauen in Worte gefaßt / Lettlands Außenministerin berichtet von der Deportation ihrer Familie nach Sibirien

© Preußische Allgemeine Zeitung / 16. April 2005

Das Grauen in Worte gefaßt
Lettlands Außenministerin berichtet von der Deportation ihrer Familie nach Sibirien

Der Verstand kann vieles nicht begreifen, auch wenn man stets versucht ist, nach logisch Nachvollziehbarem zu suchen. Aber was ist logisch an der Schlußfolgerung, daß jemand, der "ein Haus mit vier Wohnungen, ein Jahreseinkommen von 12.000 Lat und eine Landwirtschaft" besitzt, ein Verbrecher ist? Nach den Maßstäben des NKWD-Offiziers Janis Veveris war dem aber so, und so wurde der "Ausbeuter der Arbeiterklasse" Janis Dreifelde mit seiner Frau Emilija und seiner 13jährigen Tochter Ligita - die drei Söhne konnten sich der Verhaftung entziehen - 1941 nach Sibirien deportiert.

Sandra Kalniete, seit 2002 Außenministerin von Lettland, berichtet in "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee" über das Schicksal ihrer Eltern und Großeltern, daß auch das ihre war, da sie 1951 in Sibirien geboren wurde.

Eindruckvoll erzählt die couragierte Politikerin von der Not ihrer Mutter und Großmutter, dem frühen Tod ihres Großvaters 1941, getrennt von seinen Lieben, der Verschleppung ihres damals 17jährigen Vaters und seiner Mutter 1947. Hunger, Armut und die sibirische Kälte umfangen den Leser bei der Lektüre des außerordentlichen Buches. Neben dem persönlichen Schicksal ihrer Familie geht die Autorin aber auch auf die geschichtlichen Zusammenhänge ein. Zwischen sowjetischer und deutscher Besatzung hin- und hergerissen, blieb den Letten nicht nur im Zweiten Weltkrieg, sondern noch Jahrzehnte danach jegliche Selbstbestimmung verwehrt. Auch behauptet Kalniete, daß die Letten zu Unrecht als Faschisten verschrien seien, nur weil sie Hitler 1943 freudig empfingen. Dies sei viel mehr nach den vorherigen Erfahrungen mit den Russen nicht weiter verwunderlich. Schon auf der Leipziger Buchmesse 2004 sorgte die Lettin für einen Eklat, weil sie es wagte, Stalins Morden mit dem Hitlers auf eine Stufe zu stellen. Eine Einstellung, die sie auch in ihrem Buch vertritt. "Die Massendeportation aus den baltischen Staaten im März 1949 stand weder hinsichtlich der detaillierten Planung noch der Geheimhaltung und Präzision bei der Umsetzung der Operation hinter dem perfekten System zurück, das die Nazis bei der Deportation von in erster Linie jüdischen Einwohnern der vom Reich okkupierten Staaten in die großen Todeslager in Europa anwandten. Allein in der Phase der ,Endlösung' unterschied sich die sowjetische Vorgehensweise von derjenigen der Nazis." Stalin leistete sich den Luxus, "Experimente anzustellen, wie lange der Klassenfeind unter extremsten Bedingungen zu überleben in der Lage war". In der Familie der Sandra Kalniete kehrten neben dem Großvater Janis, auch ihre Großmutter Emilija und ihr Großvater Aleksandrs nicht aus der Verbannung zurück, bis zu ihrem Tode durchlebten sie zudem die Hölle auf Erden. Und auch die Überlebenden tragen bis heute ihre Erfahrungen aus den Jahren der Unfreiheit mit sich.

Ein äußerst lesenswertes, beeindruckendes Buch einer vielschichtigen Autorin über ein gern verdrängtes Kapitel europäischer Geschichte. R. Bellano

Sandra Kalniete: "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee", Herbig, München 2005, geb., Abb., 352 Seiten, 22,90 Euro


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