28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
23.04.05 / Das Ende der großdeutschen Lösung / Vor 60 Jahren wurde die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert 

© Preußische Allgemeine Zeitung / 23. April 2005

Das Ende der großdeutschen Lösung
Vor 60 Jahren wurde die Unabhängigkeit Österreichs proklamiert 
von Richard G. Kerschhofer

Weltpolitische Voraussetzung für die heutige Republik Österreich, die "Zweite Republik", war die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943. Darin drückten Eden, Hull und Molotow, die Außenminister der drei Alliierten, ihren Wunsch nach Wiederherstellung eines "freien, unabhängigen Österreich" aus. Nicht "wegen Österreich", wie dies später in Umerziehungsromantik klingen sollte, sondern als Teil des wahren Kriegsziels, Deutschland so klein wie möglich zu machen und die Reichsidee für immer auszutilgen - in Vollendung dessen, was man 1918/19 (noch) nicht erzwingen konnte.

Die Rote Armee stieß am 29. März von Ungarn her über die Grenze vor. Die Schlacht um Wien dauerte vom 6. bis 13. April. Die Franzosen drangen am 29. April in Vorarlberg ein, die US-Amerikaner Anfang Mai in Nordtirol, Oberösterreich und Salzburg. Bis zum 8. Mai nicht erobert blieb ein 100 bis 200 Kilometer breiter Korridor, der sich von Böhmen durch das westliche Niederösterreich und die Obersteiermark bis nach Kärnten erstreckte, das wie Osttirol erst nach Kriegsende von den Briten besetzt wurde.

Die Besatzungszonen nahmen Ende Juli ihre endgültige Gestalt an: Die Franzosen bekamen Vorarlberg und Nordtirol, die Briten Osttirol, Kärnten und die Steiermark, die Sowjets Oberösterreich nördlich der Donau, Niederösterreich und das Burgenland, die US-Amerikaner Salzburg und das südliche Oberösterreich. Wien war viergeteilt, nur das Zentrum stand unter gemeinsamer Kontrolle.

Unter argen Übergriffen zu leiden hatte die Bevölkerung vor allem in der sowjetischen Zone. Doch auch französische Kolonialtruppen hatten einen denkbar schlechten Ruf, und in Kärnten trieben Tito-Partisanen noch längere Zeit ihr Unwesen. Sehr gefürchtet waren die Grenzen der Sowjetzone, wo es fast bis zum Ende der Besatzungszeit zu willkürlichen Verhaftungen und Verschleppungen kam.

Stalin war bestrebt, vor dem Eintreffen westlicher Truppen vollendete Tatsachen zu schaffen. Bereits am 17. April wurde Theodor Körner, der spätere Bundespräsident (1951-1957), vom sowjetischen Stadtkommandanten in Wien als Bürgermeister eingesetzt. Der "rote General" war 1918 Generalstabsoffizier am Isonzo gewesen und in der Ersten Republik pensioniert worden. Später wurde er Kommandant des sozialdemokratischen "Schutzbunds". In der NS-Zeit blieb er unbehelligt - abgesehen von einer kurzfristigen Inhaftierung nach dem 20. Juli 1944. Mit Körners Bestellung zeichnete sich bereits die sowjetische Taktik ab, Kommunisten vorerst links liegen zu lassen und Sozialdemokraten in den Vordergrund zu schieben.

Ebenfalls noch im April wurden drei politische Parteien genehmigt: Die SPÖ, bei der das "S" nun für "sozialistisch" statt wie früher für "sozialdemokratisch" stand; die ÖVP, die sich als Nachfolgerin der früheren Christlichsozialen sah; und die KPÖ, in der nicht die im Untergrund verbliebenen Genossen, sondern Exil-Funktionäre das Sagen hatten.

Unter sowjetischer Ägide kam es am 27. April zur Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs und zur Einsetzung einer provisorischen Regierung, geleitet von dem Sozialdemokraten Karl Renner. Die Ausrufung der Zweiten Republik stützte sich auf die Moskauer Deklaration, und als Verfassung wurde jene des Jahres 1929 wieder in Kraft gesetzt. In der Regierung selbst waren die "Staatsämter" (Ministerien) annähernd gleichmäßig auf die drei Parteien verteilt. Die KPÖ erhielt zwei Schlüsselressorts, das für Inneres sowie das für Volksaufklärung, Unterricht, Erziehung und Kultusangelegenheiten.

Die Regierung Renner wurde von den Westmächten, die erst im Herbst Truppen in Wien stationieren sollten, zunächst nicht anerkannt. Im Rückblick läßt sich sagen, daß dieses Mißtrauen eher nützlich war, denn Moskau konnte sich darin bestätigt sehen, daß alles "nach Plan" verlief. Eine vom Westen anerkannte Regierung hingegen wäre mit wesentlich mehr Behinderungen konfrontiert worden. Im Herbst 1945 schließlich einigte sich die Regierung mit den politischen Gruppierungen in Westösterreich - und wurde daraufhin auch von den Westmächten anerkannt.

Da waren die Würfel bereits gefallen: Das Verhalten der sowjetischen Besatzer und der KPÖ hatte die Bevölkerung gründlich "überzeugt". Es kam zu keiner "Volksfront", und bei den Wahlen vom 25. November konnte die KPÖ nur vier der 165 Parlamentssitze erringen. Sie erhielt im Kabinett von Bundeskanzler Figl (ÖVP) zwar das Energieressort, schied 1947 aber gänzlich aus der Regierung aus. Die Machtergreifung war gescheitert - und als Strafe gab es zu Stalins Lebzeiten keinen "Staatsvertrag".

Renner, zunächst nur provisorisches Staatsoberhaupt, wurde am 20. Dezember 1945 Bundespräsident. Sein Werdegang ist exemplarisch für die Zwiespältigkeit einer ganzen Epoche: Der aus Mähren stammende Renner wurde 1907 Reichsratsabgeordneter. Als die Donaumonarchie zerfiel, bildeten die 210 deutschen Reichsratsabgeordneten eine "Nationalversammlung", und Renner wurde "Staatskanzler" der "Republik Deutschösterreich". Deren deklarierter Zweck aber war die eigene Nichtexistenz: In Artikel 2 des "Gesetzes über die Staatsform" heißt es "Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik". Nicht "will werden", sondern "ist".

Verständlich wird dies, wenn man noch weiter zurückblickt: Das Erste Reich war 1806 für erloschen erklärt worden, doch die Reichsidee lebte weiter, wesentlich gefördert vom Schrifttum der Romantik. Wie lebendig sie war, zeigte 1848 die Deutsche Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Mit Gründung des Zweiten Reiches aber kam das Dilemma: Die deutschen Österreicher standen nun wirklich "draußen" und in der Donaumonarchie waren sie nur eine Minderheit. Deutschnationales Denken gab es in allen Kreisen, vor allem bei den "Deutschnationalen" - und bei den Sozialdemokraten einschließlich ihrer zum Teil jüdischen Spitzenvertreter. Selbst Kaiser Franz Joseph blieb in seinem Selbstverständnis "ein deutscher Fürst".

Der Zusammenbruch der beiden Teilreiche 1918 wurde als neue Chance gesehen. Die Verhandlungen zwischen Wien und Berlin waren schon sehr weit gediehen, als dann das Diktat der Siegermächte alles zunichte machte: Es kam ein "Anschlußverbot", und statt Deutschösterreich mit zehn Millionen Einwohnern gab es ein Rest-Österreich mit nur sechs Millionen - Südtirol, Unterkärnten, die Untersteiermark und die deutschen Gebiete Böhmens und Mährens wurden abgetrennt.

Die Erste Republik, in der Renner auch nach 1920, nach seiner Ablösung an der Staatsspitze, politisch präsent blieb, war gekennzeichnet durch Wirtschaftsprobleme, soziale Konflikte und bewaffnete Parteimilizen, vor allem "Heimwehr" und "Schutzbund". Die Selbstausschaltung des Parlaments führte 1933 zum autoritären "Ständestaat", auch "Austrofaschismus" genannt, der sich einem "Anschluß" vehement widersetzte. Im Februar 1934 kam es zu einem blutig niedergeschlagenen Aufstand des "Schutzbunds". Und im Juli 1934 wurde Bundeskanzler Dollfuß bei einem nationalsozialistischen Putschversuch ermordet.

Bundeskanzler Schuschnigg, der Dollfuß nachfolgte, konnte den Anschluß zunächst durch enge Anlehnung an Italien verhindern. Als aber Hitler von Mussolini freie Hand bekam, mußte Schuschnigg im Februar 1938 Nationalsozialisten in die Regierung aufnehmen. In letzter Minute versuchte er dann noch, die Selbständigkeit durch eine Volksabstimmung zu retten, die für den 13. März angesetzt war. Wie diese ausgegangen wäre, bleibt natürlich Spekulation. Doch Hitler wollte offensichtlich "nichts riskieren" und befahl den Einmarsch am 12. März.

Die Abstimmung am 10. April 1938 zur Bestätigung des Anschlusses brachte eine geradezu "volksdemokratische" Ja-Mehrheit von 99,7 Prozent. Es spricht jedoch einiges für die Annahme, daß selbst unter regulären Bedingungen mehr Österreicher für den bereits vollzogenen Anschluß gestimmt hätten als vier Wochen davor gegen die Selbständigkeit: Man konnte deutschnational denken, ohne ein Nazi zu sein. Man konnte von Inszenierungen geblendet sein. Man konnte endlich Arbeit gefunden haben. Man konnte auch allerlei unehrenhafte Gründe gehabt haben. Und man konnte davon beeindruckt sein, daß namhafte Persönlichkeiten zum Ja aufgerufen hatten, darunter der Wiener Erzbischof Kardinal Innitzer - und Karl Renner.

Es kursieren Legenden darüber, wie Anfang April 1945 der Kontakt zwischen Renner und den Sowjets zustande kam. Entscheidend aber war, daß - wie heute feststeht - Stalin persönlich sich für Renner entschieden hatte. Warum, darüber gibt es ebenfalls Legenden - angeblich habe er ihn als einen Schüler des Engels-Mitarbeiters Karl Kautsky geschätzt. Ein Merkmal von Stalins Personalpolitik war aber auch die Vorliebe für Leute, die in seinen Augen einen Schwachpunkt hatten und die er deshalb in der Hand zu haben glaubte: Der "großdeutsche" Renner mag ihm als idealer Erfüllungshelfer erschienen sein.

Bezeichnend ist, daß in den Nachkriegsjahren von Renners Rolle 1938 und von seiner Schrift zur Rechtfertigung des Anschlusses des Sudentenlandes offiziell nie die Rede war. Totgeschwiegen wurde sogar, daß der 1918 ausgerufene Staat "Deutschösterreich" geheißen hatte. Aber war Renner ein "Wendehals"? Renner tat 1918 das, was die Mehrzahl seiner Landsleute wollte. Wahrscheinlich gilt das auch für 1938. Und sicher gilt es für 1945, denn der Stimmungswandel war dramatisch. Und hätte es denn eine Alternative gegeben zur Berufung auf die Moskauer Deklaration? Gegenwartsbewältigung hatte höchste Priorität, und so wie schon 1933/34 oder 1938 war eben wieder einmal Schichtwechsel in Ämtern und Gefängnissen.

Mehr dazu in einem Folgeartikel über die Zeit bis zur Unterzeichnung des Staatsvertrags am 15. Mai 1955.

Foto: Sowjets in Österreichs Hauptstadt: Unter ihrer Ägide kam es hier zur Unabhängigkeitserklärung. Foto: Corbis

 

Daten zur deutschen Frage:

1806: Der Habsburger Franz II. legt die römische Kaiserkrone nieder und erklärt das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, zu dem auch Österreich gehört, nach fast 1.000 Jahren Existenz für erloschen.

1815: Gründung des Deutschen Bundes unter Einschluß Österreichs.

1848/49: Die nationalliberalen Revolutionäre kämpfen für einen deutschen Nationalstaat. Dabei stehen sie vor der Frage, ob Österreich, das spätestens auf dem Wiener Kongreß zum Vielvölkerstaat geworden ist, dazugehören soll. Seitens der sogenannten Großdeutschen wird darauf verwiesen, daß die nationalliberalen Ideale es gebieten, allen Deutschen und damit auch jenen in Österreich ihren Platz im deutschen Nationalstaat zu gewähren. Seitens der sogenannten Kleindeutschen wird darauf verwiesen, daß die selben Ideale es verbieten, die Nichtdeutschen Österreichs in einen deutschen Nationalstaat zu pressen. In der Nationalversammlung setzen sich die Kleindeutschen durch, was jedoch insoweit folgenlos bleibt, als die 48er Revolution scheiterte.

1866: Preußen besiegt Österreich im Deutschen Krieg und zwingt es, der Auflösung des Deutschen Bundes zuzustimmen.

1871: Proklamation Wilhelms I. zum Deutschen Kaiser und Gründung des Deutschen Reiches ohne Österreich.

1918/19: Durch die Auflösung des habsburgischen Vielvölkerstaates und die Reduzierung Österreichs auf einen von Deutschen bewohnten Teil besteht das österreichische Dilemma von 1848/49 nicht mehr. Folglich arbeiten Wien und Berlin auf eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten hin. Entgegen dem Selbstbestimmungsrecht der Völker wird Österreich jedoch im Frieden von St. Germain ein Anschluß an das Deutsche Reich verboten.

1938: Was die Siegermächte des Ersten Weltkrieges der demokratischen Weimarer Republik verwehrten, gewähren sie dem nationalsozialistischen Dritten Reich, die Vereinigung mit Österreich.

1945: Besetzung Österreichs durch die Alliierten und Proklamation seiner Unabhängigkeit.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren