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30.04.05 / Der Zeitenbruch muß überwunden werden / Interview mit dem diesjährigen LO-Kulturpreisträger Sem Simkin

© Preußische Allgemeine Zeitung / 30. April 2005

Der Zeitenbruch muß überwunden werden
Interview mit dem diesjährigen LO-Kulturpreisträger Sem Simkin

Im Hinblick auf die Aktivitäten um die 750-Jahrfeier in Königsberg, bei dem von offizieller Seite der russische Teil der Geschichte der Stadt in den Vordergrund gestellt werden soll, sind die Aktivitäten einzelner heute in Königsberg lebender Menschen, die sich mit der Vergangenheit der Stadt auseinandersetzen, besonders erfreulich. Sie stehen nicht zuletzt auch für einen lebendigen Dialog zwischen Russen und Deutschen. Einer dieser engagierten Russen ist Sem Simkin, den wir unseren Lesern bereits vor der offiziellen Verleihung des Kulturpreises für Literatur der Landsmannschaft Ostpreußen auf dem diesjährigen Deutschlandtreffen in Berlin mit diesem Interview vorstellen wollen.

Was hat Sie dazu bewegt, literarische Texte aus anderen Sprachen zu übertragen?

Ich liebe es sehr, mich mit poetischer Nachdichtung zu beschäftigen. Bei einer Nachdichtung übersetzt man nicht wörtlich, sondern sinngemäß, indem man ein entsprechendes Äquivalent in der russischen Sprache findet, damit das zu übertragende Gedicht auch auf russisch alle Eigenschaften der Poesie behält.

Zunächst habe ich einige Gedichte des mir in Rhythmus und Intonation nahestehenden Nobelpreisträgers Joseph Rudyard Kipling aus dem Englischen, dessen ich kundig bin, übersetzt. Dann habe ich ein Buch mit Gedichten des litauischen Dichters Vitautas Brjanzjus aus Klaipeda / Memel, der früher wie ich Seemann war, mit dem Titel "Es gibt Schicksalswogen" nachgedichtet. Die wortwörtliche Übersetzung ins Russische hat er dabei selbst übernommen. Und dann, als die Perestrojka begann und Freiheit und Demokratie aufkamen, begann ich mit Nachdichtungen aus dem Deutschen, von Dichtern aus Königsberg und Ostpreußen des 17. bis 20. Jahrhunderts.

Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit, also dem Übertragen von Texten vor, die in einer Sprache verfaßt sind, die Sie selber nicht sprechen?

Man kann Texte aus dem Deutschen übertragen, ohne die Sprache zu kennen, indem man sie erfühlt. Ich habe eine qualifizierte Mitarbeiterin, die hervorragend Deutsch kann. Sie fertigt für mich wortwörtliche Übersetzungen an. Und ich baue daraus russische Gedichte, indem ich den Sinn des Originals, sein Versmaß, seinen Aufbau, Reimschema und Intonation, das historische oder gegenwärtige Genre und so weiter erhalte. Heute lese und schreibe ich auch schon selbst auf Deutsch, ich übersetze mit einem Wörterbuch, aber ich kann es nicht sprechen.

Wie sind Sie dazu gekommen, gerade die Werke ostpreußischer Autoren ins Russische zu übertragen?

Nach der Perestrojka öffneten sich die Schleusen der Freiheit. Bei den Menschen erwachte das Interesse an Geschichte und Kultur der Vergangenheit unserer Region, darunter auch an der Poesie. Welche Dichter lebten und arbeiteten auf diesem Stück Erde, auf dem wir jetzt leben? Ich stellte mir das Ziel, alle bedeutenden Dichter Ostpreußens zu finden und zu übertragen, um diesen weißen Fleck für die russischen Leser zu füllen. Als Resultat dieser Arbeit erschien die Anthologie Königsberger Dichter "Du mein einzig Licht ..." in zwei Auflagen (1994 und 1996) mit einer Gesamtauflage von 12.000 Exemplaren zweisprachig (deutsch und russisch). Aufgrund der großen Nachfrage der Leser erschienen dann acht Bände der Reihe "Ostpreußens Poesie", in die Gedichte von Simon Dach und seiner Umgebung, E.T.A. Hoffmann, Johann Gottfried Herder, Schenkendorf und Eichendorff, Walter Scheffler, Agnes Miegel, Ernst Wiechert, Johannes Bobrowski und vieler anderer Dichter einflossen. Dabei gelang es, zwei Gedichte des großen Kant zu finden und zu übertragen. Alle diese Gedichte wurden erstmals ins Russische übersetzt. Ebenso wie Legenden, Humor und Lieder Ostpreußens.

Für mich gibt es keinen Zweifel daran, daß wir unsererseits die Verpflichtung haben, den entstandenen Zeitenbruch zu überwinden und uns als Erben all dessen zu erklären, was dieses Gebiet vor uns an Lichtem, Gutem, Wertvollem hervorgebracht hat. Wir Kaliningrader, Bewohner einer wunderbaren Stadt, in der unsere Kinder und Enkel geboren wurden, betrachten den deutschen Kulturnachlaß, ganz besonders die Werke der Königsberger Dichter, als unser Erbe. Dieses Erbe dürfen und können wir nicht mißachten. Zuweilen gelingt es, mit Hilfe der Übersetzungskunst den flüchtigen Augenblick anzuhalten. Mir war auf diese Weise die beglückende Begegnung mit der geschichtlichen Vergangenheit unseres Gebietes zuteil, des Raums, wo nach dem Wort der Dichterin Marina Zwetajewa "... noch immer geht durch Königsberg Kants schmächtige Gestalt".

Wie sieht die Leserschaft Ihrer Bücher aus? Sind es eher Ältere, die sich mit den Werken deutscher Autoren beschäftigen, oder gibt es auch ein Interesse bei jüngeren Menschen?

Der Großteil meiner Leser sind Intellektuelle mittleren Alters, Menschen der Kultur und Wissenschaft, Heimatforscher und Bibliothekare, Ärzte und Lehrer, und natürlich Dichter. Meine eigenen Gedichte lesen Seeleute gern. Meine Übertragungen ostpreußischer Autoren lesen auch junge Menschen. So erzählte mir zum Beispiel eine 17jährige Studentin, daß sie einmal in einem Vorortzug saß und das Bändchen "Mein Bernsteinland" von Agnes Miegel las. Sie war so in die Gedichte vertieft, daß sie ihre Station verpaßte und dies erst bemerkte, als der Zug die Endstation erreicht hatte.

Gibt es bereits Pläne für weitere Übertragungen aus dem Deutschen, ostpreußischer Autoren?

Ja, ich setze diese Arbeit fort. Zur Zeit habe ich die Arbeit an drei Büchern beendet:

a) Ludwig Rhesa, "Prutena". Dieses Buch ist schon im Druck und soll im Juni 2005 erscheinen, wenn in Kaliningrad eine Grünanlage mit dem Denkmal des bedeutenden Dichters und Aufklärers aus Königsberg Ludwig Rhesa eröffnet wird.

b) Ich habe ein Buch mit Gedichten von Alfons de Resee "Cranz im Lied" übertragen. Es sind lyrische und fröhliche Gedichte über den schönen Kurort Cranz, heute Selenogradsk. Ich beabsichtige, es mit originellen Fotografien des alten Cranz zu illustrieren.

c) Ich habe auch ein Buch mit ausgewählten Gedichten der Lyrikerin Frieda Jung aus Gumbinnen und Insterburg übertragen "Nur du und ich". Das sind sehr schöne Gedichte über die Liebe und die Natur.

Leider fehlt mir für die Herausgabe der beiden letztgenannten Bücher noch die Finanzierung, das heißt ein Sponsor oder Mäzen. Zur Zeit ist es in Kaliningrad unmöglich, ein Buch ohne finanzielle Unterstützung herauszugeben. Jedoch verzage ich nicht und beginne jetzt mit der Arbeit an der Übertragung von Gert O.E. Sattlers "Bernstein, Brot und Bärenfang. Erinnerungen sterben nicht".

Sie übertragen ja nicht nur fremde Texte, sondern Sie sind selber Dichter. Welche Themen bevorzugen Sie?

Ja, in erster Linie schreibe ich meine eigenen Gedichte, bin Autor vieler Bücher, die in Kaliningrad und Moskau herausgegeben wurden. 1998 erschienen meine gesammelten Gedichte "Von diesem Meer ...", für die ich die mit dem Gebietspreis "Priznanie" (Anerkennung) ausgezeichnet wurde. 2005 wird ein Buch mit meinen neuen Gedichten "Ein anderes Ich" erscheinen. Über die Themen: In meinem ersten Beruf war ich Seemann der Fischereiwirtschaft, deshalb ist das "Meer" ein ständiges Thema für mich. Und natürlich auch die Liebeslyrik, Gedichte über den Reichtum der russischen Sprache, über die Natur und philosophische Themen. Und natürlich die Stadt, in der ich lebe und die meine zweite Heimat geworden ist. Ich glaube an das, was die Tochter Königsbergs, Agnes Miegel, gesagt hat: "... und daß Du, Königsberg, nicht sterblich bist!"

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?

Ich hätte sehr gern, daß meine Gedichte ins Deutsche übersetzt würden, so daß deutsche Leser sie kennen und lieben lernen könnten, vor allem die aus Ostpreußen Stammenden. Es wäre schön, wenn einer der deutschen Verlage Interesse an der Herausgabe meiner besten Gedichte in deutscher Sprache hätte (ein kleiner Teil meiner Dichtung wurde schon ins Deutsche übersetzt). In einiger Hinsicht ist das natürlich ein Problem, aber mit dem mir eigenen Optimismus denke ich, daß es kein unlösbares Problem ist.

Die Fragen stellte Manuela Rosenthal-Kappi.

Sem Simkin: Der Russe setzt sich entgegen der offiziellen Kulturpolitik seines Staates mit der Vergangenheit Königsbergs auseinander. Foto: privat


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