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07.05.05 / "Man muß auch gut verlieren können" / Wie in Königsberg der 60. Jahrestag der Eroberung der Stadt begangen wurde

© Preußische Allgemeine Zeitung / 07. Mai 2005

"Man muß auch gut verlieren können"
Wie in Königsberg der 60. Jahrestag der Eroberung der Stadt begangen wurde
von Gerfried Horst

Am Morgen des 6. April 1945 begann der Großangriff der sowjetischen Armee auf Königsberg. Am Abend des 9. April 1945 unterzeichnete General Otto Lasch, Kommandant der Festung Königsberg, in seinem Bunker unter dem Paradeplatz die Kapitulationsurkunde. 60 Jahre später feierten die heute in der Stadt lebenden Menschen diese Tage als den Beginn einer neuen Ära und die Soldaten, die an der Eroberung Königsbergs teilgenommen hatten, als Helden.

Die Gedenkfeierlichkeiten begannen am 6. April 2005 an dem im Norden Königsbergs gelegenen Fort Nr. V (König Friedrich Wilhelm III., Tannenwalde) mit einer Mahnwache von Kriegsveteranen und Ansprachen des Verwaltungsleiters des Bezirks Mitte von Königsberg, Viktor Kudrawtschow, des Bürgermeisters der Stadt, Jurij Sawenko, des Gouverneurs Wladimir Jegorow, des Oberkommandierenden der russischen Ostseeflotte, Wladimir Walujew, und zweier Kriegsveteranen. Nach einer Kranzniederlegung gab es eine Art Theatervorführung: Mitglieder der russischen patriotischen Jugendorganisationen "Friedrichsburg" und "Russischer Stil" spielten in russischen und deutschen Uniformen die Eroberung des Forts nach und hißten am Ende auf seinen Mauern die rote Siegesfahne. In der Kaliningradskaja Prawda hieß es danach, ein Kriegsveteran habe gerührt gesagt, genauso sei es gewesen. Der Journalist fragte einen jungen Russen, der in Wehrmachtsuniform einen deutschen Offizier spielte, ob er nicht gekränkt sei, einen Deutschen, einen Faschisten darstellen zu müssen. Er antwortete, nicht alle könnten Russen spielen. "Und außerdem muß man auch gut verlieren können. Das kann übrigens nicht jeder."

An den folgenden Tagen war die Eroberung Königsbergs Unterrichtsgegenstand an allen Schulen der Stadt. Schüler besuchten Kriegsveteranen, halfen ihnen im Haushalt und überreichten ihnen selbstgebastelte Geschenke. Aus Moskau, St. Petersburg und anderen russischen Städten, aus Moldawien, Weißrußland und der Ukraine kamen Veteranen nach Königsberg. Den in Königsberg wohnenden Teilnehmern an der Eroberung der Stadt zahlte der Stadtrat je 1.000 Rubel (etwa 35 Euro) als Ehrengeschenk aus; eine sicherlich willkommene Gabe angesichts der niedrigen russischen Renten.

Die Abschlußkundgebung fand am 9. April auf dem Platz vor dem Denkmal des Marschalls Wassiljewski statt, dem Oberbefehlshaber der 3. Weißrussischen Front, die Königsberg eroberte. Soldaten der russischen Armee und Marine waren angetreten, Kriegsveteranen, Schüler von Kadettenschulen und Jugendgruppen. Es regnete; die Zivilisten, von denen nur ein paar Hundert an der Kundgebung teilnahmen, hatten ihre Regenschirme aufgespannt. Wieder gab es ein Kriegsspiel; man hörte Schüsse knallen und sah ein paar Soldaten auf den gegenüberliegenden alten deutschen Dohna-Turm zulaufen, auf dem sie dann die rote Flagge der Sowjetunion entfalteten, so wie es damals gewesen sein soll. (In Wirklichkeit wurde diese Szene Ende April 1945 für einen sowjetischen Propagandafilm nachgestellt.) Vor dem Wassiljewski-Denkmal stand ein Altkommunist mit einer roten Fahne, die nicht mehr die Fahne des heutigen Rußland ist. Mein russischer Begleiter sagte, das dürfe der eigentlich nicht, doch man ließ ihn gewähren. Wieder sprach der Bürgermeister Jurij Sawenko. Der 9. April, sagte er, sei der größte Feiertag für jeden, der in dieser Region lebe: "An diesem Tag muß man von ganzem Herzen allen sowjetischen Soldaten danken, durch die wir hier leben."

Der Gouverneur Jegorow sagte, die Eroberung Königsbergs sei eine außerordentliche militärische Leistung gewesen. Die Hauptstadt Ostpreußens sei jahrhundertelang befestigt worden und habe als uneinnehmbar gegolten, "doch unsere Streitkräfte nahmen sie in nur vier Tagen. Ruhm euch, den Soldaten des Sieges! Wir verbeugen uns vor euch." Es sprach dann ein Schüler der elften Klasse einer Kadettenschule, in Infanterieuniform, der seine kurze Rede offenbar vorher gut auswendig gelernt hatte. Nun, als es ernst wurde, blieb er nach wenigen Worten stecken. "Wir, die Jugend, danken euch Veteranen ..." Er stockte. Wie ging es weiter? Er fing noch einmal an: "Wir danken euch ..." Doch die Fortsetzung wollte ihm nicht einfallen; er schwieg. Alle warteten darauf, was er nun tun werde. Es schien schon so, als wolle er aufgeben; da sprach er weiter - vielleicht hatte ihm jemand ein Stichwort gegeben - und trug die Lobeshymnen, die nicht von ihm stammten, bis zum Ende vor. Der Gouverneur schüttelte ihm die Hand. Zum Abschluß sprach ein Kriegsveteran, dessen ganze Brust mit Orden bedeckt war. Er erinnerte daran, daß die deutsche Wehrmacht Polen, Dänemark, Norwegen, Holland, Belgien, Frankreich, Jugoslawien und andere Länder in wenigen Tagen oder Wochen erobert und als unbesiegbar gegolten habe, "aber wir besiegten sie!"

Zwischen den staatlichen und militärischen Würdenträgern stand auch ein Priester. Ich wartete darauf, daß er etwas sagte, ja, ich wünschte, daß er etwas sagte; doch er sagte nichts. Der Bürgermeister bat um eine Schweigeminute für die bei der Eroberung Königsbergs gefallenen Helden der Sowjetarmee. Alle schwiegen; man hörte nur laut den ununterbrochenen Verkehrslärm. Wer weiß, woran jeder dachte. Die Gedanken sind frei. Ich dachte an den Untergang Königsbergs, wie Hans Graf von Lehndorff in seinem "Ostpreußischen Tagebuch" und Michael Wieck in seinem Buch "Zeugnis vom Untergang Königsbergs" ihn geschildert haben, und erfüllte in dieser Minute meine Gedanken ganz mit Königsberg und den Menschen, die in Ostpreußen und in seiner Hauptstadt gelebt haben.

Die Gedenkfeier endete mit Militärmusik, Kranzniederlegungen und dem Vorbeimarsch der Soldaten, Matrosen und Kadetten an den hohen Würdenträgern. Die Zeremonie wirkte auf mich jedoch nicht militärisch-bedrohlich, eher friedlich-provinziell. Die jungen Kadetten bemühten sich mehr schlecht als recht, im Gleichschritt zu gehen. Das Königsberger Gebiet umfaßt knapp die Hälfte der früheren Provinz Ostpreußen. Die hier geborenen und aufgewachsenen Russen nennen das Gebiet "malaja rodina", kleine Heimat; ein Inselchen im Westen, weit entfernt von dem großen Rußland. Königsberg war "eine große Stadt, der Mittelpunkt eines Reichs", wie Kant schrieb ("Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", Vorrede), eine Universitäts- und Seehandelsstadt, deren Lage "mit angrenzenden entlegenen Ländern von verschiedenen Sprachen und Sitten einen Verkehr begünstigt" und von der er sagte, sie könne "schon für einen schicklichen Platz zur Erweiterung sowohl der Menschenkenntnis als auch der Weltkenntnis genommen werden, wo diese, auch ohne zu reisen, erworben werden kann". Heute sind die Stadt und die dazugehörige Region abgetrennt, eingeschlossen, eng begrenzt, klein und provinziell, und der größte Wunsch ihrer Bewohner ist es, ebenso frei reisen zu können wie die Bürger der umliegenden europäischen Länder.

Die Siegesfeiern, die über den Straßen hängenden Transparente "9. April 1945 - 2005 - Eure Heldentaten werden über Jahrhunderte leben", die riesigen Plakate, auf denen die Ruinen Königsbergs abgebildet waren und daneben der sowjetische Orden mit der Inschrift "Für die Eroberung Königsbergs" oder "Ruhm Euch, den Teilnehmern an der Erstürmung Königsbergs" dies alles weckte in mir den Wunsch, rief geradezu das körperliche Bedürfnis hervor, gemeinsam mit anderen Menschen der Opfer dieser Eroberung zu gedenken. Deshalb besuchte ich am Sonntag, dem 10. April, den evangelischen Gottesdienst in der neu erbauten Kirche an der von den Russen "Prospekt Mira" (Friedensallee) genannten Hufenallee.

Es war der zweite Sonntag nach Ostern, genannt Misericordia Domini oder der Sonntag vom guten Hirten. Der Pfarrer, Propst Osterwald, verlas den 23. Psalm "Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln." Nach dem deutschen Text las eine junge Frau den Psalm auf russisch vor. Ebenso geschah es mit dem Text aus dem Johannesevangelium, Kapitel 10, Vers 11 bis 16 "Ich bin der gute Hirte ...", mit dem Sündenbekenntnis und dem Glaubensbekenntnis, das von allen erst auf deutsch und ohne Pause dann gleich auf russisch gesprochen wurde, so daß daraus ein einziges deutsch-russisches Gebet entstand. Auch die Predigt wurde in dieser Weise vorgetragen: Der Pfarrer sagte immer einen Satz auf deutsch, den die neben ihm stehende junge Frau dann ins Russische übersetzte. Er predigte über eine Stelle aus dem Propheten Hesekiel, Kapitel 34, Verse 1 bis 16, 31, wo es um die schlechten Hirten geht, die nicht die Schafe, sondern sich selbst weiden, und wo es dann heißt: "So spricht Gott der Herr: Siehe, ich will an die Hirten und will meine Herde von ihren Händen fordern; ich will ein Ende damit machen, daß sie Hirten sind, und sie sollen sich nicht mehr selbst weiden." Propst Osterwald bezog diesen Text auf den 9. April, den 60. Jahrestag der Erstürmung Königsbergs. Dies seien Nachkriegsworte, die der Prophet an das Volk Israel richtete, das nach dem Krieg nach Babylon deportiert worden war. Dem Propheten war klar, daß die Zeit davor zu diesem bösen Ende führen mußte; die Hirten, das heißt die Führer Israels hatten ihr Amt mißbraucht. Es gebe da Parallelen zu dem 9. April 1945, der eine Vorgeschichte habe. Wenn man an die Männer denke, die damals das deutsche Volk führten, sei es zwar schwer, an "Hirten" zu denken, denn sie seien Verbrecher gewesen. Das Volk habe aber diesen "Hirten", diesen Verbrechern geglaubt, und das führte zum bösen Ende. Aber Gott sagte: Ich will ein Ende mit ihnen machen. Das sei vor 60 Jahren geschehen; "es nahm ein Ende mit den Hirten, aber auch mit der Herde, das heißt sie mußte ihre Stadt verlassen", und er setzte hinzu: "Richtiger gesagt, sie wurde vertrieben, ebenso wie die anderen Ostpreußen." Nach der Predigt betete er für "die Menschen jeder Nationalität", die Opfer von Krieg und Vertreibung wurden, und dafür, daß von dieser Stadt, die so viel erlitten habe, jetzt Frieden und Versöhnung ausgingen.

Rot statt Weiß-Blau-Rot dominierte die Feier: Königsbergs Gebietsgouverneur Wladimir Jegorow ließ es sich nicht nehmen, zu Füßen des Eroberers Königsbergs, Marschall Wassiljewski, die Parade militärischer und paramilitärischer Verbände abzunehmen. Foto: Horst


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