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14.05.05 / Gegen das selektive Erinnern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 14.Mai 2005

Wilhelm v. Gottberg:
Gegen das selektive Erinnern

Mit einem ökumenischen Gottesdienst und einem sich daran anschließenden Staatsakt im Plenarsaal des Reichstages gedachte das offizielle Deutschland des Kriegsendes vor 60 Jahren. Selektive Erinnerung, aber auch aufrichtige Trauer über den Zivilisationsbruch in Deutschland während der NS-Zeit, und die Erhebung der Befreiungsthese vom 8. Mai 1945 zur Staatsräson waren kennzeichnend für die Veranstaltungen.

Ein Kontrastprogramm wurde den Besuchern des ökumenischen Gottesdienstes in der St. Hedwigs-Kathedrale geboten. Für den EKD-Ratsvorsitzenden, Bischof Huber, war das Kriegsende uneingeschränkt ein Tag der Befreiung, weil wir selbst nicht die Kraft gehabt hätten, uns von der mörderischen Diktatur alleine zu befreien. Verklausuliert wiederholte er das Schuldbekenntnis der evangelischen Kirche von 1945. An die Leiden seiner Landsleute am Ende des Krieges erinnerte der Kirchenmann nicht. Seine Formulierung, der Dank an die Befreier bleibe gültig, wurde von nicht wenigen Zuhörern als Verbeugung vor dem Zeitgeist gedeutet.

Ganz anders der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Lehmann. Er machte durch Benennung der Fakten bei Kriegsende deutlich, wie problematisch die These von der Befreiung ist. Lehmann erinnerte an ein Telegramm eines russischen Generals an Stalin: "Die Menschen hier essen Gras und Rinde von den Bäumen." Er zitierte die Berliner Viermächte-Erklärung vom 5. Juni 1945: "Deutschland unterwirft sich allen Forderungen der Siegermächte." Der Kardinal erinnerte an die Opfer von Flucht und Vertreibung, die auch heute noch in der deutschen Erinnerungskultur nur ungenügend berücksichtigt würden. Er benannte die SED-Diktatur in der SBZ/DDR und sprach von der Privilegierung Westdeutschlands nach 1945. Lehmanns Resümee war, daß Deutschland nach dem Krieg seine Möglichkeiten bekommen habe und diese zu nutzen wußte.

Darin war er sich einig mit dem Bundespräsidenten. Dieser sprach beim Staatsakt im Plenarsaal des Reichstages. Köhler konnte und wollte wohl auch nicht hinter die Position des Altpräsidenten von Weizsäcker zurückfallen, der bekanntlich die Befreiungsthese in einer Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes 1985 erstmalig vertreten hatte. Auch für den amtierenden Bundespräsidenten ist der 8. Mai ein Tag der Befreiung. Aber Köhler relativierte auch wiederum ein wenig diese apodiktische Feststellung, indem er sehr ausführlich das Weiterbestehen der Unfreiheit in Osteuropa und das SED-Willkürregime in der SBZ/DDR thematisierte. Der Bundespräsident stellte fest, daß es einen Schlußstrich unter die NS-Verbrechen nicht geben werde, aber er wies auch darauf hin, daß Deutschland heute ein ganz anderes Land sei. Köhler erinnerte auch mit einem Satz an die Leiden in Königsberg nach der Kapitulation der Stadt. Das Staatsoberhaupt stellte zu Recht fest, daß die Deutschen aus eigener Kraft in ihrem Land eine stabile Demokratie geschaffen hätten. Dies sei Anlaß für die Deutschen, auf ihr Land stolz zu sein.

Die Berichterstatter für Funk und Fernsehen wurden bei der Übertragung der Veranstaltungen nicht müde zu betonen, daß 80 Prozent der Menschen in Deutschland der Auffassung wären, der 8. Mai sei ein Tag der Befreiung.

Zweifel an der Richtigkeit dieser Feststellung sind angebracht. Zwar nimmt die Geschichtslosigkeit in unserem Land mehr und mehr zu, aber es leben noch einige Millionen Deutsche, die das Kriegsende bewußt miterlebt haben. Diese wissen, daß das Kriegsende alles andere als eine Befreiung war. Es gibt auch einige Millionen Nachgeborene, die sich auf Grund ihrer Bildung die umstrittene Befreiungsthese nicht zu eigen machen. Ein Aktionsbündnis junger Menschen hat dies mit einem Event in Form eines Umzuges bei der parallel zum Staatsakt verlaufenden öffentlichen Veranstaltung "Tag der Demokratie" deutlich gemacht. Etwa 100 Personen hatten sich als ostdeutsche Vertriebene verkleidet und waren mit Pferd und Planwagen, als Fußgänger mit Kinderwagen und Bollerwagen, rund zwei Stunden durch die Straßen der zentralen Berliner Mitte gezogen. Sie machten auf die in diesem Land vorherrschende selektive Erinnerung aufmerksam, die immer dann besonders augenfällig wird, wenn es um die Erinnerungskultur der eigenen Opfer geht.

Eben dies wurde auch durch die Tatsache belegt, daß niemand der Redner und der Reporter an den bedrückenden Verlust von mehr als einem Viertel deutschen Territoriums im Osten erinnerte, der unabdingbar zu benennen gewesen wäre, da es um die Erinnerung an das Kriegs-ende am 8. Mai vor 60 Jahren ging. Ostpreußen blieb ungenannt.

Die Besucher der Veranstaltung "Fest der Demokratie" am Brandenburger Tor kamen mehrheitlich aus dem linken Lager. Dies kann nicht verwundern, waren doch unter den einladenden Gruppen auch die antifaschistischen Kämpfer gegen Rechts und Faschismus. Obwohl diese Gruppen vom äußersten linken Rand ihren Haß auf die demokratische Grundordnung der Republik deutlich artikulieren, haben Gruppierungen des demokratischen Spektrums keine Berührungsängste mit diesen linksextremistischen Feinden der Demokratie. Es gibt in der Bundesrepublik nicht nur eine selektive Erinnerung, sondern auch hinsichtlich der Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine selektive Wahrnehmung. Für Berlin gilt dies schon seit vielen Jahren.

Eine Befreiung am 8. Mai 1945 zu konstatieren, widerspricht der historischen Wahrheit. Deutschland wurde als Feindstaat besiegt, besetzt und vernichtet. Hunderttausende ließen die Siegermächte nach Kriegsende verhungern. Gefangenschaft und Deportation war das Schicksal für unzählige Deutsche nach der Kapitulation. Das Ende der NS-Diktatur wurde für das halbe Europa ersetzt durch eine neue Diktatur, auch für die SBZ/DDR. Nach Kriegsende wurde die Massenaustreibung der Ostdeutschen aus ihrer jahrhundertealten angestammten Heimat beschlossen und durchgeführt. Die Würde der Opfer der Siegerwillkür verbietet es, die Befreiungsthese gedankenlos zu verbreiten. Nur um einer böswilligen Interpretation vorzubeugen: Niemand kann ernstlich in Abrede stellen, daß für die von Deutschland während des Krieges besetzten Länder sowie für die Insassen der Konzentrationslager und der Zuchthäuser das Kriegsende tatsächlich eine Befreiung war.


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