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21.05.05 / Träume und Ängste / Otto Höchst erlebt das Kriegsende im Vogtland (I)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 21. Mai 2005

Träume und Ängste
Otto Höchst erlebt das Kriegsende im Vogtland (I)

Das Jahr 1945 brachte uns einen sonnigen und heißen Mai. Großvater saß in seinem Korbsessel vor unserem Behelfsheim. Der gebrochene alte Mann wartete Tag für Tag auf das Ereignis, das ihn wieder in sein Dorf nach Ostpreußen zurückbringen möge. Wir hatten das alte Möbel aus hellem Weidengeflecht von einer Hausratssammlung bekommen, die für uns Flüchtlinge veranstaltet worden war. "Für Ihren kranken Vater", hatte die Frau, die die Gegenstände verteilte, zu Mutter gesagt. Mir schien, als warte Großvater schon auf mich, als ich aus dem Gemeindeamt zum Mittagessen nach Hause kam. Besorgt schaute er mich an: "Was is?" fragte er und zwirbelte an seinem Schnurrbart, "konntest du was erfahren, wo steht der Amerikaner und wo der Russe? Wenn man bloß nich die Russen eher sind."

Es war abzusehen, daß die Amerikaner unsere Gegend einnehmen würden; böse Ereignisse, die bei den Älteren noch aus dem Ersten Weltkrieg im Gedächtnis hafteten, lösten wohl bei Opa den Wunsch aus, es mögen lieber die Amerikaner sein, die ihm als Eroberer und Sieger dieses sinnlosen Krieges gegenübertreten sollten. "Opa laß uns zu Tisch gehen, ich habe Hunger. Über solche Sachen erfahre ich nichts", sagte ich und stützte ihn beim Hineingehen. "Wir haben den ganzen Vormittag Akten sortiert. Sogar die Heizung wurde angezündet, um einiges zu verbrennen. Auch der Reißwolf lief auf Hochtouren." - "Kann ich mir denken", brummte Großvater so vor sich hin, "kann ich mir denken. Der Herr Bürgermeister ist ja auch ein bedeutender Mann bei der SS. Da wird eine ganze Menge zu vernichten sein." - "Sturmbannführer bei der 7. SS-Standarte ist er", erwiderte ich. "So steht es jedenfalls auf seinen gesonderten Briefbögen." - Selbst beim kargen Mittagessen war Großvater in Gedanken immer noch bei unserem alten Thema: "Mit dem Deutschen Reich geht das ja nun wohl zu Ende. Aus der Vergeltungswaffe wird nichts mehr werden. Ich kann das nicht verstehen, wo wir doch überall so weit gekommen waren. Da muß in den obersten Linien was passiert sein. Der deutsche Soldat gibt so leicht nichts verloren. Der steht seinen Mann. Nein, unsere Soldaten, die haben diesen Krieg nicht verloren. Wenn man bloß lieber der Amerikaner einmarschieren möchte und nicht der Russe. Aber der Krieg ist zu Ende und sicher werden sie uns wieder nach Hause lassen. Ein Weg findet sich immer." Oma sah ihn fast mitleidsvoll an und sagte: "Was willst du alter Mann da ausrichten. Alles wird zerstört sein. Wir sind zu alt, um aufzubauen, wie wir es nach dem Ersten Weltkrieg taten."

Opa hatte seinen Kopf leicht gesenkt und rieb seine Handflächen aneinander. "Aber das ist doch unsere Heimat. Da kommen wir her und da gehören wir hin", sagte er ganz bewegt. Plötzlich hob er seinen Kopf hoch und schaute Oma an. "Luise", sagte er und betonte dabei die Vokale ‚u' und ‚i' ganz stark und wenn Großvater, der sonst in unserer Gegenwart immer die Anrede ‚Mutter' benutzte, Luise sagte, dann wollte er seinen Worten großen Nachdruck verleihen. "Die Jungen werden das tun. Sie werden aufbauen. Wir zwei werden eine Bank finden und uns hinsetzen. Wir schauen auf den Ententeich, hören das Rauschen der Linden. Noch einmal erleben wir ..." - "Gottlieb, Gottlieb", unterbrach Oma "deine Träume gehen zu weit." Wir schwiegen, wußten wir doch um die Realität und wußten wir auch, was unserem Großvater die Worte "Vaterland" und "Heimat" bedeuteten.

Schon am nächsten Tag ließ mich Bürgermeister Reinhold in sein Arbeitszimmer rufen. "Setz dich da hin", sagte er und wies auf einen Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Er schien etwas besorgt zu sein. "Wenn ich so bedenke", sagte er, "bist du nicht gerade ängstlich. Du hast alleine von Ostpreußen bis hierher gefunden, wie lange warst du unterwegs?" - "Ich weiß nicht genau", antwortete ich, "sieben oder acht Tage vielleicht." - "Du weißt, wo ich wohne", fuhr er fort, "kennst du das Haus? Mit den Telefonverbindungen könnte es bald aus sein und ich brauch' einen Boten. Wenn deine Mutter einverstanden ist, wohnst du ein paar Tage bei mir. Hättest du denn Angst, in der Nacht eine Nachricht zu überbringen? Du müßtest den Waldweg nehmen, am Tierteich vorbei. Da sind nächtlich starke Nebel." Ich schüttelte mit dem Kopf und sagte: "Ich habe keine Angst nich'." Das schien ihn zu belustigen. "An deiner Ausdrucksweise müssen wir arbeiten", meinte er, "keine nich' geht nicht." Am Abend bezog ich Quartier im Hause des Bürgermeisters. Ich wurde freundlich in der Familie aufgenommen. Einen nächtlichen Botengang brauchte ich nicht zu verrichten.

Am 6. Mai 1945, in den Nachmittagsstunden, rückten amerikanische Truppen in Tannenbergsthal ein. Sie kamen mit Panzern. Wir entdeckten sie, als sie von unserem Nachbardorf Hammerbrücke anrollten. Opa hatte angeordnet, daß wir uns ins Innere unserer Behausung zu begeben hatten. Dort warteten wir. "Laßt die Tür unserer ärmlichen Hütte offen", hatte Opa gesagt. "Zum Plündern ist bei uns sowieso nichts. Es darf aber auch nicht so aussehen, als wollten wir Widerstand leisten." Es dauerte eine ganze Weile, bis zwei behelmte GIs unser Behelfsheim betraten. Sie hatten ihre MP schußbereit unter den Arm geklemmt. Mutter hatte uns drei Kinder ganz dicht an sich gezogen. Oma und Opa saßen auf der Eck-bank. Die zwei Bewaffneten schauten sich im Raum um. Plötzlich wandte sich einer der beiden GIs zu mir und machte mit seiner MP ein Zeichen in Richtung des anderen Zimmers. "O Gott, o Gott", sagte Mutter, "die werden dem Jungen ..." Opa unterbrach: "Sei still, Emma", sagte er kurz. "Ottke soll nur den Raum betreten, bevor er ihn inspiziert. Das haben wir im Krieg auch gemacht." Die beiden GIs verständigten sich knapp und gingen. Mutter faltete die Hände und flüsterte: "Gott sei Dank, uns ist nichts passiert." - "Und doch ist was passiert", Opa sagte es sehr eindringlich. "Wir haben den Krieg verspielt und was wird werden? Wird uns der Russe wieder nach Hause lassen? Was werden die Siegermächte sich ausdenken? Wird die Heimat deutsch bleiben? Ich will nicht hier sterben. Wir können nur hoffen, immer wieder nur hoffen."

Bürgermeister Reinhold hatte jeglichen Widerstand durch den Volkssturm und durch die Hitlerjugend, die mit Panzerfäusten zum Einsatz bereitstand, verhindert und hatte bereits errichtete Panzersperren abbauen lassen. Er übergab das Dorf mit weißer Fahne dem Kommandanten der einmarschierenden Truppen. Die weiße Fahne hochhaltend, wurde er stehend in einem offenen Jeep durch die ganz Gemeinde gefahren. Als Unterpfand für die kampflose Übergabe seines Dorfes wurde Walter Reinhold in den Ortsteil Jägersgrün gebracht. Man stellte ihn auf eine Straßenkreuzung vor einen Panzer. Zwei GIs standen mit schußbereiten MPs hinter ihm. Im Dorf blieb es ruhig und zu später Stunde durfte er nach Hause zu seiner Familie. Wenige Tage später wurde er verhaftet.

wird fortgesetzt

Verlorene Idylle: Der Krieg zerstörte nicht nur Menschenleben, er vernichtete auch so verträumte Plätze wie diesen am Fürstenteich in Königsberg. Foto: Grunwald


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