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28.05.05 / Die Übernahme / Otto Höchst erlebt das Kriegsende im Vogtland (II)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 28. Mai 2005

Die Übernahme
Otto Höchst erlebt das Kriegsende im Vogtland (II)

Im Herrenhaus des Herrn Geheimrat Meinel wurde die Kommandantur der amerikanischen Besatzung eingerichtet. Linksseitig der Straße nach Gottesberg und linksseitig der heutigen Karl-Marx-Straße waren für die Truppen Zelte aufgebaut worden. Zelte, die in der Langen Wiese, die entlang der Straße nach Jägersgrün verläuft, aufgebaut waren, beherbergten Kriegsgefangene und Flüchtlinge.

Schließlich waren in einem nahegelegenen, felsigen Waldstück doch noch drei oder vier mit einem Gewehr und einer Panzerfaust bewaffnete Hitlerjungen im Alter von 14 bis 15 Jahren aufgestöbert worden. GIs brachten sie ins Dorf, stellten sie an die Wand eines der Fabrikgebäude und postierten sich mit schußbereiter MP vor ihnen auf. Zwei Fahrtenmesser, die ihnen offenbar abgenommen worden waren, lagen vor ihnen auf dem Erdboden. Die ziemlich verschmutzten Jungen standen da mit schlotternden Knien. Ihre blaßfahlen Gesichter waren leer. Noch gestern wollten sie mit einer Panzerfaust und einem Gewehr Widerstand leisten, gegen diese Macht von Panzern und einer hoch ausgebildeten Armee. Wer waren diese Jungen, die solches wagten?

Jetzt standen sie vor den Siegern, die über sie richten würden. Der Anblick war grauenvoll und kläglich zugleich. Was würde geschehen?

Mit einem Jeep wurde ein Offizier vorgefahren. Er befahl den GIs zurückzutreten. Sehr lange und nachdenklich schaute er die Jungen an. In seinem Gesicht zeichneten sich Zorn und Mitleid zugleich ab. Er sah aus, als sei er mit seinen Gedanken weit weg. "Home to mama" kam es von seinen Lippen, "go home to mama", sagte er immer wieder. Als wache er aus einem bösen Traum auf, nahm er eines der auf dem Erdboden liegenden Fahrtenmesser in die Hand. Die stählerne Klinge blitzte leicht auf, als er sie aus der Scheide zog. "Blut und Ehre", las er. Er schüttelte seinen Kopf, trat an die Jungen heran, verpaßte jedem von ihnen eine schallende Ohrfeige, wies mit dem Arm in Richtung Dorfstraße und schrie: "Geht heim zu Mama!"

Gleichaltrigen Schülern der "Napola", einer Eliteschule im Dritten Reich, die gewiß auch als Werwölfe ausgebildet worden waren, erging es schlechter. Sie waren von der Roten Armee in Gewahrsam genommen worden. Nach einer antifaschistischen Umerziehung in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager sahen sie erst nach sechs Jahren ihre Angehörigen wieder.

Am ersten Tag der Besetzung ging ich pünktlich wie immer in das Gemeindeamt, um die Arbeiten zu verrichten, die mir zugeteilt werden würden. Nach der Verhaftung von Bürgermeister Reinhold, wurde der parteilose Prokurist der im Ort ansässigen Firma "Eduard Keffel AG", Kurt Fischer, als neuer Bürgermeister eingesetzt. Er war über diese Aufgabe nicht sehr glücklich. Das Leben im Dorf ging weiter. Im Auftrag der Sieger wurde ortsüblich bekanntgegeben: Von Dunkel- bis Hellwerden habe die Bevölkerung ihre Wohnungen nicht zu verlassen. Wer im Besitz von Waffen, Fotoapparaten und Ferngläsern sei, habe sie sofort beim Bürgermeister im Gemeindeamt abzugeben.

Groß war die Ausbeute nicht. Ein paar Jagdwaffen, einige wenige Ferngläser und eine erhebliche Anzahl von Fotoapparaten. Das Beutegut wurde in einem verschlossenen Raum des Gemeindeamtes aufbewahrt. Den Besitzern ist es mit Sicherheit nicht wieder zurückgegeben worden. In meiner Erinnerung sehe ich zwei Soldaten der US-Armee, die eines Tages die für sie offensichtlich wertlosen Apparate, wie etwa vom Typ "Boxkamera", vernichteten. Sie gingen in den Aufbewahrungsraum, zertraten die Apparate und spielten damit Fußball. Für sie schien es ein höllischer Spaß zu sein.

Das Gemeindeamt wurde zum Warenhaus. Die Amerikaner übergaben aus Magazinen, die bisher unter der Verwaltung der deutschen Wehrmacht gestanden hatten, Textilien und Lebensmittelkonserven zum Verkauf an die Bevölkerung. Begehrte Waren, darunter Bettwäsche, Kleiderstoffe und Herrenanzüge, die in den Läden nicht zu haben waren, tauchten plötzlich auf. Der Kauf von Lebensmittelkonserven soll auch Glückssache gewesen sein. Ein Teil davon war überlagert und stellte sich als ungenießbar heraus.

"Mein Sohn Willy", hatte Oma gesagt, "wenn der aus dem Krieg nach Hause kommt, der hat doch rein gar nichts auf dem Leib. Emma, hier nimm sein Sparbuch und heb Geld ab für zwei Anzüge. Na, du wirst ja sehen, was die so haben. Auch Unterwäsche wäre nötig." Mutter tat wie ihr geheißen. Es waren preiswerte Angebote, und so kaufte sie auch für unseren Haushalt die bitternötige Bettwäsche, einen Anzug für mich und Kleiderstoff für Schwester Liesbeth. "Siegfriedche", sagte sie, als sie nach Hause kam, "für dich hatten die nichts." Daß auch sie leer ausgegangen war, nahm sie gar nicht wahr.

Schwester Liesbeth kam weinend und völlig zerzaust mit einem Brot nach Hause. Sie war gerade vorbeigekommen, als die Amerikaner im Dorf von einem Jeep Brote und auch andere Lebensmittel an die Bevölkerung verteilten. Sie hatte ein Brot bekommen, das ihr ein fremder Junge aus den Händen reißen wollte. Bis zur Erschöpfung hatte sie darum gekämpft. "Meine starke Tochter", hatte Mutter gesagt, "ein Laib Brot ist eine Kostbarkeit. Du hast darum gekämpft, für uns alle hast du das getan. Wir müssen nun etwas weniger hungern. Komm, ich mach' dir dein Haar zurecht." Sie strich ihr zärtlich über den Kopf. "Es ist mir ja nichts passiert", sagte Liesbeth, "aber diese Gemeinheit von dem Jungen. Ich hatte das Brot schon in den Händen. Wie kann er es mir wegnehmen, wo es doch mir gehörte. Vielleicht hätte ich mich auch noch nach etwas anderem angestellt, aber dann bekam ich plötzlich Angst."

Am 2. Juli 1945 zogen die Amerikaner ab. Die Rote Armee, die weite Teile des Landes und die reichsdeutsche Hauptstadt erobert und besetzt hatte, Opas gefürchtete Russen, rückten ein. Ein Gemisch von Fahrzeugen verschiedener Art, Panjewagen und Fußvolk zog die Dorfstraße entlang. Es waren müde Sieger, denen ein neues Gebiet zugeordnet worden war. Die Alliierten, die auf ihren Konferenzen in Jalta und Potsdam die Grundsätze über die Kontrolle und Besetzung Deutschlands festgelegt hatten, präzisierten in der Zwischenzeit die Grenzbereiche. Sicher auch angesichts des Umstandes, daß im Juli 1945 Berlin von der Interalliierten Militärkommandantur übernommen und eine Viersektorenstadt mit Sitz des Kontrollrates wurde. Der von den Amerikanern eingesetzte Bürgermeister wurde seines Amtes enthoben. Er ging wieder an seine alte Wirkungsstätte als Prokurist zurück. Seine Prokura dürfte jedoch bereits im Juni 1946 durch den Volksentscheid über die Enteignung der Kriegs- und Naziverbrecher ohne Nutzen gewesen sein. Die Firma "Eduard Keffel AG" wurde enteignet und ging in Volkseigentum über. Was ihr zur Last gelegt wurde? Soweit ich herausfinden konnte, produzierte sie neben Produkten aus Kunstleder zu zehn Prozent für die Deutsche Wehrmacht. Das Zweigwerk dieser Firma in Kohlmünde wurde vollständig demontiert. Die Maschinen wurden abgebaut und in die Sowjetunion transportiert.

Als Ausdruck des Führungsanspruchs der Arbeiterklasse wurde der Fabrikarbeiter Curt Lippold kommissarisch als neuer Bürgermeister eingesetzt. Ein Offizier der Roten Armee führte ihn in seine neue Aufgabe ein. Ein paar Tage später erschien ein junger Offizier, der die deutsche Sprache sehr gut beherrschte, im Gemeindeamt. Er verlangte zwei bis drei Radioapparate, die dem Leitungsstab, der sich ebenfalls im Herrenhaus des Geheimrats Meinel niedergelassen hatte, zur Verfügung gestellt werden sollten. Bürgermeister Lippold war ratlos. "Wo soll ich plötzlich drei Radios hernehmen", sagte er. "Hier im Gemeindeamt steht ein gutes Radio, das kann gleich abgeholt werden." - "Nitschewo", sagte der Offizier, "die Bevölkerung soll geben."

Bürgermeister Lippold beratschlagte eine Weile, wer wohl im Dorf über zwei Radios verfügte und eines davon opfern könne. Er telefonierte mit verschiedenen Leuten und versuchte eine freiwillige Abgabe eines Zweitgerätes zu erhandeln; sozusagen, um die Ehre des Dorfes zu retten. Es war schließlich das Verlangen der Siegermacht. Es gab keine freiwilligen Spender. Also mußten Radiogeräte beschlagnahmt werden. Namen wurden festgelegt.

Nachdem der Hausmeister und Gemeindebote Gottlieb Meinhold es abgelehnt hatte, die Radios abzuholen, bekam schließlich ich den Auftrag, mit dem Handwagen des Gemeindeamtes ausgerüstet, bei zwei doch recht begüterten Familien je ein Radio zu konfiszieren. Der Bürgermeister hatte mir darüber eine schriftliche Bestätigung ausgehändigt, die ich als Quittung hinterlassen sollte. Für einen 15jährigen Jungen war das eine bittere Aufgabe.

Meine Lehre im Verwaltungsdienst konnte nicht weitergeführt werden. Ich wurde schließlich als Bürogehilfe übernommen.


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