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02.07.05 / Empfindliches Gemüt / Hans Christian Andersen wurde

© Preußische Allgemeine Zeitung / 02. Juli 2005

Empfindliches Gemüt
Hans Christian Andersen wurde von den Brüdern Grimm nicht sonderlich wahrgenommen

Märchen sind wahrscheinlich ein Spiegel der menschlichen Seele, ihrer Ängste, Sehnsüchte und Wünsche; wenn auch ein Spiegel von verschwommener, dunkler Art. Ein Mensch wie Hans Christian Andersen, der sich selbst ein Rätsel war, wie er seinem Tagebuch bekannte, konnte dank seiner außergewöhnlichen Phantasie, gepaart mit "seherischer Begabung", andere in solch einen Spiegel blicken lassen und sie dabei trefflich unterhalten. Sowie nun seine Meisterschaft auf diesem Gebiet anerkannt war, durfte er sich am Ziel wähnen; sein Wunsch-Seelenzustand war erreicht. Er war, was er immer sein wollte: bekannt und bewundert, beliebt und beneidet. Das Märchen vom häßlichen Entlein, das sich in einen wunderschönen Schwan verwandelt - und den anderen Bewohnern des Hühnerhofs, sprich: einigen mißgünstigen Schriftstellerkollegen, eine lange Nase zeigt, was aber nicht mehr zum Märchen gehört, da es nicht dazu gehören darf - es hatte sich bei dem Schuhmachersohn aus Odense bewahrheitet. Keinesfalls jedoch läßt sich Andersens (Sehn)Sucht nach Bestätigung auf hohem Niveau lediglich auf seine Herkunft zurückführen.

Daß Andersens Selbstwertgefühl mindestens zu einem wesentlichen Teil durch seine schriftstellerischen Erfolge und die dadurch errungene gesellschaftliche Stellung gespeist wurde, geht unzweifelhaft aus seiner 1847 erschienenen Autobiographie "Märchen meines Lebens ohne Dichtung" hervor, und dies, obwohl zu vermuten ist, daß der Dichter versucht hat, Regungen dieser Art wenn möglich zu bemänteln. Sie bestimmen dennoch wie ein roter Faden den Ton seiner Lebensgeschichte. In Deutschland, anders als in seinem Heimatland Dänemark, erlebte der Dichter mit seinem gesamten schriftstellerischen Werk nahezu einhellige Anerkennung, und nach Deutschland führten ihn seit 1831 zahlreiche Reisen. Er reiste im Zeichen der Kontaktfreude und pflegte seine Bekanntschaften durch regelmäßige Besuche, bei denen er selbstverständlich als Künstler gefeiert wurde. Je höher gestellt seine Bewunderer waren, desto wohlgefälliger nahm er deren Anerkennung hin. Die höchste Stufe war für ihn mit dem Lob arrivierter Autoren und den zahlreichen Einladungen in adelige Häuser und selbst zu Hofe bei Fürsten und Königen erreicht; mehrfach erwähnt er in seiner Autobiographie die "Gnade" der Majestäten ihm gegenüber. Die naive Freude selbst noch an hohlen Schmeicheleien machte zum Teil jenen kindlichen Zug seines Wesens aus, der von Zeitgenossen immer wieder erwähnt worden ist. Kindlich erschien Andersen dem Publizisten F.G. Kühne auch deshalb, weil er "mitten in der Debatte der streitigen Welt harmlos" geblieben sei: "Ein von Leidenschaft nie getrübter Mann aus dem Mond reicht dir träumerisch Hand und Herz", so der Herausgeber der Zeitschrift Europa in einer im Jahrgang 1847 erschienenen Würdigung des Künstlers.

Andersens erste Begegnung mit Jacob Grimm im Frühjahr 1844 in Berlin hat ihm nach seiner eigenen Schilderung dementsprechend einen empfindlichen Stoß versetzt. Da er ohne Empfehlungsschreiben - auf so etwas war er längst nicht mehr angewiesen - und unangemeldet in der gemeinsamen Wohnung der Brüder Grimm erschien, ließ er sich, auch dies wiederum typisch, zuerst zu dem Bedeutenderen der beiden führen. Er stellte sich Jacob Grimm selbst vor - und wurde nicht erkannt, von dem berühmtesten deutschen Germanisten nicht erkannt! Nicht nur als Märchendichter, sondern auch als Bühnenautor, Romancier und Reiseschriftsteller war Hans Christian Andersen Jacob Grimm ein Unbekannter geblieben! Dabei war sein Roman "O. T." 1837 in deutscher Übersetzung veröffentlicht worden, 1838 der Roman "Nur ein Geiger", und 1839 war seine erste deutschsprachige Märchensammlung erschienen. Und auch in Berlin verkehrte Andersen in Künstler- und Adelskreisen, unter anderem bei Minister Savigny. Daher mußte er bei Jacob Grimms Unkenntnis seiner Werke nach Fassung ringen. Dieser lenkte in der peinlichen Situation freundlich ein: "Aber es freut mich, Sie kennenzulernen. Darf ich Sie zu meinem Bruder Wilhelm führen?" Sein Gast war jedoch so verwirrt, daß er es ablehnte, sich Wilhelm Grimm vorstellen zu lassen, der sich im Nebenzimmer aufhielt. Später schilderte Andersen sein verdrießliches Erlebnis Bekannten in Kopenhagen, wobei er deren Einwand nicht gelten ließ, er sei doch sonst in Berlin allgemein bekannt und bestens aufgenommen worden, denn: "Grimm kannte mich überhaupt nicht."

Andersen wurde aber bald zweifach Genugtuung zuteil. Nur wenige Wochen später erschien Jakob Grimm überraschend bei ihm zu einem kurzen Besuch in seiner Kopenhagener Wohnung. "Herzlich drückte er mir die Hand und sah mich mild mit seinen klugen Augen an", beschreibt Andersen, vollständig versöhnt, die Begegnung. Und während seines nächsten Berliner Aufenthalts im Dezember 1845 - ihm war mit der Märchensammlung "Neue Märchen und Erzählungen für Kinder" gerade der Durchbruch auf dem deutschen Büchermarkt gelungen - sprach sich jemand nach seinem Märchenvortrag bei der Gräfin Bismarck-Bohlen "mit sichtlicher Teilnahme, klug und eigenartig" aus, es war Wilhelm Grimm. "Ich hätte Sie schon gekannt, wenn Sie zu mir hineingekommen wären, als Sie das letzte Mal hier waren", meinte dieser (mit leichter Ironie?) zu Andersen. Es kam darauf zu einem regen Kontakt zwischen den drei Schriftstellern; er war, schreibt Andersen, "fast täglich mit diesen beiden begabten, liebenswürdigen Brüdern zusammen". Auch hatte er das Vergnügen, daß beide seinen "Märchen lauschten und mit Teilnahme folgten, diese Männer, deren Namen, solange deutsche Volksmärchen gelesen werden, ewig dastehen werden". Weder über den Inhalt der gemeinsamen Gespräche noch über die Bewertung des dänischen Dichters durch die beiden Germanisten ist etwas bekannt. Sie haben ihn jedoch nicht sonderlich wahrgenommen. Nur in dem wesentlich überarbeiteten Anmerkungsband zu den "Kinder- und Hausmärchen" von 1856 erwähnen sie sein Märchen "Das Feuerzeug" als dänische Variante zu "Das blaue Licht", und Andersens "Der große und der kleine Klaus" entspricht teilweise ihrem Märchen "Das Bürle". Dagmar Jestrzemski

 H.C. Andersen: Märchendichter auf der ständigen Suche nach Anerkennung Wilhelm und Jacob Grimm: Die unsterblichen Märchensammler und Germanisten, deren Kinder- und Hausmärchen in das Weltdokumentenerbe der Unesco aufgenomen wurden, sahen in Hans Christian Andersen nur einen Dichter unter vielen. Unser Foto zeigt eine Plastik von Erika Maria

Wiegand am Kasseler Brüder-Grimm-Platz. Fotos (2): Archiv


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