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09.07.05 / Das Maß des Rechts

© Preußische Allgemeine Zeitung / 09. Juli 2005

Gedanken zur Zeit:
Das Maß des Rechts
von Jürgen Liminski

Es ist, wie Papst Benedikt XVI. in seinem letzten Buch als Kardinal noch schrieb, "die Aufgabe der Politik, Macht unter das Maß des Rechtes zu stellen und so ihren sinnvollen Gebrauch zu ordnen". Das Maß des Rechtes. Was aber passiert, wenn das Recht zurechtgebogen wird, um der Politik Auswege aus einer verfahrenen Situation zu bieten? Gilt dann das Maß des Politischen? Und was gilt, wenn das Maß des Politischen auch noch die Wahrheit verbiegt? Das sind keine einfachen Fragen, für die Bundespräsident Köhler bis zum 21. Juli eine Antwort finden muß.

Es ist letzen Endes eine Abwägung zwischen dem Prinzip der Wahrheit und dem Prinzip des Nützlichen. Es würde der Republik auf den ersten Blick zweifellos mehr Nutzen bringen, wenn der Präsident das Parlament auflöste und so den Weg zu Neuwahlen ebnete. Denn noch ein Jahr Stagnation würde dem Land schaden. Wer so denkt, setzt freilich voraus, daß die künftige Regierung es besser kann als die jetzige. Das aber ist noch nicht ausgemacht. Das Programm ist noch nicht bekannt und ob es denn auch umgesetzt würde ist eine zweite Frage. Politiker neigen dazu, eher den vermeintlichen Wünschen des Wählers nachzugeben als dem Allgemeinwohl zu dienen. Und das was bekannt geworden ist, klingt eher nach Verschärfung des Unrechts, zum Beispiel an den Familien, als nach Mehrung des Gemeinwohls. Auch macht es sich die Union recht einfach, indem sie nur Steuern erhöhen und Vorteile abschaffen will, statt ein in sich geschlossenes Konzept vorzulegen. Also Weiterwursteln auf höherem Niveau? Der einzige derzeit sichtbare Vorteil eines Wahlsiegs der Union läge darin, daß das Patt zwischen Bundesrat und Bundestag aufgelöst würde. Aber ist es nicht eine Kapitulation vor dem Parteienstaat so zu denken? Kann es keine Reformgesetze geben, die von beiden großen Parteien unterstützt würden?

Wer so fragt wird gern und verächtlich als Naivling oder Idealist bezeichnet. Dabei fragt er nur nach dem Maß der Wahrheit in der Politik. Was moralisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein, so sagten es früher selbst die pragmatischen Briten. SPD-Chef Müntefering lieferte nun mit seiner Aussage im Bundestag, Bundeskanzler Schröder besitze das volle Vertrauen der Fraktion, den Beleg für das Gegenteil. Moral und Wahrheit zählen für den SPD-Chef nicht, es zählt nur der politische Wille. Damit kann man jede Barbarei begründen und de facto gehen Schröder und Müntefering bei der verbrauchenden Embryonenforschung auch diesen Weg. Ist es wirklich so naiv, nach der Wahrheit in der Politik zu fragen?

Nach den klassischen Definitionen heißt Wahrheit nach Thomas von Aquin Übereinstimmung des Denkens mit der Sache und dem Handeln (adaequatio intellectus et rei) und ist die Lüge nach Augustinus eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen (mendacium est enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi). Bei der Vertrauensfrage war der Tatbestand der Unwahrheit und der Lüge eindeutig gegeben. Das Grundgesetz lasse keine andere Lösung zu, heißt es. Wirklich? Warum gibt der Präsident den Parteien nicht auf, das Grundgesetz zu ändern? Er könnte ihnen sogar einen fertigen Gesetzentwurf zur Änderung des Artikels 68 vorlegen. So schwer dürfte das nicht sein, ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments zu formulieren. Man solle das Grundgesetz nicht aus aktuellem Anlaß ändern, sagen da Verfassungsrechtler und Politiker. Das widerspreche der Würde der Verfassung. Ist lügen würdevoller? Zumindest wäre der Erfolg gewährleistet, die Auflösung rechtens, das Lügen als geheiligtes Mittel zum Zweck der Auflösung unnötig. Also, warum soll das nicht gehen?

Die Politik spielt eine Tragikomödie. Es fehlt ihr an Phantasie und auch an Mut. Vielleicht hat der Präsident den Mut zur Wahrheit. Wenn er sich der Auflösung des Parlamentes verweigerte, weil er an der Wahrheit festhält, müßte Schröder konsequenterweise zurücktreten. Abgesehen davon, daß der Rücktritt

des Kanzlers eine verfassungskonforme Lösung wäre, wäre dieses Verhalten des Präsidenten ein Riesenschritt in Richtung Zurückgewinnung der Glaubwürdigkeit der demokratischen Institutionen in Deutschland. Sie haben es bitter nötig. Vor allem die exekutive und die legislative Gewalt haben in den letzten Jahrzehnten einen Glaubwürdigkeitsverlust "erwirtschaftet", der an den Grundfesten des Staates rüttelt. Auf Dauer kommt kein freiheitlicher Staat ohne Wahrheit aus. Die Freiheit lebt von der Wahrheit, jener "Enthüllung der Wirklichkeit" (Josef Pieper), weil ohne Wahrheit keine echten, das heißt wirklichkeitsnahen Entscheidungen getroffen werden können. Auch für die Politik gilt: Die Wahrheit wird euch frei machen.

In einem ähnlichen Fall, 1983, hat der damalige Bundespräsident Carstens das Parlament aufgelöst und die zwei Gewalten ermahnt, das Grundgesetz entsprechend zu ändern, damit solch eine Situation nicht wieder eintritt. Es geschah nichts. Nun haben wir die Situation zum dritten Mal. Da ist eine Lücke im Grundgesetz. Diese Lücke könnte gefüllt werden und gleichzeitig könnte der Politik ein gerüttelt Maß an Glaubwürdigkeit, mithin auch an Stabilität wiedergegeben werden. Das ist mehr wert als ein kurzfristiger wirtschaftlicher Gewinn, wenn es denn überhaupt dazu käme. Präsident Köhler steckt in einem komplexen Dilemma. Aber es ist lösbar, ähnlich dem gordischen Knoten. Das Schwert wäre ein Gesetzentwurf zu Artikel 68, der Hieb seine baldige Vorlage. Diese Bundesrepublik hätte es jedenfalls verdient, nicht weiter als Vehikel für Machtmenschen mißbraucht zu werden, sondern als Lebensraum eines soliden Gemeinwesens zu dienen. Dafür müßte die Politik eben die Macht unter das Maß des Rechts und der Wahrheit stellen.


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