19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
27.08.05 / Die genötigte Verfassung

© Preußische Allgemeine Zeitung / 27. August 2005

Die genötigte Verfassung
von Joachim Tjaden

Karlsruhe hat geurteilt. Aber: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurden die drei Gewalten - Exekutive, Legislative, Judikative - für die persönlichen Interessen eines Kanzlers so sehr instrumentalisiert. Das Fundament des Grundgesetzes hat einen gefährlichen Riß erhalten.

Die Schönheit unseres Landes, die Geschichte unseres Landes, die Probleme unseres Landes - das alles ist und bleibt Deutschland. Das ist unser Land, das ist unsere Heimat. Trotz aller Schwierigkeiten, Probleme und Krisen, die unser Land zur Zeit durchläuft, geht es uns Deutschen weit besser als drei Vierteln der Menschheit. Unser Land sollte uns etwas wert sein." Bundespräsident Horst Köhler in seiner Antrittsrede am 1. Juli 2004 im Deutschen Bundestag.

Am Nachmittag des 22. Mai dieses Jahres nahm zwischen der Bundes- und der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt eine Inszenierung ihren Anfang, die auf manche wie Befreiung aus einer Agonie wirkte, auf andere, zumal im Kontext sich daran anschließender Ereignisse, heute wie ein Komplott zu Lasten der politischen Hygiene.

In NRW wurde an diesem Tag ein neuer Landtag gewählt. Der Urnengang im bevölkerungsreichsten Bundesland galt als ultimativer Testlauf für die formal noch bis Herbst 2006 amtierende Bundesregierung. Beladen mit einem beispiellosen Vertrauensverlust, der sich in einer zuvor nicht erlebten Serie von Landtagswahlniederlagen manifestiert hatte, der Nicht-Vermittelbarkeit sozialer Einschnitte in ein ebenso kommodes wie marodes soziales Sicherungsnetz, einer durch Überbürokratisierung und unzeitgemäßes Arbeitsrecht im globalen Wettbewerb gelähmten Wirtschaft, dem inneren Richtungsstreit zwischen Sozialstaat und eigenverantwortetem Bürgerstaat sowie einem unauflösbaren Entscheidungspatt zwischen Bundestag und Länderkammer hatte die rot-grüne Bundesregierung die letzte rot-grüne Landesregierung in Düsseldorf um Ministerpräsident Peer Steinbrück in einen Sog gerissen, aus dem es kein Entrinnen mehr gab.

Als deutlich zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale auf der Basis verläßlicher Umfragen und Wahlnachfragen feststand, daß an Rhein und Ruhr, jahrzehntelang Stammland und Hochburg der Sozialdemokratie, nichts mehr zu retten war, unterrichteten Bundeskanzler und SPD-Bundesvorsitzender den grünen Vizekanzler an allen Parteigremien vorbei in vertraulicher Runde von ihrem Plan, schon im Herbst im Bund vorgezogen neu wählen zu lassen. Der Genosse Steinbrück in Düsseldorf wurde eingeweiht und gestand dies noch am Wahlabend öffentlich stolz ein. Gerhard Schröder und Franz Müntefering verbreiteten später auf Pressekonferenzen, sie hätten den Bundespräsidenten über den Neuwahl-Coup vorab unterrichtet, der aber legte Wert auf die Feststellung, zunächst aus dem Fernsehen davon erfahren zu haben. Das Kanzleramt mußte schließlich kleinlaut einräumen, der Präsident sei telefonisch zunächst nicht erreichbar gewesen.

Schon mit diesem Ablauf zwischen Geheimhaltung, Dichtung und Wahrheit war klar, daß die Republik für die Neuwahl instrumentalisiert werden sollte - in einer Weise, für die es seit ihrer Gründung keine bekannte Parallele gibt.

Die folgenden Wochen boten eine Politaufführung mit allen Ingredenzien einer Realsatire; und das staunende designierte Wahlvolk war sich einig in der Beurteilung "höchster Unterhaltungswert": Kanzler Schröder in der Hauptrolle mußte belegen, warum er nicht mehr daran glaubte, auf dem konventionellen Weg des Weiterregierens das reguläre Ende der Legislatur erreichen zu können. Dafür rückte er von jenem rot-grünen Bündnis ab, das er selber 1998 mit dem Versprechen geschmiedet hatte, "vieles anders und alles besser" machen zu wollen. Jetzt sagte er, Rot-Grün sei damals schon nur dem Zufall geschuldet, daß andere Konstellationen nicht darstellbar gewesen seien. Darob wechselten zwischen den roten und grünen Protagonisten Entsetzen und Entfremdung - und die Inszenierung entwickelte Eigendynamik. Dieselbe Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, die zuvor mit ihrem Nein zum Irakkrieg, dem Parforceritt zu einer europäischen Verfassung, Medikamentenzuzahlung, Ökosteuer, Gleichstellungsgesetz und der "Agenda 2010" nach innen wie nach außen eine nationale Schicksalsgemeinschaft für ein neues Deutschland gelebt hatten, boten nun plötzlich das Bild eines Paares vor dem Familienrichter. Mit diesem Bild der Zerrüttung sollte ganz offensichtlich die fehlende verfassungsrechtliche Legitimation für die vorgezogene Neuwahl nachgereicht werden. Plötzlich auch fingen Rot und Grün an, über andere Bündnisoptionen zu räsonnieren, die sie sechseinhalb Jahre lang indiziert hatten: große Koalition, Schwarz-Grün, Schwarz-Gelb-Grün, Ampel. All dies, leicht durchschaubar, aber nie offen ausgesprochen, diente nur dem einen Ziel: Dem Wähler sollte das Bild einer zerrütteten Ehe dargeboten werden. Wenn auch der Grad dieser Zerrüttung nicht mehr steuerbar war.

Schröder spielte die Karte Mißtrauensvotum. Was den Kanzler dabei umtrieb, war evident: Er, der einst am Golf dem mächtigsten Politiker der Erde die Stirn geboten hatte, wollte zu eigenen Bedingungen aus dem Amt scheiden - dies schloß für den Gefangenen eigener Eitelkeit und Staatsmann einen branchenüblichen Rücktritt aus. Dabei nahm Schröder wissentlich in Kauf, daß die gewählten Volksvertreter und seine eigene Regierung zu Schachfiguren mutierten. Zur Anwendung gelangte schließlich Artikel 68 I. des Grundgesetzes: "Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen 21 Tagen den Bundestag auflösen."

Am 1. Juli schließlich setzte Schröder seinen Willen durch. An diesem Tag auch floppte die Inszenierung endgültig: In der Aussprache über den Antrag, den der Kanzler weder an eine Sachfrage noch an eine Gesetzesinitiative knüpfte, betonte der Vormann der SPD, Partei- und Fraktionschef Franz Müntefering, selbstverständlich vertrauten die Mitglieder der Regierungsfraktionen dem Kanzler noch - anschließend entzogen sie ihm das Vertrauen, während sich die Minister ihrer Stimme enthielten. Das Wort vom "gefühlten Mißtrauen" zog in den deutschen Sprachschatz ein: Ein Bundeskanzler war gescheitert, hatte aufgegeben und nur noch den Wunsch nach Abgang freier Wahl, und das Parlament bereitete die Kulisse dafür.

Ein Mann stellte sich in den Weg: Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz, ein Kind der friedlichen Revolution im Osten, fühlte sich an die "DDR-Volkskammer" erinnert, warnte verzweifelt vor einer "Kanzlerdemokratie" und kündigte an, gegen die sich abzeichnende Parlamentsauflösung vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Als Schulz vom Rednerpult an seinen Abgeordnetenplatz zurückschritt, würdigte ihn seine Fraktion keines Blickes - wohl auch, weil sie ihm nicht in die Augen sehen konnte.

Horst Köhler schöpfte die Drei-Wochen-Frist voll aus - weder frei in der Abwägung noch frei von eigener politischer Herkunft. Die weit überwiegende Mehrheit der Bundesbürger sehnte mittlerweile ein Ende des ihnen aufgezwungenen Schauspiels herbei, und Union wie Liberale, die den Präsidenten ein Jahr zuvor ins Amt gebracht hatten, waren bereits mit ihren Personaltableaus für den Fall der Machtübernahme beschäftigt. Bevor Köhler final die Hand zum Spiel reichte, erbat er sich von der Bundesregierung Antworten auf seinen Fragenkatalog zu Vertrauensfrage und Neuwahl - er erhielt eine 250 Seiten umfassende Sammlung von Presseberichten deutscher Medien, die bis in die Zeit vor der NRW-Wahl zurückreichten und dauerhaften Streit in den Regierungsparteien über Kurs und Inhalt sowie "Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Gesetzesvorhaben" dokumentieren sollten. Zeitungsausschnitte, soviel stand jetzt fest, ohne daß dies mit Erregung kommentiert worden wäre, dienten dem ersten Mann im Staate als Entscheidungsgrundlage für die Parlamentsauflösung. Spätestens hier erreichte das "gefühlte Mißtrauen" die Bevölkerung.

Am 21. Juli trat Horst Köhler vor das Fernsehvolk und fand die höchste Einschaltquote, die je ein Bundespräsident erreicht hatte - die Mediendemokratie feierte Urständ. Was er sagte, stand in einem erstaunlichen Widerspruch zu seiner Antrittsrede und wirkte als Umschreibung eines nationalen Notstandes: "Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Ich habe heute den 15. Deutschen Bundestag aufgelöst und Neuwahlen für den 18. September angesetzt. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie dagewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten. In dieser ernsten Situation braucht unser Land eine Regierung, die ihre Ziele mit Stetigkeit und mit Nachdruck verfolgen kann. Dabei ist die Bundesregierung auf die Unterstützung durch eine verläßliche, handlungsfähige Mehrheit im Bundestag angewiesen. Der Bundeskanzler hat deutlich gemacht, daß er mit Blick auf die knappen Mehrheitsverhältnisse keine stetige und verläßliche Basis für seine Politik mehr sieht. Ihm werde mit abweichendem Abstimmungsverhalten und Austritten gedroht. Loyalitätsbekundungen aus den Reihen der Koalition hält der Kanzler vor dem Hintergrund der zu lösenden Probleme nicht für dauerhaft tragfähig."

Der Grüne Werner Schulz - und die russischstämmige Sozialdemokratin Jelena Hoffmann, die der SPD-Führung vorwarf, wider die Unabhängigkeit des Parlaments "Stimmung von oben" für die Neuwahl erzeugt zu haben - reichten in Karlsruhe Klage ein. Aus dem Spiel um einen Kanzler, der aussteigen wollte, zwei Koalitionspartner, die ihre Haßliebe pflegten, und um Mißtrauen, das von Vertrauen getragen wird, war deutscher Ernst geworden.

Es mag ins Bild passen, daß der Rechtsvertreter der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht, der Berliner Staatsrechtler Bernhard Schlink, Verfassungsrichter in Nord-rhein-Westfalen ist, wo die causa ihren Anfang nahm, und einen Ruf als Schriftsteller hat: In jungen Jahren textete er Kriminalromane, 1995 fand er weltweite Beachtung mit dem Roman "Der Vorleser", der Geschichte einer Liebesbeziehung zwischen einem 15jährigen Gymnasiasten und einer 20 Jahre älteren ehemaligen KZ-Aufseherin. Schon zwei Jahre vor dem rot-grünen Ende hatte Schlink im Spiegel gesagt, die Regierung des Juristen Schröder sei "die Regierung meiner Generation". Schlink hatte damals hinzugefügt: "Aber diese Generation ist auch erschöpft."

Anfang August versuchte Wolfgang Thierse, Sozialdemokrat und zweiter Mann im Staate, nach Einschätzung vieler Beobachter, Karlsruhe zu nötigen, indem er das Urteil antizipierte: "Verfassungsrichter können nicht über die innere Motivation und das Gewissen von Abgeordneten entscheiden. Das steht ihnen nicht zu. Der Abgeordnete ist frei."

Mehr noch: Bereits zwei Wochen vor Ende der Verhandlung fanden viele Bundesbürger in ihren Briefkästen die "Benachrichtigung für die Wahl zum Deutschen Bundestag am Sonntag, dem 18. September 2005, von 8 bis 18 Uhr". Dies bedeutete: Noch bevor die Rechtmäßigkeit der herbeigewünschten Wahl bestätigt war, hatten staatliche Wahldienststellen sie bereits administrativ auf den Weg gebracht. Darf man an italienische Verhältnisse erinnern?

Und die Bundesbürger? In einer eher seltenen Grundstimmung zwischen Fatalismus und Degoutiertheit wandten sie sich in immer größerer Zahl mehrheitlich einer großen Koalition zu: als Ausweg aus dem Dilemma, das sich zur Staatskrise ausgewachsen hatte. Als sozialdemokratischer Vize unter einer Kanzlerin Angela Merkel wurde dabei regelmäßig Peer Steinbrück ins Spiel gebracht, jener Mann, mit dessen Niederlage der Fall Schröder begonnen hatte.

Zum Auftakt des Karlsruher Verfahrens vor dem Zweiten Senat unter Vorsitz Winfried Hassemers (einst auf SPD-Ticket ans oberste Gericht gelangt) und unter Berichterstattung Udo di Fabios (bekannt geworden als Verfechter eines NPD-Verbotsverfahrens) äußerte Richter Hans-Joachim Jentsch zunächst Zweifel an Schröders Argumentationslinie, indem er beschied: "Mit knappen Mehrheiten zu regieren, ist das übliche politische Geschäft."

Dann stellte der Mann in der Robe die Wahrhaftigkeit von Bundeskanzler und Bundespräsident in erstaunlicher Direktheit in Frage, als er anzweifelte, es habe eine "materielle Auflösungslage" für den Bundestag vorgeherrscht. Dies war der Moment, als die politische Kultur in das deutsche Jahr 2005 zurückkehrte und ein Rankünespiel als solches entlarvt wurde.

Zweiter Senat des Bundesverfassungsgerichtes: Michael Gerhardt, Rudolf Mellinghoff, Lerke Osterloh, Hans-Joachim Jentsch, Winfried Hassemer (Vorsitz), Siegfried Bro3/4, Udo di Fabio, Gertrude Lübbe-Wolff (v. l.)

Spielverderber oder Einzelkämpfer? Kläger Werner Schulz (Grüne) und Jelena Hoffmann (SPD) Fotos (2): pa


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren