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10.09.05 / "Wir sollten ein Selbstauflösungsrecht einführen" / Interview mit dem Bundesjustizminister a. D. Professor Edzard Schmidt-Jortzig

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. September 2005

"Wir sollten ein Selbstauflösungsrecht einführen"
Interview mit dem Bundesjustizminister a. D. Professor Edzard Schmidt-Jortzig

Wie beurteilen Sie aufgrund Ihrer langjährigen Erfahrung als Bundesjustizminister das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Bundestagsauflösung?

Schmidt-Jortzig: Das Bundesverfassungsgerichtsurteil war für unsereinen nicht sonderlich überraschend. Die Richtung war deutlich angestimmt durch die Entscheidung vom Februar 1983. Aber schon damals gab es, wie ich finde, durchaus schlüssige Kritik daran, daß man sich mit dieser Entscheidung eben doch vom eigentlichen Text der Verfassung entfernt hat. So versteht es der unbefangene Leser auch heute noch. Juristisch ist es absolut möglich, daß sich die Aussagekraft einer Norm im Laufe der Zeit verändert, daß sich eine ganz bestimmte Praxis herausbildet und nachher, nach, was weiß ich, 20 bis 30 Jahren etwas anderes dabei herauskommt, als sich die Väter und Mütter dieser Norm ursprünglich gedacht haben. Also juristisch, würde ich sagen, ohne jedes Problem, aber für die Gesamtatmosphäre um die Verfassung herum, für den Konsens der Verfassung, für die Akzeptanz der Verfassung ist eine solche Erscheinung natürlich nicht so glücklich. Immerhin soll die Verfassung nicht nur für Fachjuristen dasein, sondern für jeden Bürger. Das heißt, jeder muß relativ zügig verstehen können, was mit den Normen gemeint ist, und von daher habe ich schon seit längerem die Meinung vertreten, wir sollten an dieser Stelle wirklich ein offenes Selbstauflösungsrecht einführen, damit man diesen doch etwas verqueren und nicht von allen so klar erkennbaren Weg der Auflösung über die angebliche Vertrauensfrage, nicht braucht.

Das heißt, Karlsruhe konnte gar nicht anders entscheiden?

Schmidt-Jortzig: Ja, insbesondere wenn man nicht vom reinen Reißbrett her die Juristerei im Staatsrecht betreibt, sondern immer auch voll im Auge hat, wie sehr verzahnt das alles mit politischen Entwicklungen und Kräftespielen ist, daß sich hier nachher das Gericht nicht zum politischen Oberschiedsrichter macht, um zu sagen: "Du hattest aber wirklich noch eine Mehrheit, Kanzler, der Du jetzt vorgeblich daran gezweifelt hast." Das wäre sicherlich nicht richtig. Man hätte sich nur bei anderen Entscheidungen auch so viel politische Zurückhaltung des Gerichts gewünscht. An anderer Stelle hat das Bundesverfassungsgericht nämlich sehr wohl mit eigener politischer Wertung seine Entscheidung getroffen. Aber ich finde es eben richtig, wenn sich das Gericht zurückhält

- politische Entscheidungen sind nicht seine Sache. Irgendwo habe ich gelesen, die Richter würden sich damit der in den USA beim Obersten Gericht herrschenden politischen Doktrin anpassen. Die sagen dann, es sei eine ganz hochpolitische Entscheidung, da halten wir uns raus, da entscheiden wir also gar nicht darüber. So geht's hier natürlich nicht, die Karlsruher Richter müssen entscheiden, aber bei der politischen Wertung sollten sie sich nur dann in die Bresche werfen mit eigenen Äußerungen, wenn sich wirklich eindeutig eine andere Entscheidung aufdrängt als die der jeweiligen politischen Organe.

Ist diese Entscheidung ein deutliches Zeichen, daß wir eigentlich eine neue, eine richtige vollwertige Verfassung brauchen?

Schmidt-Jortzig: Nein, das auf keinen Fall. Das Grundgesetz ist ja eine vollwertige Verfassung, da wird zwar immer wieder etwas verändert, aber das ist auch richtig. Wenn man nicht versuchte, sich mit dem Grundgesetztext an die Bedürfnisse der Zeit anzupassen, dann würde sich so etwas wie wir es jetzt mit dieser Vertrauensfrage erleben, noch viel häufiger einstellen. Das heißt der Druck der Verhältnisse würde sich einfach seine eigenen Wege suchen. Das Grundgesetz ist ja hoch angesehen und nach wie vor ein Exportschlager in vielen Teilen der Welt, aber wir müssen an der Entwicklung dranbleiben und wo Bedarf ist, etwas zu ändern, dies auch tun. Das ergibt sich im übrigen für Europa pausenlos, da ist das eben nachzubessern. Immer werthaft sollte man dabei aber sehen, ob denn nun diese Entwicklung in die Richtung, in die sie drängt, so weiterlaufen soll, oder ob man nicht doch versucht, die Entwicklung irgendwie einzudämmen oder zu kanalisieren oder aufzuhalten. Daß man auf Entwicklungen reagiert, ist das A und O einer lebenden Verfassung.

Und wie sind die Chancen, daß das Grundgesetz in wichtigen Bereichen geändert wird, so beim Selbstauflösungsrecht?

Schmidt-Jortzig: Ja, das ist Spekulation. Wir haben schon beim ersten größeren Anlauf einer Verfassungsrevision, der Verfassungsreform nach der deutschen Wiedervereinigung, mit einer ausdrücklichen gemeinsamen Verfassungskommission von Bundesrat und Bundestag in diese Richtung heftig argumentiert. Aber nachdem dann der Druck raus war, hat sich keiner mehr so recht engagieren wollen - das könnte jetzt auch passieren. Solange das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden hat, oder solange der Bundespräsident noch nicht entschieden hatte, also nur die Ankündigung von Schröder und Müntefering im Raum stand, da waren alle möglichen Seiten für eine Änderung. Jetzt wird das deutlich weniger, weil der Druck weg ist, und nach der Wahl muß man sehen, ob noch Enthusiasmus für diese Frage besteht. Ich fände es ausgesprochen erwägenswert so zu handeln. Andere sagen wieder, was wollt Ihr denn, wir haben 1982, Ende 1982, die erste dieser sogenannten unechten Vertrauensfragen gehabt und erst 2005 im Sommer wieder, also das sind 23 Jahre, da könnte man doch damit leben, wenn das erst im Jahre 2028 wieder passiert, da müssen wir nicht jetzt eine neue Verfassungsnorm ...

Sie meinen, die politische Kultur nimmt keinen so starken Schaden wie das oft befürchtet war?

Schmidt-Jortzig: Ich weiß es eben nicht, aber ich möchte dem auf jeden Fall vorbeugen und auch schon die Anlage zu solcher Entfernung vom Text vermeiden. Da wir mit allen Bundesländern die Erfahrung in deren Landesverfassungen gemacht haben, daß das Selbstauflösungsrecht ein sehr gelindes und ausgewogenes Mittel ist, mit dem überhaupt kein Mißbrauch getrieben wurde, spricht für mich nichts dagegen. Wir stehen mit dem Parlament, mit dem Bundestag heute auch ganz anders da als beispielsweise mit dem Reichstag in der Weimarer oder in der kaiserlichen Reichsverfassung. Daher ist das meines Erachtens wirklich in einer gewachsenen parlamentarischen Demokratie die richtige Fassung, wenn man ein förmliches Selbstauflösungsrecht verankert. Aber man braucht dafür Zwei-Drittel-Mehrheiten im Bundestag und Bundesrat und, ob man die erreicht, ist Spekulation. 

Die Fragen stellte Sverre Gutschmidt.

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes, der über die Bundestagsauflösung entschied: Dr. Gerhardt, Mellinghoff, Professor Osterloh, Professor Jentsch, Professor Hassemer, Professor Broß, Professor Di Fabio und Professor Lübbe-Wolff (von links) Foto: Bundesverfassungsgericht

 

Ad personam

Professor Edzard Schmidt-Jortzig kam im Kriegsjahr 1941 in Berlin zur Welt. Nach Abitur und Studium habilitierte er sich in Jura. Seit 1982 hat er an der Universität Kiel den Lehrstuhl für Öffentliches Recht inne. 1994 wurde er Dekan.

Im zweiten Haupt- beziehungsweise Nebenamt war der verheiratete Vater vierer Kinder von 1983 bis 1989 am Oberverwaltungsgericht Lüneburg, 1989/90 in Schleswig und 1992 bis 1994 am Verfassungsgerichtshof Sachsen als Richter tätig.

Neben dem Wissenschaftler und dem Richter gibt es auch noch den Politiker Schmidt-Jortzig. Von 1994 bis 2002 war der Freidemokrat im Bundestag. Von 1996 bis zum Ende der christlichliberalen Koalition saß er als Bundesminister der Justiz am Kabinettstisch Kohls. Nach dem Regierungswechsel leitete er bis 2002 den Arbeitskreis "Innen- und Rechtspolitik" der FDP-Bundestagsfraktion. Von 1997 bis 2002 war der Protestant zusätzlich Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seit 2002 ist der Jurist wieder voll zurück im Professorenamt.

Professor Edzard Schmidt-Jortzig    Zeichnung: cos


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