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10.09.05 / Alt ist noch lange nicht alt

© Preußische Allgemeine Zeitung / 10. September 2005

Alt ist noch lange nicht alt
von Anna Maria Brockhoff

Lea Minzen war auf der Heimreise. Im voll besetzten IC bekam sie gerade noch einen Platz. Nachdem sie ihr Gepäck im Netz verstaut hatte, entspannte sie sich. Sie hatte ein anstrengendes Wochenende hinter sich und wollte nun ein bißchen schlafen, lesen und die vergangenen Tage überdenken. Sie hatte ihre Schüler von einst wieder getroffen und mit ihnen in Erinnerungen geschwelgt.

Lea zog ein Büchlein aus ihrer Handtasche. Ihr gegenüber saß eine andere alte Dame, die mit ihrem anklagenden Blick und den hängenden Schultern einen traurigen Eindruck hinterließ. Lea rutschte das Buch vom Schoß und fiel direkt auf die Füße der Frau. Die rieb mit vorwurfsvoller Miene ihre Beine. "Hat es sehr wehgetan?" rief Lea erschrocken und entschuldigte sich. Und nun wurden sie und die übrigen Leute im Abteil mit einer endlosen Krankengeschichte überflutet. Die Worte der alten Dame plätscherten unaufhaltsam wie Wellen an einen Strand, fielen mit dem an- und abschwellenden Ton einer Sirene in die verhaltenen Gespräche der anderen Reisenden, ratterten und schnatterten mit den Geräuschen des Zugs um die Wette. Das Pärchen an der Tür verdrehte ein ums andere Mal die Augen.

Lea blieb nichts anderes übrig als die Leidensgeschichte der alten Dame über sich ergehen zu lassen, denn der Blick hielt ihren fest. Fünfmal im Krankenhaus gewesen, viermal operiert worden. "Und Arthrose habe ich auch noch." Sie rieb wieder ihre malträtierten Füße. "Überall Schmerzen und kein Geld, und das in der heutigen Wirtschaftslage." Ein knotiger Zeigefinger wurde warnend vor Leas Gesicht in die Höhe gereckt. "Warten Sie nur, bis Sie auch mal 83 sind! Dann werden Sie sehen, wie einen das Alter beutelt!"

Lea nickte immer wieder mitleidig und tat ihr Büchlein seufzend in die Tasche zurück. Sie würde weder zum Lesen noch zum Nachdenken und erst recht nicht zum Schlafen kommen. Im Augenblick ähnelte diese Stimme einer Gebetsmühle, ohne Ende und in einer Tonart leiernd, deshalb schlief Lea dann doch mal ein, wurde aber bald durch einen energischen Anstoß aus den wohltuenden Tiefen ihres Schlafes gerissen. "Und nun muß ich auch noch an fünf Tagen in der Woche zur Bestrahlung. Warum bestraft mich der Herrgott nur so?" Der Herrgott ist sicherlich nicht daran Schuld, wollte Lea sagen, aber da wurde der Zug langsamer. Gleich waren sie in Köln. Lea verschluckte ihre Worte und atmete auf. Die Leute machten sich zum Aussteigen fertig.

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. Die leidende Dame stieg, von hilfreichen Händen gestützt, als erste aus und schenkte Lea noch einen letzten wehen Blick. Aber die winkte ihr noch einmal zu. Der junge Mann half Lea das Gepäck aus dem Netz zu heben. Seine Frau seufzte laut: "Meine Güte, war das eine Nervensäge! Ob wir in dem Alter auch mal so sind?"

Lea setzte ihren schicken Hut auf, schlüpfte gewandt in die modische Jacke, schlang sich den bunten Schal um den Hals. Sie lächelte den jungen Leuten zu. "Sie brauchen nicht zu befürchten, auch mal so ,uralt' zu wirken wie diese Frau. Man kann das Alter auch ein bißchen überlisten. Sehen Sie mich an. Ich bin auch 83 und komme gerade von einem Klassentreffen, bei dem mich die Damen und Herren für eine Mitschülerin hielten, bis ich sie aufklärte, daß ich einmal ihre Klassenlehrerin war."

Die jungen Leute starrten sie erstaunt an. "Sie sind schon 83? Ist das möglich? Sie wirken ja wie eine 60jährige!"

Lea lächelte wieder. "Daran ist meine gute Konstitution schuld und mein Sport", sagte sie. "Ich treffe mich regelmäßig mit Bekannten zum Nordic Walking. Das hält mich fit. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Und ein bißchen Humor gehört halt auch dazu." - "Toll!" rief die junge Frau bewundernd aus.

"Ich habe auch Schmerzen, ganz natürlich in meinem Alter", sagte Lea, "trotzdem bin ich für jeden Tag, der mir noch bleibt, dankbar. Also - genießen Sie Ihr Leben und bleiben Sie gesund."

Sie stieg vorsichtig aus und ging lächelnd und winkend dem Ausgang zu. Die junge Frau winkte zurück. "Da sieht man es mal wieder", meinte sie dann zu ihrem Mann, "alt muß noch lange nicht alt sein."

 Fit im Alter: Nordic Walking ist auch bei Senioren ein beliebter Sport geworden. Foto: Archiv


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