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01.10.05 / Mut zur Wahrheit / Wieviele Stasi-Spitzel sitzen wirklich im Bundestag?

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Oktober 2005

Mut zur Wahrheit
Wieviele Stasi-Spitzel sitzen wirklich im Bundestag?
von Joachim Tjaden

Am Vorabend des 15. Jahrestages der Wiedervereinigung erreichte die neu formierte Linkspartei um ihre Vormänner Gregor Gysi und Oskar Lafontaine bei der Bundestagsneuwahl am 18. September auf Anhieb 8,7 Prozent der Stimmen und errang für ihre Fraktion 54 Sitze - immerhin drei mehr als "Bündnis 90/Die Grünen". Nur 23 Mandatsträger der Linkspartei, die sich selbst mehrheitlich als Nachfolgerin der PDS interpretiert und in den neuen Ländern deren Kürzel als Ergänzung im Namen trägt, sind ausweislich ihrer Biographien im Osten Deutschlands aufgewachsen - auf eben sie richtet sich jetzt der Fokus.

Denn: Unmittelbar nach dem Urnengang gab die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen, Marianne Birthler, der in Halle (Saale) erscheinenden "Mitteldeutschen Zeitung" ein Interview; darin erklärte sie, "nach Aktenlage" säßen "mindestens sieben" bereits bekannte ehemalige "Informelle Mitarbeiter" (IM) der Stasi für die Linksfraktion im neuen Bundestag. Namen nannte Birthler ausdrücklich nicht. Aber: Die Öffentlichkeit habe ein "Recht" darauf zu erfahren, welche Parlamentarier früher mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zusammengearbeitet hätten. Deshalb müßten sich alle 613 Bundestagsabgeordneten in einem "freiwilligen Verfahren" überprüfen lassen.

Bei Erscheinen des Interviews fand Birthler zunächst breite Unterstützung. Christina Weiss, als parteilose Kulturstaatsministerin formal auch Dienstherrin der Birthler-Behörde, sagte, auch im 15. Jahr der deutschen Einheit bleibe "Spitzeltätigkeit kein Kavaliersdelikt, sondern eine Lumperei". Die Ministerin fügte in Deutschland lange nicht mehr gehörte Worte hinzu: "Es ist für mich ein unerträglicher Gedanke, daß in einem frei gewählten Parlament Anwälte der Unfreiheit sitzen. Es gibt keine Freiheit ohne Mut zur Wahrheit."

Der Sozialdemokrat Kurt Beck, Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, verlangte, "Klarheit" zu schaffen: "Wer sich in die Politik begibt, der muß ein hohes Maß an Offenheit akzeptieren." Für die Grünen sprachen Silke Stokar, innenpolitische Sprecherin, und Peter Hettlich, Vertreter ihrer Arbeitsgruppe Ost: "Wir werden Verdrängung und Vertuschung nicht zulassen."

Indes: Was als parlamentarisch-moralischer Akt der Selbstreinigung begann, flaute rasch zu einem politischen Sturm im Wasserglas ab. Marianne Birthler rückte überraschend und ohne Preisgabe ihrer Motive von ihrem Interview wieder ab und dementierte sich selbst noch am Tag seines Erscheinens. Sie habe, beschied sie eine irritierte Öffentlichkeit, mit der Zahl sieben lediglich die IM unter den aussichtsreichen "Wahlkandidaten" der Linkspartei gemeint, nicht aber ihre tatsächlich gewählten Vertreter. "Ich freue mich, diese Zahl infolge des Wahlergebnisses nach unten korrigieren zu können, und hoffe, daß es dabei bleibt." Nach dem öffentlichen Widerruf folgte später noch eine persönliche Erklärung: "Ich hätte besser überhaupt keine Zahlen genannt."

So mußte Birthlers Rückzug prompt die Forderung nach ihrem Rücktritt folgen - erhoben folgerichtig von Bodo Ramelow, Wahlkampfmanager der Linkspartei: "Es kann nicht angehen, daß sie Stasi-Verdächtigungen erhebt und dafür keinen Beweis antritt. Frau Birthler hat gezeigt, daß sie nicht die notwendige Sachlichkeit an den Tag legt, um dieses Amt ausüben zu können. Sie sollte die Kraft haben, es aufzugeben."

Kein Wunder nahm es schließlich mehr, daß es am Ende dieser deutsch-deutschen Tragikomödie Gregor Gysi vorbehalten blieb, die Schlußworte zu sprechen: "Im Jahr 2005 werde ich nicht für eine Art Überprüfung plädieren, die es in den ganzen letzten Jahren nicht gegeben hat. Ich mache diese Generalverdachtssoße nicht mit."

Marianne Birthler hat in dieser Auseinandersetzung erheblichen persönlichen Schaden genommen, ihre Glaubwürdigkeit gelitten. Lange Zeit galt sie, über alle Parteigrenzen hinweg, als eine "Mutter Courage der Aufarbeitung". Ihre Geschichte steht auch für deutsche Geschichte: 1948 in Berlin-Friedrichshain in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie geboren. Nach dem Mauerbau Abitur und DDR-Facharbeiterbrief, in den 70er Jahren Fernstudium zur Außenhandelswirtschaftlerin. 1976 ein im Glauben begründeter mutiger Neubeginn als Gemeindehelferin und Jugendreferentin der evangelischen Kirche Ostberlins. 1986 war sie eines der Gründungsmitglieder des Arbeitskreises "Solidarische Kirche", die gegen die SED für eine Demokratisierung der DDR-Gesellschaft stritt und dafür staatliche Ächtung in Kauf nahm. Nach der miterkämpften Wende saß sie für die Bürgerrechtler vom "Bündnis 90" in der letzten Volkskammer, nach der Einheit im Brandenburgischen Landtag. Ministerpräsident Manfred Stolpe berief sie als Bildungsministerin - als seine Nähe zur Stasi ruchbar wurde, trat sie 1992 zurück. Drei Jahre später wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Marianne Birthler ist, in der Nachfolge Joachim Gaucks, seit September 2000 Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. In der nun zu Ende gehenden letzten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages konnte Birthler 381 von 603 Abgeordneten dazu bewegen, sich ihrer Vergangenheit zu stellen - alle Überprüfungen verliefen negativ.

Es scheint, als seien die Kräfte der Marianne Birthler zur Wahrheitsfindung erschöpft ...

Foto: Spitze der Linkspartei: Gysi, Lafontaine und Bisky (v.l.) Foto: pa


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