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01.10.05 / Ein Meisterdieb in Sachen Liebe

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Oktober 2005

Ein Meisterdieb in Sachen Liebe
von Gabriele Lins

Mittags, wenn ihre Eltern schliefen, ging Chrissi meist zum Ufer hinunter und setzte sich auf ein kleines Plateau mitten in die scharfkantigen Felsen, um die Natur zu beobachten. Hier war die Landschaft herb und lieblich zugleich. Zu Chrissis Füßen hatte das Meer eine badewannenartige Rinne ausgewaschen, auf deren Steine Muscheln und Seeigel in schwarzen Klumpen klebten. Oft zwängte sich aus einer der Felsritzen ein großer orangefarbener Seestern.

Seit einer halben Woche, jedes Mal am Nachmittag, legte in Chrissis Nähe ein braungebrannter junger Mann mit seinem altersschwachen Kahn am Ufer an, um zu angeln. Er schenkt ihr keinen Blick, obwohl ihm Chrissis Aufmerksamkeit nicht entgangen sein konnte. Sie bewunderte die Leichtigkeit und Geschmeidigkeit seiner Bewegungen, wenn er die Leinen einholte und dabei melodische Töne pfiff, obwohl er doch nie etwas fing. In Gedanken nannte sie ihn Antonio.

Es war Markttag. Die Plaza im Städtchen schien mit ihrem bunten Treiben aus allen Nähten zu platzen. Ein blankes Wohnmobil aus Deutschland am Rande des Marktes stach von den Kleinautos der Einheimischen ab wie ein praller Cheeseburger von mickerigen Käsetoasts.

Plötzliches Geschrei - Bewegung unter den Leuten. Der Besitzer des Wohnmobils hatte einen jungen Mann beim Ärmel gefaßt und schimpfte auf ihn ein: "Da montiert doch dieser Kerl einfach meinen 400-Euro-Reifen ab! Aber nicht mit mir, du Meisterdieb!"

Chrissi, die gerade an einem der Stände einkaufte, atmete unwillkürlich auf, weil sich der verhinderte Dieb hatte losreißen und in einem der winkeligen Gäßchen verkrümeln können. Sie hatte in ihm Antonio, den Angler, erkannt, der immer so heiter pfiff. Ob seine Familie wohl so arm war, daß er einen teuren Reservereifen stehlen mußte?

Wieder einmal hockte Chrissi am Wasser, beinahe ungeduldig auf das Kommen Antonios wartend. Unter dem klaren Himmel glitten Schönwetterwölkchen wie zerrupfte Wattebäusche dahin. Das Meer - hier flaschengrün, dort stahlblau schimmernd - rollte träge klatschend gegen die Felsen. Von den Hügeln auf der anderen Seite der Bucht grüßten in strahlendem Weiß die Fassaden der Wohnhäuschen herüber, deren karottenrote Dächer in Chrissis Augen wie platt angedrückte Baskenmützen wirkten, fest gesteckt von den dunkelgrünen Schmuck-nadeln der Zypressen.

Der Rücken des Mädchens straffte sich, denn über das Meer kam der altersschwach wirkende rote Kahn Antonios geschaukelt. "Scheene Land Kroatien, stimmt?" Zum ersten Mal sprach er Chrissi an, als er seinen Kahn geschickt vor ihr vertäute.

"Armes Land, wo man teure Reservereifen stehlen muß!" Chrissi bereute ihre Entgegnung sofort. Aber der Junge grinste nur. "Wollte für Reifen gern kaufen Mofa, um zu kommen schneller auf Arbeit." Der Junge legte dem Mädchen eine gelbliche Muschel in den Schoß, sagte wie beschwichtigend: "Extra gefunden für dir - von Marco."

Er ließ sich wie selbstverständlich neben dem Mädchen nieder, fragte sie aus und begann auch von sich zu erzählen.

Chrissi erfuhr, daß er in der nahen Großstadt in einer Musikhandlung eine Lehre absolviere. In den Ferien arbeite er manchmal im Hafen, um seinen Eltern nicht so sehr auf der Tasche zu liegen. Chrissi bekam immer größere Achtung vor ihm, und als er ihr fehlerlos die Melodie einer deutschen Operette vorpfiff, war sie restlos von ihm begeistert.

"Ich habe auf den Namen Antonio getippt", gestand sie ihm, "aber Marco finde ich noch passender für dich."

"Nännen mir äben Marc-Anton", riet er ihr lachend, "so wie in Gäschichtsbuch."

Erst als Marcos sehniger Körper und sein Kahn mit dem Horizont verschmolzen waren, vermißte Chrissi ihren goldenen Armreifen, ein Geschenk ihres Lieblingsonkels. Marco hatte ihr beim Abschied ein paar Mal kräftig die Hand geschüttelt. Sie hatte diese Geste für Zuneigung gehalten und nicht für einen üblen Taschenspielertrick. Aber Menschen, die Autoreifen stahlen, machen erst recht nicht halt vor kostbarem Schmuck.

"Ich heule ja gar nicht mal wegen des Armbands", sagte Chrissi schniefend zu der Eidechse, die starr wie eine grünschillernde Anstecknadel zu ihren Füßen saß. Aber der Eidechse schien das gleich zu sein; sie verschwand einfach in einer der unzähligen Felsspalten. Irgendwann würde sie wieder hervorkommen, wußte Chrissi. Bei Marc-Anton, dem Meisterdieb, war das nicht zu erwarten.

Über dem Wasser schimmerte mittlerweile das unwirkliche rosafarbene Licht der sinkenden Sonne. Das Meer lag weich wie roter Wackelpudding da. Traurig beobachtete Chrissi die Flugkünste der Schwalben, die wie tollkühne Akrobaten am Seil durch die Luft sausten. Schade, ihre schönen Erinnerungen würden nun getrübt sein, überdeckt durch dieses kleine bohrende Gefühl der Enttäuschung.

Da war die Eidechse wieder! Ihr schmaler gekrümmter Tierkörper wirkte wie ein schillernder grüner Reifen auf schwarzem Gestein. Chrissi sprang auf. Sofort wollte sie diesen Marco aus ihrem Gedächtnis streichen! Die netten und ehrlichen Leute waren eben dünn gesät auf dieser Welt, und man täuschte sich immer wieder in seinen Mitmenschen.

Sie nahm die Muschel, das Geschenk des Jungen, und warf sie in hohem Bogen in die Wellen, als entledige sie sich einer schmutzigen Sache.

Ihre Eltern kamen ihr entgegen, sie wollten sie sicher zum Abendbrot holen. "Na, war es nicht zu heiß da unten am Meer?" Chrissis Mutter blickte besorgt in das heiße Gesicht ihrer Tochter. "Übrigens - falls du deinen Armreifen vermissen solltest", sie deutete auf die leere weiße Stelle an Chrissis braunem Handgelenk, "wir haben ihn eben vor unserer Haustür gefunden. Der Verschluß ist defekt."

Chrissis Augen leuchteten auf. "Aber - dann ist er ja rein gewaschen!" sagte sie stockend. "Wieso?" Ihre Mutter stutzte. "Er lag doch im Dreck und nicht im Wasser."

Chrissis Lachen klang locker, wie befreit. "Ich bin ganz durcheinander vor lauter Freude!" - "Klar", stimmte ihr Vater zu, "an solch einem Schmuckstück hängt man eben."

 Südliche Idylle: Ein altersschwacher Kahn liegt am felsigen Strand. Foto: Osman


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