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01.10.05 / Befreiung, Niederlage oder was? / Der Gedanke, eine Niederlage am Kriegsende als Befreiung anzusehen, wäre 1939 auf völliges Unverständnis gestoßen (Teil XVIII)

© Preußische Allgemeine Zeitung / 01. Oktober 2005

Befreiung, Niederlage oder was?
Der Gedanke, eine Niederlage am Kriegsende als Befreiung anzusehen, wäre 1939 auf völliges Unverständnis gestoßen (Teil XVIII)
von G. Schultze-Rhonhof

Wenn Deutsche 1939 Bilanz gezogen hätten, wäre ihnen zum Verhalten des Auslands nach dem Ersten Weltkrieg und zum Regime der Hitler-Diktatur ab 1933 vieles durch den Kopf gegangen. Die Bilanz zum Ausland hätte keine Positiva aufgewiesen. Die Ausplünderung Deutschlands durch die Sieger, die wiederholten Einmärsche ausländischer Truppen, die völkerrechtswidrigen Annexionen Oberschlesiens und des Memellandes, der Bruch des Versailler Vertrags durch die Sieger, die ihre vertraglich zugesagten Abrüstungen unterließen, die frustrierenden Abrüstungsverhandlungen in Genf und die Behandlung der Auslandsdeutschen in den Staaten, denen sie nun angehören mußten, hatten in Deutschland nicht die geringsten Sympathien für das Ausland hinterlassen. Außer den Niederlanden, Luxemburg, der Schweiz und Österreich genoß kein Nachbarland mehr Vertrauen oder Wertschätzung.

Die Bilanz zur Diktatur des Adolf Hitler dagegen hätte sowohl Negativa als auch Positiva aufgewiesen. Belastend waren der Niedergang von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie im Deutschen Reich, die menschenunwürdige Diskriminierung und Verfolgung der Sinti, Roma und der Juden, die Ermordung der SA-Spitzenfunktionäre 1934 und nicht zuletzt Hitlers Vorgehen gegen die Rest-Tschechei unmittelbar nach dem Auseinanderfall der Tschechoslowakei in drei separate Staaten. Letzteres wurde in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung nicht verstanden, jedoch von vielen Fachleuten im Auswärtigen Amt und in der Wehrmacht schon als Fanal für einen späteren Krieg gewertet.

Das Sündenregister Hitlers war bis 1939 lang geworden. Dem standen Positiva gegenüber. Das soziale und wirtschaftliche Massenelend war beendet. Über sechs Millionen Arbeitslose und die dazugehörenden Familien hatten wieder Lohn und konnten für sich selber sorgen. Die deutsche Wirtschaft hatte in 26 Ländern Südamerikas, des Balkans und im Nahen Osten durch deutsche Sonderkonditionen Fuß gefaßt. Der Geldwert war bis zum Kriegsbeginn stabil. Das Reich war wieder selbstschutzfähig. Die Übergriffe aggressiver Nachbarstaaten hatten aufgehört. Wohnungsbau und Straßenbau florierten. Deutschland und Österreich waren ein Land geworden, wie es 1919 das erste Parlament der neuen deutschen Republik und das erste Parlament der neuen österreichischen Republik gefordert und in ihren ersten Verfassungen als Vereinigungsgebot verankert hatten. Und die deutschen Bürger des Saarlandes, der Sudetengebiete und des Memellandes waren "heim ins Reich" gekehrt.

In einer Bilanz sind Wirtschaftswunder und KZs nicht aufzurechnen. Aber die Positiva bewegten und betrafen die breite Mehrheit aller Deutschen. Die Negativa betrafen meist die Minderheiten oder sie wurden, wie der Verlust an Demokratie und Rechtsstaat, von der Mehrheit der Bevölkerung in der Bilanz als nicht so gravierend angesehen. Lohn und Brot und die Freiheit von der Fremdherrschaft waren den meisten Menschen bedeutender als der Verlust an Bürgerrechten.

Wenn man dann den "Kredit", den der Diktator Hitler 1939 hatte, gegen den "Kredit" des Auslands stellt, darf es nicht wundern, daß die Mehrheit aller Deutschen Hitler sowohl Schlechtes als auch Gutes, dem Ausland aber überhaupt nichts Gutes abgewinnen konnte. So war der Angriff gegen Polen für die Deutschen 1939 die Auseinandersetzung mit einem allgemein als feindlich empfundenen Nachbarvolk und -staat. Der Angriff der deutschen Wehrmacht auf Polen wurde als der Versuch gesehen, nun auch die Danziger und die in Polen verbliebenen Volksdeutschen von Fremdherrschaft und Drangsalierung zu befreien. Das Hitler damit eine halbe Welt in Brand steckte, hat in Deutschland nur eine Reihe weit Denkender geahnt, zum Beispiel Männer, die dem NS-Regime als Widerstand entgegenstanden, aber auch Wirtschaftsführer, Offiziere in der Wehrmacht und Beamte des Auswärtigen Dienstes.

Die Masse der deutschen Bevölkerung hatte nur 20 Jahre nach der Niederlage von 1918 und deren bitteren Folgen bei der Eröffnung dieses neuen Krieges ein ungutes Gefühl, viele Menschen wohl auch Angst. Doch die schlimmen Konsequenzen, die in den sechs Kriegsjahren und nach dem Krieg noch folgen sollten, konnten den Deutschen am 1. September 1939 ja noch nicht bekannt sein. Auch als der Krieg schon am 3. September 1939 in seine nächste Stufe ging, als Frankreich und Großbritannien dem Deutschen Reich den Krieg erklärten, standen die Deutschen hinter dem Diktator Adolf Hitler. Als Beispiel dafür kann der Regime- und Hitler-Gegner Pastor Martin Niemöller stehen. Er sah am 3. September nach den Kriegserklärungen aus London und Paris das Vaterland in Gefahr und meldete sich - wie bereits erwähnt - aus dem KZ heraus als Marineoffizier zum Einsatz bei der Kriegsmarine. Der innere Feind in Gestalt der Diktatur wog daneben wenig oder nichts. Niemöller, der spätere Kirchenpräsident, sah in Frankreich, Großbritannien und Polen die Peiniger Deutschlands der letzten 20 Jahre. So war die "öffentliche Meinung".

Der Gedanke - wenn er denn jemandem zu Kriegsbeginn gekommen wäre -, eine deutsche Niederlage am Ende dieses Krieges als Befreiung anzusehen, hätte den Willen der breiten Mehrheit aller Deutschen, Danzig und die Volksdeutschen von Fremdherrschaft und Drangsal zu befreien, pervertiert. Er wäre 1939 in Deutschland auf völliges Unverständnis gestoßen.

Die sechs Jahre Krieg, die folgten, waren für viele Völker dieser Erde ein grauenvoller Opfergang. In Deutschland waren es die Kriegstoten, Ausgebombten, Verwundeten, ins KZ Gesperrten, Vertriebenen, Kriegsgefangenen und Todesopfer des NS-Regimes, die diesen Krieg am teuersten bezahlen mußten. Mit ihnen bildete sich bis 1945 ein anderes Meinungsbild zu Krieg, NS-Herrschaft und zu deren Ende am 8. Mai 1945. Doch die Lage, die 1939 zu diesem furchtbaren Krieg geführt hatte, war in Deutschland auch 1945 noch so gut wie jedermann bekannt.

Martin Niemöller (1892-1984): Kaisertreuer U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg. Freikorpskämpfer im Ruhrgebiet, Pastor in der Weimarer Republik, Hitler-Gegner und KZ-Häftling im Dritten Reich, Kirchenpräsident in der Bundesrepublik Deutschland Foto: Archiv


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