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08.10.05 / "Höchste Bildung aller Kräfte zum Ganzen" / Von Humboldt zu Pisa - Die Entwicklung der deutschen Bildungspolitik ist deprimierend

© Preußische Allgemeine Zeitung / 08. Oktober 2005

"Höchste Bildung aller Kräfte zum Ganzen"
Von Humboldt zu Pisa - Die Entwicklung der deutschen Bildungspolitik ist deprimierend
von George Turner

Wilhelm von Humboldt (1767-1835) führte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Preußen als Direktor für Kultus und Unterricht im Innenministerium eine umfassende Bildungsreform durch. Ausgehend von der Erkenntnis, daß der wahre Zweck des Menschen die "höchste und proportionierteste Bildung seiner Kräfte zum Ganzen" sei, sollte die Bildung als Ergebnis individueller geistiger Leistung zweckfrei erfolgen. Die Schule war zur Ausbildung aller als Grundlage weiterer Bildung gedacht. Dabei stand die Anleitung zum selbständigen Lernen im Vordergrund und nicht mehr das Auswendiglernen von vorgegebenem Lernstoff. Das wissenschaftliche Studium an den Universitäten diente der Selbstverwirklichung der Studierenden durch Bildung. Die reine Idee der Wissenschaft erforderte die Unabhängigkeit vom Nutzen für Staat und Gesellschaft. Wissenschaft als zweckfreie Bildung bedingte die Einheit von Forschung und Lehre und die frühestmögliche Anleitung der Studenten zur Forschung.

Auch in den letzten Jahrzehnten unserer Zeit wurde davon geredet, wie wichtig "Bildung" sei, daß mehr in diesen Bereich investiert werden müsse, daß davon Wohlstand und Zukunftsfähigkeit abhängen.

In der Alltagssprache wird der Begriff häufig synonym mit Erziehung verwendet. Im wissenschaftlichen Gebrauch bedeutet es "das über theoretische Einsicht vollzogene Lernen"; Erziehung bedeutet die im praktischen Umgang "durch Disziplin und Übung bewirkte Formung des Verhaltens". Demgegenüber ist Ausbildung das Einüben von Leistungsaufgaben. Wenn im politischen Raum hingegen von Bildung gesprochen wird, ist generell Ausbildung gemeint. So wird es auch verstanden und entsprechend sind die Ergebnisse. Es geht bei allen Programmen immer darum, daß Fertigkeiten erworben werden. Das soll nicht gering geachtet werden. Ohne ein bestimmtes Maß an "Handwerk" ist Bildung im eigentlichen Sinn nicht zu haben. Man muß allerdings den Eindruck gewinnen, daß Bildung im Sinn von Ausbildung sich allein darauf beschränkt, Kenntnisse zu vermitteln. Dabei scheint Pate zu stehen der Gedanke, daß auf diese Weise eine Selbstverwirklichung der Betroffenen stattfinden kann und dies zur Verwirklichung von Chancen, auch zum Ausgleich von Benachteiligungen geeignet ist. Als Ziel wird die Ausstattung der einzelnen mit Wissen verstanden, damit sie ihre Belange besser vertreten können. Das ist gewiß nicht illegitim, nur verkennt dies den Sinn von Bildung.

Zu einer Verarbeitung des reinen Faktenwissens zu dem, was als Vorgang geistiger Formung verstanden wird, kommt es oft gar nicht. Davon, daß Bildung die "innere Gestalt" bedeutet, zu der ein Mensch gelangt, wenn er seine "Kräfte in Auseinandersetzung mit den Gehalten der Kultur entfaltet", haben manche sogenannte Bildungspolitiker womöglich nicht einmal vernommen. So wäre es denn zutreffender nicht von einem Bildungsministerium, sondern von einem Ausbildungsministerium zu sprechen.

So sind an den deutschen Hochschulen derzeitig rund zwei Millionen Studierende eingeschrieben, zwei Drittel davon an Universitäten; von der in Betracht kommenden Altersgruppe studieren über 30 Prozent. Konkret bedeutet dies Hochschulen mit zum Teil um die 50000 Immatrikulierten.

Mit dem enormen Anwachsen der Studentenzahlen innerhalb der letzten fünf Jahrzehnte von 300000 auf das fast Siebenfache oder - bezogen auf den Anteil an den in Betracht kommenden Jahrgängen - von drei Prozent auf das mehr als Zehnfache ist noch eine andere Erscheinung einher- gegangen, nämlich eine Inflationierung der Ansprüche und Begriffe.

Da ist zum einen das Bemühen, möglichst vielen den Zugang zu den hohen Schulen zu ermöglichen. Das wurde nicht nur bewerkstelligt durch einen quantitativ starken Ausbau der Gymnasien, hinzu gekommen ist auch der Zugang für solche Bewerber, die nicht über eine Hochschulreife verfügen. Studieren kann auch, wer eine abgeschlossene Lehre, einige Jahre Berufstätigkeit und ein bestimmtes Lebensalter vorzuweisen hat. Interessant ist, daß dies nicht etwa nur das Ergebnis gewerkschaftlicher Bemühungen darstellt (nach dem Motto "jeder kann studieren" - ein bemerkenswerter Gegensatz zu der viel beklagten mangelnden Studierfähigkeit von Abiturienten), sondern auch von den Spitzenverbänden der Industrie mit durchgesetzt wurde. Der Grund, vor allem vom Handwerk vorgetragen: Diejenigen, die eine Ausbildung im dualen System beginnen, sollen diese nicht als "Sackgasse" empfinden. Das Motiv war zweifelsohne die Sorge, nicht genügend Auszubildende zu bekommen. Doch wie fähig sind die Studenten eigentlich zum Beginn ihres Studiums?

Die in Deutschland mit Schrecken zur Kenntnis genommene Pisa-Studie hat unter anderem ergeben, daß in allen Bereichen (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) die mittleren Ergebnisse für die 15jährigen in Deutschland merklich unter dem OECD-Durchschnitt liegen.

Die Kultusminister der Länder waren sich einig, daß es schneller Reformen im Schulwesen bedarf. Dazu zählen unter anderem ein altersgemäßes Lernen bereits im Kindergarten und eine frühere Einschulung. Stärkeres Gewicht soll auf die Vermittlung der deutschen Sprache gelegt, Lernschwache besser gefördert, die Qualität des Unterrichts auf allen Ebenen verbessert werden. Ebenso wird ein Ausbau von Ganztagsangeboten angestrebt.

Es sind gewiß nicht nur technische und organisatorische Veränderungen im Schulalltag vorzunehmen. Wichtig ist auch zu erkennen, auf welchem geistigen, historischen und politischen Hintergrund ein so deprimierendes Ergebnis wie "Pisa" zustande kommen konnte.

Zu berücksichtigen ist, daß eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Haushalten über kein einziges Buch verfügen. Ein breites Bildungsbürgertum hat einer Spaßgesellschaft Platz gemacht, die "events" nachjagt und deren Mitglieder sich zum Teil bestenfalls für Bücher interessieren, wenn damit eine Autorenlesung mit anschließendem Empfang verbunden ist.

Im Hinblick auf das Lesen bedarf es der Entwicklung einer aufgeschlossenen Grundhaltung. Lesen muß "in" sein. Dies geht kaum ohne entsprechende Umwelt und ohne Anregungen und Vorbilder.

Hat vielleicht doch der Zug zur Gleichmacherei und Leistungsverweigerung, wofür viele die Gründe in der sogenannten 68er-Generation sehen, zum heutigen Zustand beigetragen?

Was die Naturwissenschaften angeht, kommt es nicht nur auf eine Verbesserung des Unterrichts an, sondern auch darauf, daß eine entsprechende Akzeptanz der Lebensbereiche, die davon betroffen sind, in der Bevölkerung gegeben ist. Langjährige Zweifel an den Erfordernissen und Vorteilen der Technik bis hin zur Technikfeindlichkeit, Aggressionen gegenüber sichtbarer Physik, Chemie und Biologie in Form von Protesten gegen Atomanlagen, Besetzungen von chemischen Werken oder Zerstörung von Versuchsfeldern mit genmanipuliertem Mais bleiben nicht ohne Wirkung. Der Hinweis, es habe keine hinreichende Aufklärung der Bevölkerung stattgefunden, greift zu kurz. Diese hat es schon gegeben, nur hat sie nicht die verbreiteten Vorurteile und die bewußt geschürte Angst beseitigen können. Wenn die Anwendungen von Naturwissenschaft und Technik über Jahre verdammt werden, darf man sich nicht wundern, wenn die entsprechenden Basisfächer nicht auf Interesse stoßen. Es kommt also nicht nur auf didaktische Verbesserungen im Unterricht an. Der Geist und das Ziel müssen ins Visier genommen werden. Solange und soweit in der Schule gegen Wirtschaft und Technik polemisiert wird, kann kaum mit mehr an Motivation bei Schülern für die entsprechenden Fächer gerechnet werden.

Die Erkenntnisse aus dem von Humboldt zu Pisa geschlagenen Bogen mögen deprimierend sein. Nur hat es keinen Sinn, die Augen vor der Realität zu verschließen. Die ist gekennzeichnet durch ganz andere Größenordnungen in Schulen und Hochschulen, vor allem durch ein anderes Bildungsideal. Einerseits die zweck-freie Bildung, andererseits Ausbildung als Mittel zum Zweck. Man mag das beklagen. Eine Rückkehr zu Vorstellungen vor knapp 200 Jahren scheint ausgeschlossen. Aber bewußt sein sollte man sich jener Ideen. Dann wird vielleicht doch einiges davon gerettet und gelebt.

 

George Turner war Universitätspräsident, Präsident der Rektorenkonferenz und parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung in Berlin.

 

Wilhelm von Humboldt: Der Wissenschaftler und sein Bruder Alexander sind seit 1949 Namenspatronen der ältesten Berliner Universität Foto: Caro


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