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15.10.05 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / 15. Oktober 2005

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied und Familienfreunde,

es ist der Stoff, aus dem Romane geschrieben werden. Aber es ist kein Roman, sondern ein kleines Büchlein, das einen Tatsachenbericht enthält, doch auch das ist eine Bezeichnung, die nur bedingt die Begebenheiten erfaßt, die hier geschildert werden. Es ist die Geschichte von der Geburt eines Kindes, die tief in das Leben eines noch sehr jungen Menschen eingreift, die er nie vergessen wird. Und die für ihn erst sehr spät die Lösung einer lange nur im Unterbewußtsein gestellten Frage brachte, kurz bevor er verstarb. Es ist eine anrührende, ja ergreifende Geschichte, ein Lebensbericht und eine Dokumentation, und sie konnte über einen Zeitraum von 60 Jahren nahtlos zurückgespult werden, auch dank der Hilfe unserer "Ostpreußischen Familie". Der Mann, der die Hebel in Bewegung setzte, Eberhard Baumann aus Salmbach, hat das Büchlein "Ein Kind soll leben" herausgebracht, dem er den Untertitel "Als deutsches Kind in sibirischer Kriegsgefangenschaft geboren" gab. Dieses Kind ist der heute 59jährige Karl-Heinz Pudewell aus Berlin, dessen schon abgeschlossen geglaubte, dunkle Vergangenheit so unverhofft erhellt wurde.

Es begann damit, daß Eberhard Baumann seinen Salmbacher Nachbarn Alfred Weik häufiger zu besuchen begann, als dieser erkrankte. Er spürte, daß den 77jährigen etwas beunruhigte, wenn er auf seine Kriegsgefangenschaft zu sprechen kam, und das geschah immer häufiger. Der im Nordschwarzwald geborene Zimmermann war mit 17 Jahren, kurz vor Kriegsende, zum Militärdienst eingezogen worden. Er haderte damals mit dem Schicksal, als er an die Front kam, seine Kameraden aber in Tübingen bleiben konnten. Später hat er es nicht mehr getan: Alle Kameraden starben bei einem Bombenangriff auf Tübingen, er aber überlebte im Kriegseinsatz und in russischer Gefangenschaft.

Von diesen Zeiten redete er, nun betagt und krank, mit Eberhard Baumann, der ebenfalls als junger Wehrmachtsangehöriger in Gefangenschaft gekommen war, allerdings bei den Amerikanern am Rhein. Alfred Weik sprach dankbar von jenem Major, einem Nachfahren des alten Blücher, der in den letzten Kriegstagen in der Tschechei dafür gesorgt hatte, daß der junge Mann nicht mehr zum Fronteinsatz kam. Nach Kriegsende flüchtete er mit anderen Kameraden, wurde von Partisanen gefangengenommen, den Russen übergeben und ins Lager Auschwitz gebracht. Von dort ging es zusammengepfercht wie Vieh im Gefangenentransport nach Rußland. 300 Kilometer östlich von Nowosibirsk wurden sie ausgeladen. Einige Gefangene wurden im Kohlebergbau eingesetzt, auch Alfred Weik, aber der 18jährige war zu schwach für diese schwere Arbeit. So kam er in das Lager Anschenka-Sudschensk, ein ehemaliges Lager für Deportierte, wo die Gefangenen zuerst eine winterfeste Behausung bauen mußten: Eine drei Meter tiefe Grube, mit Baumstämmen ausgeschlagen, dann mit Erde aufgeschichtet, wurde zur Behausung für etwa 500 Gefangene. Es begann eine furchtbare Hungerzeit, in der es nur um das Überleben ging, dazu mit Knochenarbeit bei bitterer Kälte bis zu minus 56 Grad.

Wenn Alfred Weik soweit in seinen Erinnerungen war, wurde er unruhig. Aber er mußte wohl loswerden, was ihn ein ganzes Leben lang beschäftigt hatte, jenes Erlebnis, das mit einer Begegnung im Krankenrevier begann. Der Gefangene war in das mit Strohsäcken gefüllte Erdloch eingewiesen worden, weil ihm einige Zehen erfroren waren. Eine jüdische Ärztin, die keine Aversionen gegen die deutschen Gefangenen hatte, gab ihm eine Salbe, die wunderbar half.

An einem Tag im November kam eine junge Frau in das Krankenrevier. Sie hieß Berta Pudewell und gehörte zu den verschleppten Frauen, die im Herbst 1945 gekommen und in Sonderbaracken und Erdbunkern untergebracht waren. Ihnen wurden die Köpfe kahlgeschoren, sie mußten sich genauso abschinden wie die Männer, waren aber noch weitaus schlimmer dran als diese, denn sie waren Freiwild für die russischen Wachmannschaften. Wenn es nachts zu schlimm wurde, flohen einige Frauen und suchten bei den deutschen Männern Schutz. Diese Frau war weder Wehrmachtshelferin noch DRK-Schwester wie die meisten, sondern hatte als junge Bäuerin auf einem Hof bei Allenstein gelebt. Ihr Mann stand irgendwo an der Westfront. Weil ihre Mutter den Hof nicht verlassen wollte, war sie nicht mit ihrem erst ein Jahr alten Kind geflohen. Die junge Mutter war gerade beim Melken im Kuhstall, als die Russen kamen und sie wegzerrten, ohne daß sie ihr Kind noch einmal sehen konnte. Sie wurde auf einen Lastwagen getrieben und ohne Gepäck, ohne Papiere, ohne weitere Kleidung nach Sibirien verschleppt. So wie viele Leidensgenossinnen aus den von den Russen eroberten Gebieten.

Die Frau, das sah Alfred Weik sofort, war hochschwanger. Das Kind stammte nicht von einem Russen, aber daß der Vater ein deutscher Verpflegungsoffizier war, erfuhr der junge Mann erst später. Denn die Frau flehte ihn an: "Du mußt mir helfen, die Wehen haben eingesetzt." Sie waren in der Erdhöhle, die mit einem Kohleofen beheizt war, nur zu zweit. Der 18jährige war vollkommen verwirrt: Wie sollte er der Gebärenden helfen? Die Frau legte sich auf den alten Strohsack und griff nach seiner Hand. "Tu alles, was ich sage, knie dich hin, und wenn eine Wehe kommt und du das Köpfchen nimmst, mußte du beide Hände nehmen und ziehen." Alfred Weik hatte keine Zeit zum Nachdenken, er hockte sich hin, die Wehen kamen kräftiger, und nach einer halben Stunde war das Kind da! Es war ein Junge, er lebte, und nach einem kräftigen Klaps auf den Po begann er zu schreien. Aber das Kind mußte ja abgenabelt werden. Alfred besaß eine alte Eisensäge, er holte sie und trennte damit die Nabelschnur durch, die er zuvor mit Fetzen von einem Strohsack nach den Anweisungen der Frau abgebunden hatte. Aber konnte ein Kind in diesem Elendslager überhaupt überleben? Die Mutter war so schwach, daß sie keine Milch hatte. Sie gaben dem Säugling Lagersuppe! Und die bestand aus Hirse oder Kohl! Mutter und Kind durften im Krankenrevier bleiben - auf Anweisung des Lagerkommandanten, der in den Jungen so vernarrt war, daß er ihn am liebsten adoptiert hätte, vielleicht weil er am 3. November, dem Tag der Oktoberrevolution, geboren wurde. Und er besorgte sogar ab und zu etwas Milch für das Kind, das auf den Namen Karl-Heinz Pudewell getauft wurde. Mit Tauwasser aus einer mit Schnee gefüllten Blechdose.

Noch einmal drohte das Schicksal zuzuschlagen. Das war als Alfred Weik im Januar 1947 entlassen wurde, weil er vollkommen entkräftet war. 4000 Frauen und Männern wurden in Viehwagen gepfercht, auch Berta Pudewell und ihr Kind waren darunter. 30 Tage dauerte die Fahrt nach Westen bei eisiger Kälte, die Schwächsten erfroren oder verhungerten. Als der Transport nach 30 Tagen in Frankfurt an der Oder ankam, lebten nur noch knapp 800 der Entlassenen. Dort sah Alfred Weik die junge Mutter und das Kind, dem er auf die Welt geholfen hatte, zum letzten Mal. Sie wollte zu Verwandten ihres Mannes nach Berlin.

Und dann hat er nie wieder etwas von ihnen gehört!

Herr Baumann spürte, daß sein Nachbar dieses Ereignis nicht verarbeitet hatte, auch jetzt nicht nach einem arbeitsreichen und erfüllten Leben. Was ist aus der Mutter und dem Kind geworden, leben sie noch und wie? Diese Fragen standen unausgesprochen im Raum. Herr Baumann beschloß, ihnen nachzugehen. Aber wie?

Zuerst wurde ein Suchanzeige entworfen. Eberhard Baumann wandte sich an verschiedene Institutionen, die aber nicht weiterhelfen konnten. Da Frau Pudewell aus der Nähe von Allenstein stammte, schrieb er an den Kreisvertreter von Allenstein-Land der Landsmannschaft Ostpreußen, Leo Michalski, der das Problem auch an die PAZ / Das Ostpreußenblatt weiterleitete. In der Ostpreußischen Familie erschien dann am 27. März 2004 der Suchwunsch, an den sich viele Leserinnen und Leser sicher noch erinnern, da diese Geschichte alle bewegte. Über das Internet erfolgte eine weltweite Verbreitung. Die Resonanz war deshalb auch sehr lebhaft, Herr Michalski konnte 35 Anschriften von Trägern des Namens Pudewell an Herrn Baumann weiterleiten, aber der gesuchte Karl-Heinz war nicht darunter. Er schien unauffindbar.

Und dann geschah es: Acht Monate später, am 9. November, erhielt Herr Baumann einen Anruf aus Berlin: "Ich bin der Gesuchte!" Er war es tatsächlich, Karl-Heinz Pudewell, geboren im Lager Anscherka-Sudschensk. Beim Surfen im Internet war er auf seinen Namen gestoßen. Sein Erstaunen war natürlich groß, denn er hatte bisher nichts von einem "Geburtshelfer" gewußt. Nun überschlugen sich fast die Ereignisse. Herr Baumann eilte sofort zu Alfred Weik, um ihm dieses Wunder mitzuteilen. Wenige Tage später erhielt der kranke Mann einen Brief von dem nun schon 58jährigen "Lagerkind", Herr Weik schrieb zurück und so rollten sie jeder die eigene Lebensgeschichte auf. Die verlief natürlich für Karl-Heinz Pudewill nicht einfach, noch schwerer litt seine Mutter unter den Nachwehen der Gefangenschaft. Die Frau, die so ungeheuer stark in der wohl schwersten Stunde ihres Lebens gewesen war, wurde leidend und haderte mit dem Schicksal. Stärker wohl als die physische Belastung war die seelische, denn sie mußte nach der Rückkehr schwere Zeiten durchmachen. Ihr Mann besaß in Berlin ein kleines Häuschen, aber seine dort lebenden Schwestern wiesen der Heimkehrerin mit dem unehelichen Kind die Tür. Berta Pudewell ging dann nach Altenburg zu ihrer dort lebenden Schwester, wohin auch ihre Mutter mit dem zurückgelassenen Kind gezogen war. Als ihr Mann 1948 aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde, ging die Familie nach Berlin. Berta Pudewill bekam noch ein drittes Kind, aber ihr Sohn, der als "Russenbengel" verschrien wurde, blieb ihr Liebling. Sie glaubte wohl, etwas gutmachen zu müssen, worunter sie doch am meisten leiden mußte. Als Invalidenrentnerin verstarb sie 1987. Von seinem leiblichen Vater hat Karl-Heinz nie etwas erfahren, das Thema war in der Familie tabu. Aber sein Stiefvater war selber in russischer Gefangenschaft gewesen, er hatte wohl mehr Verständnis für das Geschehen. Das Leben von Karl-Heinz verzog sich dann in geordneten Bahnen, er absolvierte eine Lehre als Gas-Wasser-Installateur und wurde Handwerksmeister. Doch mit seiner Vergangenheit wurde er immer wieder konfrontiert, sogar noch vor sechs Jahren, als er eine zweite Ehe eingehen wollte. Kurz vor der Trauung wurde ihm mitgeteilt, daß er als uneheliches Kind nach deutschem Recht nicht den Namen "Pudewell" tragen dürfe, unter dem er 53 Jahre gelebt hatte, sondern den Mädchennamen seiner Mutter. Er setzte alle Hebel in Bewegung und erwirkte eine Namensänderung.

Dem regen Briefwechsel sollte dann in diesem Sommer ein Wiedersehen folgen. Dazu kam es leider nicht. Alfred Weik verstarb am 11. März nach langer Krankheit, aber geborgen in seiner Großfamilie, und mit der Gewißheit, daß eine der schwierigsten Fragen seines Lebens gelöst worden war. Wie das kleine Büchlein von Eberhard Baumann beweist, das er in Gedenken an Berta Pudewell und Alfred Weik von der Autorin Barbara Scheffler in Worte fassen ließ. Eine Dokumentation, die mehr über deutsche Schick-

sale in der Kriegs- und Nachkriegszeit besagt als manche nüchterne Abhandlung. Und wir sind froh, daß wir mithelfen durften, sie aufzurollen.

Eure Ruth Geede

Fotos: 

Mutter des Lagerbabys: Berta Pudewell

Im Lager geboren: Karl-Heinz Pudewell


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