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15.10.05 / Sie sollten leiden für das, was sie waren / Autorenduo deckt das Schicksal der französischen Deutschenkinder in der Nachkriegszeit auf

© Preußische Allgemeine Zeitung / 15. Oktober 2005

Sie sollten leiden für das, was sie waren
Autorenduo deckt das Schicksal der französischen Deutschenkinder in der Nachkriegszeit auf

Es war Liebe auf dem ersten Blick. Léa Rouxel, eine hübsche Französin, springt auf dem Heimweg von ihrer Arbeit im Frühjahr 1942 von ihrem Fahrrad die Kette ab. Ver-geblich bemüht sich die 22jährige kaufmännische Angestellte, ihr Rad zu reparieren, als von völlig unerwarteter Seite Rettung naht: Ein deutscher Offizier hilft der jungen Frau. Zu ihrer Verwunderung ist der Deutsche nicht nur zuvorkommend, sondern auch sehr charmant. Er spricht ein gutes Französisch und weiß die junge Léa zu faszinieren. Otto Daniel Ammon und Léa sind sofort ein Paar, müssen ihre Liebe jedoch geheimhalten, da jeder der beiden in den Augen seiner Leute einen Feind zum Partner hat. Als Léa 1944 schwanger und die Schwangerschaft sichtbar wird, flüchtet sie vor Anfeindungen aus ihrem Dorf nach Paris. Dort bringt sie am 2. April 1945 ihren Sohn Daniel zur Welt. Doch noch bevor Daniel seinen ersten Schrei getan hat, ist er mit dem Stigma, ein "Kind der Schande" zu sein, versehen.

Fast 60 Jahre später bittet Daniel Rouxel die beiden Autoren Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz darum, sein Schicksal zum Anlaß einer Untersuchung über die in Frankreich in der Nachkriegszeit verhaßten "boches", Deutschenkinder, zu nehmen. Im Gegensatz zu vielen anderen Schicksalsgenossen - es sollen um die 200000 sein - ist er bereit, über seine Herkunft und seine daraus resultierende zerrüttete Kindheit zu sprechen.

In "Die Kinder der Schande - das tragische Schicksal deutscher Besatzungskinder in Frankreich" haben die beiden Autoren nun das in Frankreich als absolutes Tabuthema gehandhabte Stück eigene Vergangenheit hervorragend dokumentiert und analysiert.

Hier zeigt sich, daß Daniels Schicksal dem so vieler anderer "boches" ähnelt. Daniels Mutter gab ihren Sohn, der sie nach Kriegsende stets an ihre eigene vermeintliche Schande erinnerte, die ersten vier Jahre bei Pflegeeltern und dann bei ihrer Mutter in Obhut. Doch anstatt bei seiner Großmutter Liebe und Zuneigung zu erfahren, mißhandelte die ungebildete, mittellose Witwe ihren ungeliebten Enkel. "Die Großmutter schlug ihn ... Und dann gab es noch den Hühnerstall, in dem er nicht selten die Nacht verbringen mußte", beschreibt Jeanne Allé, Daniels ehemalige Lehrerin, den Autoren gegenüber die damalige Situation. Doch anstatt dem Jungen zu helfen oder wenigstens Verständnis für seine Situation aufzubringen - Daniel galt in seinem Dorf in der Bretagne als Attraktion, wenn man sich langweilte, quälte man ihn, woraufhin der Junge gegen alles rebellierte -, zeigt die ehemalige Lehrerin Verständnis für die Großmutter: "Ich glaube, seine Großmutter litt unter dieser Situation. In diesen Zeiten eine unverheiratete Tochter zu haben, die ein Kind, und dann auch noch von einem Deutschen, hatte, war fürchterlich ... Also, die arme Frau ... "

Aber Daniel war nicht das einzige Deutschenkind, daß aus den unterschiedlichsten Gründen in der Obhut von Pflegeeltern oder Großeltern war, die es keineswegs freundlich behandelten. Ein anderes Beispiel ist die kleine Jeanine, deren Adoption der Großvater mit den Worten verhinderte, sie hätte eine "so nette Familie nicht verdient". Jeanine sollte leiden für das, was sie war. Ob Daniel, Jea-nine, Gérard, Marie-José, Anita, Norbert, Anne, Mylène, Julie, Marcelle, Michelle oder Marie-Rose, sie alle eint der deutsche Vater, sie alle haben einen weißen Fleck in ihrer Abstammung, den sie verheimlichen mußten.

Im Vergleich zu seinen Schick-salsgefährten hat Daniel Rouxel jedoch noch das Glück, zu wissen, wer sein Vater ist. Dieser hat sich nämlich, kurz bevor er in einem Lazarett in den letzten Wochen des Krieges an Typhus verstarb, gegenüber seiner Familie zu ihm bekannt. Otto Daniel Ammons Bruder und Schwester haben auch sofort versucht, den unehelichen Sohn ihres verstorbenen Bruders zu finden. Als sie ihn gefunden hatten, wollten sie den Jungen sofort adoptieren, aber dies ließ Daniels Mutter, die sich sonst nicht sonderlich um ihn kümmerte, nicht zu. Allerdings durfte Daniel in den Ferien immer nach Deutschland zu der Familie seines Vaters. Dort erfuhr der in seiner französischen Heimat geächtete Junge, was Familienzusammenhalt und Liebe ist. Doch Daniel ist, wie erwähnt, einer der wenigen, die das Glück hatten, die Identität ihres Vaters zu kennen. Jean-Paul Picaper und Ludwig Norz zeigen in ihrem Buch auf, wie sehr selbst erwachsene Menschen darunter leiden, ihre Herkunft nicht zu kennen. Die Autoren schildern die umständliche Suche der Deutschenkinder nach ihrer Abstammung. In vielen Fällen erfolgte diese Suche erst in reiferen Jahren. Wertvolle Zeit war so verstrichen. Mittlerweile waren die Spuren verwischt oder die Väter konnten nach Aufdeckung ihrer Identität - häufig mit Hilfe der Wehrmachtsauskunftsstelle (WASt) in Berlin - nur noch als verstorben gemeldet werden.

Es ging den Autoren bei ihren Recherchearbeiten aber keineswegs nur darum, die verschiedenen Schicksalswege der Deutschenkinder und ihre quälenden Probleme zu beleuchten. Vielmehr haben sie mit ihrem in zwei Bereiche aufgeteilten Buch - das in Frankreich ein Bestseller war - ein dunkles Stück französischer Vergangenheit aufgedeckt.

Der Haß, der diesen Kinder entgegenschlug, ist zwar keineswegs nur typisch für Frankreich - in Skandinavien, Belgien und Italien war es ähnlich -, aber Frankreich ist das letzte jener Länder, das dieses unschöne Kapitel enttabuisiert. Zwar hatte man inzwischen schon anerkannt, daß die Behandlung der Mütter dieser Kinder - viele wurden kahlgeschoren, als Nutten oder Verräterinnen beschimpft und aus dem Dorf gejagt, manche sogar zu Tode geprügelt - verachtenswert ist. Das Schicksal ihrer Kinder jedoch wurde weiter totgeschwiegen.

"Niemand leugnet die von den Besatzern und ihren Helfershelfern begangenen Greueltaten. Aber unter den Trägern der feldgrauen Uniform gab es auch junge Männer, Wehrpflichtige, die unter der Trennung von ihren Familien litten ... und bald in der Furcht leben sollten, an die Ostfront abkommandiert zu werden." Picaper und Norz machen deutlich, daß die Väter der Kinder auch Menschen waren und nicht, wie in der Kriegspropaganda des Ersten Weltkrieges dargestellt, blutrünstige Bestien. Als um so erstaunlicher empfinden die Autoren es, daß die einst in die Deutschen verliebten Französinnen nach der deutschen Niederlage von ihrer eigenen Schande überzeugt waren. "Es mag seltsam erscheinen, daß die Unglück-lichen einen Fehler zugaben, der zu anderen Zeiten gar keiner gewesen wäre." Hier bereute das Opfer, nicht jene, die ihm Unrecht zugefügt haben.

Am Ende ihrer äußerst lesenswerten, erschütternden Ausführungen kommen die Autoren zu dem Schluß, daß "nicht nur Deutschland einiges zu bereuen hat". R. Bellano

Jean-Paul Picaper, Ludwig Norz: "Die Kinder der Schande", Piper, München 2005, geb., 463 Seiten, 22,90 Euro


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