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22.10.05 / Der Flächenbrand breitet sich aus / Kabardino-Balkarien: Eine weitere "ruhige" Region gerät in den Strudel des Kaukasus-Konflikts

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Oktober 2005

Der Flächenbrand breitet sich aus
Kabardino-Balkarien: Eine weitere "ruhige" Region gerät in den Strudel des Kaukasus-Konflikts
von Martin Schmidt

Nun knallte es also auch in der russischen Provinz Kabardino-Balkarien so laut, daß es die sogenannte Weltöffentlichkeit mit Erschrecken wahrnehmen mußte. Dabei galt diese Region im nordwestlichen Kaukasus bislang als unproblematisch für den an Hiobsbotschaften aus der Unruheregion gewöhnten Kreml. Ein Irrtum, der absehbar war.

Schon diesen Sommer mehrten sich Anzeichen auf eine instabile Lage in Kabardino-Balkarien sowie im bis dato oberfläch gesehen ebenfalls ruhigen Karatschajewo-Tscherkessien (siehe PAZ, Nr. 25 vom 25. Juni 2005). Von der Tatsache, daß Kabardino-Balkarien mit seinen 800000 Bewohnern seit Jahren als Rückzugsraum für tschetschenische Rebellen diente, war da die Rede sowie von den radikal-islamischen Gemeinschaften der "Jamiaat", in denen zahlreiche einheimische junge Männer organisiert sind.

Das wohl wichtigste Zentrum der Unbotmäßigkeit ist das Siedlungsgebiet der Balkaren im Süden des Gebiets. Wiederholt berichteten russische Medien von Überfällen auf Polizeistationen mit der Erbeutung größerer Waffenbestände. Gründer der "Jamiaat" soll der mittlerweile getötete tschetschenische Feldkommandeur Ruslan Gelajew gewesen sein. Vielleicht suchte auch Gelajew, wie viele andere Mitkämpfer, in der 1990 konstituierten Teilrepublik vorübergehend Ruhe vom für beide Seiten verlustreichen Krieg in Tschetschenien. Ruhe läßt sich aber nur dort finden, wo relative Sicherheit herrscht. In Kabardino-Balkarien ist diese gegeben, da die muslimische Mehrheit (etwa 48 Prozent Kabardiner und acht Prozent Balkaren) dem pankaukasischen Kampf gegen die "Kolonialmacht Rußland" zumindest Sympathien entgegenbringt. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum die am kaukasischen Kolonialerbe eisern festhaltende Moskauer Politik in der Region wie im gesamten Großraum eine Strategie der harten Hand verfolgt. Die "Gesellschaft für bedrohte Völker" in Göttingen beklagte im Mai dieses Jahres, daß russische Polizisten, Militärs und Geheimdienstler in Tschetschenien, Dagestan, Inguschetien, Nord-Ossetien, Karatatschajewo-Tscherkessien und Kabardino-Balkarien zunehmend brutaler gegen religiöse Führer und mutmaßliche Terroristen vorgingen. Oppositionelle Regungen würden unterdrückt, Korruption, staatliche Willkür und Kriminalität beherrschten den Alltag.

Das mit seinen 12500 Quadratkilometern knapp der Größe Schleswig-Holsteins entsprechende Kabardino-Balkarien zählt zu den ärmsten Regionen der Russischen Föderation. Die Arbeitslosigkeit ist trotz Bodenschätzen wie Molybdän, Wolfram und Wismut hoch, und die vielen Kurorte an den zahlreichen Mineralwasserquellen oder am Fuße des Elbrus - dem mit 5642 Metern höchsten Berg der Föderation - leiden seit dem Umbruch unter Besuchermangel. Außerdem ist das Mitte des 16. Jahrhunderts ins Zarenreich eingegliederte Gebiet von etlichen verschiedenen Völkern besiedelt, was in der Vergangenheit zu mancherlei inneren Spannungen führte. Neben den kaukasischen Kabardinern und dem Turkvolk der Balkaren lebt hier eine große Gruppe von Russen (32 Prozent; darunter viele Kosaken) und mit diesen verbündeten Osseten (zwölf Prozent). Die Balkaren wurden 1944 auf Weisung Stalins nach Kasachstan und Mittelasien deportiert, weil man ihnen Kollaboration mit Deutschland vorwarf. Ihr Territorium wurde geteilt; die Stadt Mozdok und weitere Landstriche fielen "zur Verwaltung" an das rußlandfreundliche Nordossetien. Zur Heimkehr der Balkaren kam es erst nach ihrer Rehabilitierung 1956. Danach gab es in ihrem alten Siedlungsgebiet zwischen den verschiedenen Volksgruppen zum Teil heftige Verteilungskämpfe um Weide- und Ackerland.

Was geschah an diesen blutigen Oktobertagen des Jahres 2005 in der Provinzhauptstadt Naltschik, deren Ursprünge in einer 1817 gegründeten russischen Festungsgarnison liegen? Noch haben sich die Nebel um die Ereignisse in der russisch dominierten 240000-Einwohner-Stadt nicht ganz gelichtet, aber soviel läßt sich sagen: Am Vormittag des 13. Oktober drang eine größere Zahl kaukasischer Kämpfer - die Angaben schwanken zwischen 80 und 300 - in die Stadt ein, bedrohte den Flughafen, besetzte Gebäude des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der Drogen- und Verkehrspolizei, das Hauptquartier der Grenztruppen, drei Polizeiwachen, das Gefängnis und ein Waffengeschäft. In geringem Umfang kam es zu Geiselnahmen. Das Vorgehen ähnelte einer Aktion in der inguschischen Hauptstadt Nasran im Juli 2004. Wiederum sollte der russischen und internationalen Öffentlichkeit demonstriert werden, wie schwach die Staatsmacht überall im Nordkaukasus ist und wie die Flamme des Widerstandes der einheimischen Völker nicht nur in Tschetschenien lodert. Und erneut konnten nach Angaben der tschetschenischen Rebellen-Internetseite "Kavkaz-Center" erhebliche Mengen an Waffen und Munition erbeutet werden. Schließlich vertrieben oder töteten die russischen Sicherheitsorgane am 14. Oktober die letzten Angreifer.

Laut Republikpräsident Arsen Kanokow wurden einige der festgenommenen Kämpfer als Mitglieder von "Jamiaat" erkannt. Russische Politiker verdächtigten umgehend den verhaßten Tschetschenen-Kommandeur Schamil Bassajew als Hintermann. "Kavkaz-Center" spricht von einer Tat der kabardino-balkarischen Sektion der "Kaukasischen Front", einer Unterabteilung der Armee des tschetschenischen Widerstandes. Die Zahl der getöteten Russen beziehungsweise ihrer kabardino-balkarischen Helfer wird mit 110 angegeben, denen "minimale" eigene Verluste gegenüberstünden. Mehrere wichtige Einrichtungen der Besatzungsmacht seien zerstört worden.

Die russischen Militärorgane behaupteten in vorläufigen Stellungnahmen, 70 Untergrundkämpfer getötet und weitere 17 (andere Quellen sprechen von 27) gefangengenommen zu haben. 24 Beamte der eigenen Seite seien umgekommen, desgleichen 13 Zivilisten; die Zahl der Verletzten belaufe sich auf über 100.

Alle diese propagandistisch aufgeladenen Zahlenangaben sollten mit großer Skepsis behandelt werden. Eines scheint aber sicher: Der jetzige Akt des Aufruhrs in Naltschik dürfte nicht die letzte Revolte in der russischen Teilrepublik gewesen sein. Darüber hinaus muß man sich darauf gefaßt machen, daß sich die Blutspur dieses in seinem Kern bereits fast anderthalb Jahrhunderte andauernden Krieges demnächst auch ins Land der benachbarten Karatschaier und Tscher-kessen zieht.

Foto: Der Flickenteppich der Kaukasusländer zwischen Kaspischem und Schwarzem Meer


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