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22.10.05 / Nutzlose Manieren

© Preußische Allgemeine Zeitung / 22. Oktober 2005

Nutzlose Manieren
von Ulrich Schacht

Hunde- oder Katzenbesitzer kennen die Szenerie zur Genüge: Das geliebte Tier sitzt vor einem auf der Couch, auf der Wiese, auf dem Schoß, blickt einen treu an und reißt plötzlich, ohne alle Vorwarnung, sein Maul sperrangelweit auf, um nach Herzenslust zu gähnen.

Man muß heutzutage durchaus kein Hunde- oder Katzenbesitzer mehr sein, um auf diese vollkommen ungenierte Art in aller Offenheit und Öffentlichkeit mit dem physiologischen Reflex eines lebendigen Wesens konfrontiert zu werden. Es reicht völlig, wenn man sich an einem beliebigen Tag in einer beliebigen Stadt in einen beliebigen Bus, Zug oder Flieger setzt, in Kinos oder Restaurants oder einfach nur über die Straße läuft: Zweibeiner um einen herum gähnen einen an wie die Tiere, als herrschte eine Epidemie.

Ich gehöre noch zu einer Generation, die von Eltern und Großeltern oder in der Schule lernte, daß man in diesem Fall schlicht die Hand vor den Mund nimmt, wenn man unter Menschen ist. Vor allem deshalb, um seine Mitmenschen nicht mit einer unappetitlichen Grimasse zu belästigen. Es handelte sich um eine frühzeitige Einübung in gewisse Manieren, die "gute" genannt wurden und die einfache Erkenntnis voraussetzten, daß man nicht alleine auf der Welt war.

Unsere Zeit aber empfindet Manieren dieser Art offenbar als Einschränkung der persönlichen Freiheit, und das nicht nur bei diesem Anlaß.

Unsere Zeit ist auch die Zeit des Handyzeitalters, und das bescherte uns eine weitere Steigerung jener "Tyrannei der Intimität", von der der Sozialwissenschaftler Richard Sennet schon vor Jahren gewarnt hat. Denn das Handy verlagert den intimen Dialog ebenso radikal wie total ins Öffentliche, der scheinbare Freiheitsgewinn des einzelnen erweist sich als Einengung des öffentlichen Freiraums aller, die so gezwungen werden, mitanzuhören, was sie nicht hören wollen.

Die brutalste Form von penetranter, aufdringlicher Zurschaustellung der eigenen enthemmten Körperlichkeit zeigt sich schließlich in dumpf stampfenden Massenprozessionen wie der Love Parade, in denen delirierende Einzelwesen zu konvulsivisch zuckenden Körpermassen verschmelzen, die sich über die Boulevards von Großstädten wälzen und von TV-Kameras zu Bilderströmen gebündelt durch das mediale Kloakensystem ins massenmediale Weltbewußtsein gepumpt werden.

Drei Beispiele, die einen Verlust beschreiben, der nicht nur ein Verlust von Manieren, von kultivierten Umgangsformen, von stilvollem Benehmen ist, sondern tiefer reicht: Es handelt sich um jenes fundamentale Phänomen, das der amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre in seiner berühmten Analyse der "moralischen Krise der Gegenwart" formelhaft als den "Verlust der Tugend" bezeichnet hat.

McIntyre macht dafür nichts anderes als "unsere individualistische Kultur" verantwortlich, die die traditionelle "Übereinstimmung darüber, was relevante Regeln" für unser Zusammenleben sind, "nicht mehr sichern kann". Weil aber "unsere Gesellschaft nicht darauf hoffen kann, moralische Übereinstimmung" je "wieder zu erreichen", schließt McIntyre, "daß moderne Politik keine Sache mit wirklichem moralischem Konsens sein" könne. Moderne Politik sei vielmehr "Bürgerkrieg mit anderen Mitteln".

Das Angähnen als Angriff? Vielleicht. Aber vielleicht lenkt diese Pointe auch nur ab vom harten politischen Kern des Phänomens, der für den amerikanischen Philosophen darin besteht, "daß die Tradition der Tugenden im Gegensatz zu wesentlichen Merkmalen der modernen Wirtschaftsordnung und insbesondere ihrem Individualismus, ihrer Habsucht und ihrer Erhebung der Werte des Marktes in eine zentrale soziale Stellung steht".

Wenn das stimmt, dann müssen wir uns, auf Deutschland bezogen, gewiß nicht mehr wundern, daß es so etwas wie "preußische Tugenden" nicht mehr gibt und "gute Manieren" ein lächerlicher Anachronismus sind. Aber erschrecken darüber dürfen wir noch.

 

Ulrich Schacht wurde 1951 im Frauengefängnis Hoheneck in Sachsen geboren. Nach Bäckerlehre und evangelischem Theologiestudium wurde er 1973 durch das MfS (Stasi) wegen "staatsfeindlicher Hetze" verhaftet und bis 1976 inhaftiert. Seit seiner Entlassung in die Bundesrepublik ist er journalistisch tätig. Der Theodor-Wolff-Preiträger hat Bücher, Lyrik und Essaysammlungen veröffentlicht.


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